15. Still, so still
Es war still in der Wohnung.
Ich horchte auf das beruhigende Zwitschern der Finken, aber es blieb aus. Sie waren tot. Das zumindest war sicher. Sie waren das letzte Geschenk meiner Mutter, und nun klebte nur noch eine letzte winzige Feder am Lampenschirm.
»Weißt du was, Luis? Ich werde bald sterben. Dann treffe ich ihn vielleicht wieder.«
»Aber du bist doch geheilt! Sie haben den Tumor vollständig entfernt. Oder nicht?«
»Ich glaube, da ist wieder was«, flüsterte sie. »Manchmal habe ich Sehstörungen. Und Kopfschmerzen. Oder ich kann meine Beine plötzlich nicht mehr bewegen. Ich hab meinen Eltern noch gar nichts gesagt.«
»Aber ...«, fing ich an, doch sie unterbrach mich.
»Ich bin nicht blöd, ja? Ich weiß, was da auf mich zukommt. Die Untersuchungen. Die OPs, die Chemo. Und ich will nicht ins Krankenhaus. Ich kann nicht ins Krankenhaus, nicht ausgerechnet jetzt! Ich will zu Hause sein. Ich will ... leben.« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Ich habe solche Angst. Solche Angst hatte ich nicht mehr, seit ... seit du weißt schon. Der Tag mit Sebastian.«
»Das vergisst man nie.«
»Als er versucht hat, meine Finger von der Fensterbank loszukriegen ... und unter mir nur das Glasdach.«
Der Wintergarten war an jenem Wochenende gerade fertig geworden, noch eine halbe Baustelle. Die Arbeiter hatten schon Feierabend gemacht, und das Hotel war wegen der Renovierungsarbeiten leer. Deshalb hatte niemand Alisas Schreie gehört. Niemand außer mir.
»Ich wäre durchs Glas gebrochen und drei Stockwerke tief auf die Terrassensteine geknallt. Wenn du mich nicht wieder hochgezogen hättest ... Ich verdanke dir mein Leben, und trotzdem habe ich jahrelang so getan, als würde ich dich nicht kennen.«
»Ich kann nachvollziehen, dass du das Ganze einfach vergessen wolltest.«
Ich hatte unten im Garten gesessen, in der Laube. Sebastian und Alisa hatten sich so laut am offenen Fenster gestritten, dass ich jedes Wort mitangehört hatte. Wie so oft ging es um die Geschenke, die Alisa von ihrer Tante bekommen hatte. Alisa hatte einen Umschlag aus dem Fenster gehalten, damit ihr Bruder nicht drankam, sie hatte sich weit rausgelehnt. Er ebenfalls, während er danach gegriffen hatte. Und dann, irgendwie, war Alisa gefallen. Sie hatte behauptet, er hätte sie gestoßen.
Er hatte es geleugnet. Natürlich. Aber ich hatte den Streit gehört, den Zorn in seiner Stimme, die Drohung, sie umzubringen.
»Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr so richtig, wie es überhaupt passiert ist«, sagte sie nachdenklich.
Die Gerolds hatten ihn trotzdem in ein Internat verbannt. Und mich zum Schweigen verdonnert.
»Sebastian wusste nicht, dass du im Garten warst. Du warst früher dran, oder?«
»Ja«, sagte ich. »Ich bin schon mal in die Laube gegangen und hab die Bücher ausgepackt. Dann wollte ich reingehen und dir Bescheid geben.«
»Ich dachte, niemand würde kommen. Ich würde den Halt verlieren und abstürzen und durch das Glasdach brechen. Du hast mir damals das Leben gerettet, Luis.«
Die Szene am offenen Fenster hatte sich mir ins Hirn geprägt, obwohl ich Frau Gerold versprochen hatte, es zu vergessen. Aber niemand, der je bei einem Mordversuch dabei gewesen war, konnte das einfach so vergessen. Ich fragte mich, wie es Alisa damit ging, dass ihr Bruder immer noch ein Teil ihres Lebens war, dass er wieder mit ihr im selben Haus wohnte.
Wir starrten an die Decke.
»Seit David fort ist, kommt es mir vor, als würde ich wieder am Fenster hängen«, sagte Alisa leise. »Meine Hände rutschen ab, das Sims bröckelt weg, und diesmal kann ich mich nirgends festhalten. Immer wieder träume ich diesen Albtraum.«
Ich tastete nach ihrer Hand. Sie war so kalt, dass mich fröstelte.
»Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich habe solche Angst.«
Wir betrachteten die Zimmerdecke.
Wir schwiegen.
»Den Stern dort habe ich zum Nikolaustag bekommen«, sagte ich nach einer Weile, als ihr Atem sich wieder beruhigt hatte. »Und die kleineren um ihn herum waren in meinem Adventskalender, den meine Mutter mir gebastelt hatte. Jeden Tag gab es einen Stern. Deshalb hängt über uns das Nikolaussternbild, mit dem Nikolaus als Hauptstern.«
Ich wandte den Kopf nicht zu ihr um. Falls sie weinte, sollte sie es tun können, ohne dass ich sie dabei beobachtete.
»Der Haufen da, den gab es mal, als ich Bronchitis hatte. Jeden Tag zum Fiebermessen, zum Halswickel und Arzneischlucken und Tee habe ich einen Stern bekommen. Darf ich vorstellen: der Schlimmer-Tee-Sternhaufen.«
»Und jenes Sternbild da? Das wie verunglückte Buchstaben aussieht?«
»Erste Klasse. Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Schreibenlernen. Die meisten Buchstaben wollte ich spiegelverkehrt schreiben, ich hab den Unterschied einfach nicht gesehen. Für jeden Buchstaben, den ich gemeistert habe, hat meine Mutter mir einen Stern geschenkt, und als ich das Alphabet voll hatte, haben wir sie an die Decke geklebt und dabei meinen Namen geschrieben.«
»Da steht Luis? Das kann man gar nicht lesen.«
»Ich hab eine Art Geheimschrift entwickelt, während ich mich mit der korrekten Schreibweise abplagen musste.«
Alisa lachte leise. »Du hast eine tolle Mutter.«
»Ja«, sagte ich.
Eine Mutter, die mich belogen hatte. Die mir gesagt hatte, wie sehr sie mich liebte. Jeder Tag, jedes Erlebnis mit ihr war eine Lüge gewesen.
In unserem Schweigen fehlten die Finken so sehr, dass es kaum auszuhalten war.
»Wie seid ihr eigentlich zusammengekommen, David und du?«, fragte ich.
»Chris, also seine Mutter, hat mir immer das Essen gebracht. Wir hatten so viele Gäste, dass meine Mutter sich nicht um mich kümmern konnte. Na ja, ich war noch ganz schwach, und da hat Chris es mir nach oben in mein Zimmer getragen. Da war sie noch nicht die Chefköchin. Und David hatte einen Ferienjob bei uns und hat schließlich ihre Aufgabe übernommen. Er kam immer an und hat mit dem Fuß gegen die Tür gebollert, weil er nicht anklopfen konnte mit dem Tablett in der Hand, und es war ihm schrecklich peinlich, zu mir ins Zimmer zu kommen. Weil wir uns doch aus der Schule kannten. Aber ... na ja, irgendwann ist er dann lockerer geworden.«
»Das ist schön«, sagte ich. »Sohn der Küchenhilfe verliebt sich in Hotelerbin. Das klingt wie eine Hollywood-Romanze.« Ohne dass ich es wollte, hatte ich plötzlich Davids Gesicht vor Augen. Ich bin nicht glücklich mit ihr, hatte er gesagt. Sie wollte nur einen Freund.
Hatte er gelogen? Hatte er das alles nur gesagt, um mich rumzukriegen?
»Ich frage mich, wo sie sich kennengelernt haben, Davids Eltern«, sagte Alisa nachdenklich. »Chris ist schon fast zwanzig Jahre bei uns im Hotel. Sie ist bestimmt nicht oft ausgegangen. Abends ist Hochbetrieb in der Küche. Wann kann man da schon Party machen?«
»Wenn er ein Biologe mittleren Alters war, hätte sie ihn wohl kaum auf einer Party getroffen.«
»Aber wo ...« Alisa brach ab und schlug sich vor die Stirn. »Ich bin ja so dämlich. Er war doch garantiert bei uns im Hotel! Daher müssen sie sich kennen. Ein Wissenschaftler auf der Durchreise zu irgendeinem Kongress oder so. Und die naive kleine Küchenassistentin. Das wäre noch ein viel besserer Film.«
»Leider ohne Happy End«, sagte ich. »Oder ... Moment mal. Tragt ihr die Gäste nicht ein? Mit vollem Namen?«
Alisa setzte sich auf. »Natürlich. So kommen wir an seinen Namen. Vielleicht sogar an seine Adresse! Falls er immer noch dort wohnt, wo er vor achtzehn Jahren gemeldet war.«
»Bewahrt ihr die Bücher so lange auf?«
»Bei uns kommt nichts weg. Die Unterlagen müssten alle noch da sein!«
Ich tastete nach dem Lichtschalter. Alisas Wangen glühten vor Aufregung.
»Dann sollten wir gleich nachschauen!«
Ihr Lächeln brach in sich zusammen. »Das tun wir, aber nicht sofort. Es ist nicht so einfach, wie du denkst.«
»Aber ...«
»Die alten Bücher kommen ins Archiv. Im Keller. Da lässt mein Vater mich gar nicht rein. Ich müsste ihm schon erzählen, was wir vorhaben, und das würde ich lieber nicht tun.«
Ich musste ihr recht geben. »Kannst du dir nicht eine Ausrede einfallen lassen?«
»Wenn ich eine gute Idee habe, sage ich dir Bescheid. Wir könnten uns in den Ferien treffen, nach Weihnachten. Jetzt hab ich erstmal Hunger.« Sie schwang ihre langen Beine aus meinem Bett und schnappte sich noch einen Lebkuchen.
»Wetten, ich kann ihn von unten nach oben essen, ohne mir das Gesicht mit Schokolade zu beschmieren?«
»Quer durch?« Ich griff mir ebenfalls einen Lebkuchen mit einer Unterseite aus Vollmilchschokolade.
Irgendwann lockte unser Gelächter meinen Vater aus seinen düsteren Katakomben. Wie ein Geist stand er auf der Schwelle meines Zimmers und blinzelte überrascht.