16. Wie man sich Mühe gibt
»Das war der Letzte. Findest du ihn okay? Was meinst du, geht der?«
Die Tanne war klein und schief. Meine Mutter hätte sie Paps rechts und links um die Ohren gehauen.
»Toll«, sagte ich. »So schön weihnachtlich. Ich hatte echt schon Angst, dass wir ohne Baum feiern müssen. Dann hätte die Ente bestimmt nicht geschmeckt.«
»Dann sind wir ja jetzt auf der sicheren Seite.« Paps wirkte erleichtert. »Mal gucken, ob ich ihn in die Ecke lehnen kann oder so. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was es bedeutet, am Heiligabend noch einen Baum zu besorgen. Beinahe hätte ich mich geprügelt.«
Ich hatte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass Paps sich überhaupt um einen Baum kümmern würde.
Er war wach. Lebendig. Er war wieder mein Paps, den ich in den vergangenen Monaten so vermisst hatte. Und ich bekam tatsächlich ein richtiges Weihnachtsgefühl.
Da keiner von uns richtig kochen konnte, hatten wir eine fertig gewürzte Ente in Aluschale in den Backofen geschoben. Zusammen mit Kroketten und einem Salat ergab das ein durchaus passables Weihnachtsessen.
Ich versuchte, nicht an meine Mutter zu denken, während ich das verkrüppelte Bäumchen mit kleinen goldenen Kugeln behängte.
Vor der Bescherung waren wir sonst immer zusammen in die Kirche gegangen. Diesmal las ich Paps die Weihnachtsgeschichte vor und holte dann das Geschenk, das ich im Schrank versteckt hatte.
»Für mich?«, fragte er. »Nicht doch. Wo ich doch eher Schläge verdient hätte für das vergangene Jahr. Oh Gott, Luis ...«
»Mach es schon auf.«
»Ein ... Fotoalbum?«
»Yep. Blätter mal rein.«
Er hatte das letzte halbe Jahr verpasst. Hier war es: Szenen aus unserem Leben, Fotos und Kommentare, Sprechblasen, manche Seiten enthielten bloß merkwürdige Dialoge. Kleine Missverständnisse zwischen Paps und mir, meinen Freunden und mir oder meinen Lehrern und mir. Natürlich schlug Paps ausgerechnet die Seite auf, in die ich die Fotos von Miko, Scarlett und mir im Freibad eingeklebt hatte, inklusive die Katastrophe mit der gehäkelten Badehose. Und dann die letzte Seite: ein See in der Dämmerung. Der Blitz spiegelte sich im Schnee.
»Das ist kein besonders gelungenes Bild«, sagte ich leise. »Die Farben waren ganz anders.«
Paps schien nicht zu wissen, ob er lachen sollte oder weinen vor Rührung, also klappte er das Album wieder zu.
»Jetzt bist du dran. Hier.«
Er hatte mir echt was gekauft? Wie, wo er doch immerzu vor sich hin geträumt hatte?
»Nur eine Kleinigkeit«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich war ... spät dran. Mit allem. Aber ich hole es nach. Du kriegst noch ein richtiges Geschenk, versprochen.«
Ich wickelte es aus. »Oh. Ein ... Mond.«
»Ich wusste, dass du ihn erkennst. Eigentlich ist es ja ...«
»Für mich ist es ein Mond«, sagte ich nochmal. »Danke, Paps. Der kommt in meine Sammlung.«
»Für meinen Lieblingssohn.«
Wir weinten ein bisschen. Dann sprang Paps auf und rettete die Ente, und ich brachte den Golfball in mein Zimmer.
Paps blickte nicht aus dem Fenster, was mein Glück war. Sonst hätte er gesehen, dass mitnichten Alisas Mutter vor dem Haus
hielt, wie ich es verwegen angekündigt hatte. Das Dröhnen des Porschemotors ließ die Scheiben vibrieren.
»Und es macht dir auch ganz bestimmt nichts aus?«, fragte ich zum tausendsten Mal.
»Geh ruhig.«
Sein Lächeln war seltsam fiebrig. Seit sein Kumpel Siggi ihn für verrückt erklärt hatte, war Paps nicht mehr derselbe. Er hockte nicht mehr vor dem Bildschirmschoner und täuschte Arbeit vor. Stattdessen tigerte er unruhig durch die Wohnung, ging raus, ohne mir Bescheid zu sagen, und wenn er am Computer saß, las er so intensiv irgendwelche Berichte, dass er mich kaum wahrnahm.
Vielleicht war Siggi nicht mal daran schuld, sondern das, was mit meinen Finken passiert war. Ich hätte nie gedacht, dass Paps sich von heute auf morgen von einem depressiven Scheinwitwer in einen Mann mit einer Mission verwandeln könnte.
»Du willst mich doch nicht etwa loswerden?«, hakte ich nach, plötzlich misstrauisch.
»Viel Spaß.« Er drückte mich kurz. »Du hast Ferien, also genieß sie auch.«
Jakob hupte. Ich schnappte mir meine Tasche und verließ die Wohnung, um bei Alisa zu übernachten, die Paps nun für meine beste Freundin hielt.
Als hätte ich Scarlett vergessen. Und als hätte Frau Gerold das jemals erlaubt. Sie würde mir im Leben nicht verzeihen, dass ich Sebastians mörderisches Geheimnis kannte, und erst recht hätte sie mich nicht abgeholt. Aus diesem Grund brauchten wir Jakob, den Einzigen weit und breit, der einen Führerschein besaß.
»Das hat ja gedauert. Musstest du noch packen?« Jakob wartete mit laufendem Motor. Neugierige Nasen drückten sich an den Fensterscheiben platt.
»Mein Vater leidet unter Abschiedsschmerz«, sagte ich möglichst leichthin. »Fahr vorsichtig, die haben Eisregen angekündigt.«
Damit wir ungestört im Archiv stöbern konnten, hatte Alisa mehrere Tage vorausgeplant und dafür gesorgt, dass Herr und Frau Gerold ausgegangen waren.
»Das kommt einmal in hundert Jahren vor«, hatte Alisa stolz berichtet. »Meine Eltern sind quasi mit dem Hotel verheiratet. Aber zufällig hat meine liebe Großtante die Idee gehabt, dass sie eine kleine Feier veranstalten will. Und da Großtante Lieselotte etwas zu vererben hat, konnten sie nicht Nein sagen.«
Alisa musste uns nicht erzählen, wer die reiche Tante auf diese Idee gebracht hatte. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie Großtante Lieselottes kleiner Liebling war.
Wir hatten freie Bahn. Und ich konnte das Hotel betreten, ohne dass ihre Mutter am Tresen stand und mich wieder mit giftigen Blicken bedachte.
Als ich mich aus dem Porsche herausfaltete, sah ich Alisa in der Tür stehen, hinter sich das warme gelbe Licht des Empfangs. Aus der Kastanie wehte ein Schauer, kalte Tropfen trommelten auf mein Haar und rannen mir in den Nacken. In der Dunkelheit knisterte der Eisregen.
Ich war dankbar, dass Jakob neben mir über den Parkplatz ging. Seine Schuhe knirschten so unbekümmert laut auf dem Schotter, dass sie die leisen Waldgeräusche vertrieben. Ich versuchte, den Gedanken abzuschütteln, dass dort jemand auf mich lauerte.
»Hey«, sagte Jakob leise. »Entspann dich.«
Vielleicht sollte ich damit aufhören, mich ständig umzusehen.
»Falls David da draußen ist, helfen wir ihm.«
Ich durfte Jakob nicht böse sein. Dass er nichts von den zerfetzten Vögeln wusste, von dem Blut und der Schrift an der
Wand, war ja nicht seine Schuld. Ich hatte niemandem etwas davon gesagt, und obwohl es bestimmt klüger gewesen wäre, brachte ich es immer noch nicht über mich.
»Da seid ihr ja endlich.« Alisa war sichtlich nervös. Sie führte uns zum Fahrstuhl, vorbei an der Rezeption, die – welch Zufall – gerade nicht besetzt war.
»Es macht nichts, wenn euch jemand sieht«, sagte sie leise. »Unsere Angestellten würden mich nicht verraten. Aber wir müssen es ihnen auch nicht direkt unter die Nase reiben, dass ich Besuch habe. Lasst uns erst mal rauffahren.«
Es war noch dasselbe Zimmer wie vor vier Jahren: oben im dritten Stock, über dem Wintergarten. Die holzverkleidete Dachschräge machte es gemütlich, ebenso der flauschige Teppich auf dem Parkett. Die Farben hatten sich allerdings verändert: Das Bett mit der samtigen blauen Decke darauf bot sich als Sitzgelegenheit an, außerdem gab es einen Sitzsack, ebenfalls in Blau. Daneben stellte ich meine Tasche ab, in der ich mein Übernachtungszeug mitgebracht hatte. Die Jacke hängte ich über den Stuhl vor dem Schreibtisch. Dieser Tisch, der früher neben dem Kleiderschrank gestanden hatte, hatte nun einen Platz direkt am Fenster. Anders als damals war er ordentlich aufgeräumt, der Laptop umrahmt von einer Lampe, einer Uhr und einer Keramiktasse für die Stifte. Alles passte farblich zusammen, und es gehörte nicht viel dazu zu erraten, dass Alisas Lieblingsfarbe mittlerweile Blau war. Damals war es noch Pink gewesen. Und auf sämtlichen Fotos waren Pferde gewesen.
Nein, Alisas pinke Pferdezeit war längst vorbei. David. Aus allen Bilderrahmen lächelte mich sein Gesicht an, blitzten seine blauen Augen. Alisa an seiner Seite wirkte glücklich. Bilder von schneebedeckten Hängen in Skimontur. Bilder in Badekleidung am See. Bilder von Partys. Immer die beiden zusammen, immer lächelten sie. Es war unerträglich.
Der Blick aus ihrem Fenster auf den See war mir von unseren früheren Nachhilfestunden vertraut. Doch heute war da keine Aussicht. Das Licht spiegelte sich in der Scheibe, und dahinter herrschte pure Dunkelheit. Ich konnte weder die Laube sehen noch den kleinen Rosengarten, wo die Hotelgäste im Sommer ihren Eiskaffee schlürften.
»Sebastian musste mit zu Tante Lieselotte«, erklärte Alisa. »Mal schauen, wie lange das gut geht. Die zwei geraten ständig aneinander. Meine Eltern hoffen, dass es ihm trotzdem gelingt, ihr einen Teil des Erbes aus dem Kreuz zu leiern, aber ihr kennt ja meinen Bruder. Er kann durchaus charmant sein, wenn er will, aber er will leider nicht immer.«
Die reiche Tante, die für die unzähligen Auseinandersetzungen zwischen den Geschwistern verantwortlich war, hatte offenbar nie erfahren, was sie mit den großzügigen Geschenken für ihre kranke Nichte angerichtet hatte.
Ein Schatten fiel über Alisas Gesicht, aber dann schüttelte sie sich und lächelte wieder.
»Wir müssen die Zeit nutzen, das wollte ich damit sagen. Meine Eltern sind immer so nervös, wenn sie mich nicht im Blickfeld haben. Wollen wir?«
Wir machten uns auf den Weg zum Fahrstuhl, doch schon als wir am Treppenhaus vorbeikamen, hörten wir den Lärm von unten. Es klang, als wäre eine Horde Vandalen eingefallen.
»Das muss eine ganze Busladung sein«, meinte Jakob beeindruckt.
Natürlich war der Lift besetzt.
»Na, das kann dauern. Die Treppe also. Die Haupttreppe führt aber runter in die Lobby und endet da. Die Treppe in den Keller ist neben der Küche.« Alisa legte den Kopf leicht schräg, während sie überlegte. »Jetzt ist natürlich klar, dass man uns sehen wird. Ich will nicht, dass meine Eltern nachher
von unserem Personal erfahren, dass ich meine Gäste runter in den Keller geführt habe. Sonst denken sie noch, wir plündern die Vorratskammern. Ich geh zuerst, dann kommt ihr nach, okay?«
Mir kam das alles etwas zu geheimnistuerisch vor, denn schließlich wohnte Alisa hier, und wenn sie mit ihrem Besuch in den Keller wollte, was sprach dagegen?
Jakob und ich tauschten einen Blick. »Sollen wir in deinem Zimmer warten oder hier im Gang rumstehen?«
»Meinetwegen geht in mein Zimmer. Aber lest nicht in meinem Tagebuch oder so.«
»Ehrensache«, sagte Jakob.
Alisa huschte die Treppe hinunter, und wir kehrten in ihr Zimmer zurück.
Jakob seufzte laut. »Ich komme mir vor wie ein Spion. Dabei gehen wir bloß in ein langweiliges Archiv, um ein paar Bücher durchzublättern.«
»Ja, sie macht es richtig spannend«, stimmte ich ihm zu. »Das muss ihr Sinn für Dramatik sein. Ich kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass sie von ihren Eltern Ärger kriegt, nur weil sie in den Keller geht.«
Der Eisregen trommelte gegen die Fensterscheibe. Ich fragte mich, ob David irgendwo da draußen war und den Lichtschein sah. Ob er sich fragte, warum wir uns trafen, obwohl Alisa und ich längst keine Freunde mehr waren, und was Jakob damit zu tun hatte.
»Ich geh dann jetzt mal«, murmelte er, er zögerte, warf mir einen vorsichtigen Blick zu, als wollte er noch etwas sagen. Doch dann überlegte er es sich anders. Die Tür klappte leise auf und zu, und ich war allein.
In Alisas Zimmer allein.
Plötzlich war die Versuchung da, mich umzusehen, obwohl ich jetzt schon wusste, dass es wehtun würde.
Die Fotos von ungetrübtem Pärchenglück. Glühende Eifersucht durchfuhr mich, während ich sie betrachtete. Bildete ich es mir ein, dass Davids Lächeln gequält wirkte? Wünschte ich mir bloß, dass es so war?
Ich nahm das Foto in die Hand, das auf ihrem Nachttischchen stand; kein Schnappschuss, sondern offenbar eine Fotografie von einem Profi. Es war nicht in einem Studio gemacht worden, sondern in der Stadt, in irgendeiner altertümlichen Gasse, die ich nicht wiedererkannte. David und Alisa standen vor einem schmiedeeisernen Tor, das in eine verwitterte Mauer eingelassen war. Dahinter verschwand ein sandiger Weg zwischen den dunklen Umrissen von Wacholderbüschen. Es war Sommer, an Alisas leichtem Kleidchen zu erkennen. Sie lachte David an, dessen Hände sie festhielt. David jedoch blickte an ihr vorbei in die Kamera. Der Fotograf hatte sein halbes Lächeln eingefangen, die Lichtfunken in seinem dunklen Haar, und einen Blick, so abwesend und verloren, dass ich das Bild fallen ließ. Es landete weich auf der Matratze und hinterließ einen Abdruck in der blauen Samtdecke.
Vielleicht hatte er sich ja doch umgebracht. Er war depressiv gewesen und in Behandlung, und während er in der Schule und seinen Freunden gegenüber Normalität heuchelte, war er tief drinnen der Junge, den das Foto zeigte, eine lachende Alisa an seiner Seite, den dünnen Stoff ihres Kleides von einer Brise gegen die Beine gedrückt. Während er ins Nichts starrte.
In diesem Moment wünschte ich mir tatsächlich, ich hätte nur Bilder gefunden, die meine Eifersucht anstachelten, Lächeln und ausgelassene Fröhlichkeit und Küsse.
Aber nicht das – ein leeres Lächeln und ein Gesicht ohne jedes Gefühl.
Wie mit Fingernägeln klopfte der Regen gegen das Fenster. Mich überlief ein Schauder, und plötzlich kam es mir viel zu still vor.
Ich sollte nicht hier sein. Frau Gerold hatte damals recht damit gehabt, dass ich in diesem Haus nichts zu suchen hatte.
Bilder von Glück. Und Bilder von Angst. Alisas Schreie gellten mir immer noch in den Ohren.
Sebastians Gesicht, danach. Wann würde ich jemals diesen Ausdruck in seinen Augen vergessen? Als wenn ich ihn verraten hätte. Als wenn ich der Mörder wäre, nicht er.
Tapp, machten die Eiskörner am Fenster. Tapp, tapp.
Ich hastete zur Tür und horchte in den Gang hinaus. Ein schläfriges Summen, das von der Lampe ausging, füllte die Stille. Hier im privaten Teil des Hotels war es ruhiger als bei uns im Mietshaus, die Wände schön dick, die rotgemusterten Läufer taten ihr Übriges.
Als ich mich vom Türrahmen löste und über den Teppich ging, war es, als hätte ich das Halteseil losgelassen, dass mich mit der Wirklichkeit verband, denn auf einmal hörte ich eine Stimme.
»Luis.« Nur ein Flüstern, das von überall her zu kommen schien. »Luis, küss mich. Küss mich, Luislu.« Jemand lachte.
Und das Schlimmste war, es klang genau wie Davids Lachen.