21. Hummersalat
Als ich mich beruhigt hatte, nach zahlreichen Taschentüchern und einem Megabecher Kakao mit Sahne und Zimt, erzählte ich Paps von unserer Fahrt nach Potsdam und von Dr. Merten Stendhal. Den Überfall ließ ich weg, um ihn nicht zu beunruhigen. Paps war sehr besorgt um mich, weil mich die Geschichte mit den Finken so mitgenommen hatte, und er schien jedes Lächeln von mir zu zählen und zu sammeln.
Ich beichtete ihm nicht, dass ich bewusstlos in einer Hintergasse gelegen hatte, weil mich ein Unbekannter bedroht und betäubt hatte, um mich einzuschüchtern.
Ich sagte nichts von Sebastian und der Narbe und seinem Grinsen. Nichts davon, was es mit mir machte, ihn plötzlich wieder in meinem Leben zu haben. Dass er mich in meinen Träumen heimsuchte und die Sehnsucht manchmal in mir aufquoll wie ein Keim, der Wurzeln schlagen wollte. Nichts von Jakob, der mich im Arm gehalten hatte. Nur die Schokocroissants, die erwähnte ich, damit Paps glaubte, dass es mir gut ging und ich die kurze Reise genossen hatte.
»Mal ganz langsam.« Er lief ins Schlafzimmer und kam mit seinem Schreibblock zurück. »Der Reihe nach. Lass mich notieren, was wir haben. Was alles passiert ist.«
Der Bleistift flog übers Papier.
Ich hätte ihm von gestern Abend erzählen müssen . Aber er war so begeistert. Er hatte sein Herz wiedergefunden, sein Journalistenherz, und wie hätte ich da sagen können, dass wir aufhören sollten, nach David zu suchen – weil ich sonst in Gefahr war? Nein, wir mussten herausfinden, was hinter all dem steckte. Wenn David auf der Flucht war, sich verstecken musste ... wie hätte ich da aufhören können, zu forschen und zu graben? Ich wollte ihn zurück, ich wollte in seine unglaublichen Augen sehen, seinen Kuss spüren, seinen Jubelschrei hören.
Ich wollte aufhören, an den See zu denken, an das zerbrochene Eis.
»Hm«, murmelte er.
»Es ergibt alles keinen Sinn, oder?«
Paps meditierte über den Notizen. Ich nutzte die Zeit, um meine neuen Vögel zu begrüßen und Scarlett anzurufen. Ob sie schon ein neues Handy hatte? Ich versuchte es mit dem Festnetzanschluss, doch es meldete sich niemand, deshalb rief ich Miko an.
»Kannst du mir Scarletts neue Nummer geben?«
»Seit wann bist du denn mit diesem Seppdepp zusammen?«, fragte Miko, so wenig subtil wie immer. »Du weißt schon, dass er ständig mit diesen Drogentypen am See abhängt, oder? Und wie Scarlett sagen würde: Gras ist ein Anagramm von Sarg
Nein, das wusste ich nicht, aber was Sebastian anging, konnte mich kaum etwas überraschen. Ich hatte die wilde Unrast in ihm gespürt, die Wut auf mich, die Dunkelheit hinter seinem spöttischen Lachen.
»Scarlett hat noch kein neues Handy. Sie hofft, dass sie es irgendwo verloren hat und wiederfindet. Ansonsten muss sie bis zu ihrem Geburtstag warten.«
»Kannst du ihr was von mir ausrichten? Dass sie sich unbedingt bei mir melden soll? Du kriegst auch eine Tüte Gummibärchen von mir.«
Nachdem das geklärt war, kehrte ich in die Küche zurück, wo Paps vor seinem Becher hockte und die Stirn in die Hand stützte.
»Mannomann«, murmelte er.
»Er ist nicht tot«, sagte ich. »Siehst du das auch so? David kann nicht tot sein.«
»Wie gut kanntest du diesen Jungen?«
»Es geht nicht um Zeit. Verstehst du das? Selbst wenn ich nur eine Stunde mit ihm verbracht hätte oder einen Nachmittag – ich weiß, wer er ist.«
Hör auf, mich zu suchen, hauchte er mir ins Ohr. Hör auf damit.
»Noch was«, sagte Paps. »Ich hab die ganze Zeit recherchiert. Hab telefoniert und bin rumgefahren. Mit der Kamera. Willst du mal was sehen?«
Er stand auf und holte seine Canon. Ich konnte es kaum glauben. Er fotografierte wieder?
Ich nahm die Kamera entgegen, um mich durch die Fotos zu klicken. Was hatte ich erwartet? Jedenfalls nicht das.
Sechs Erwachsene an einem Tisch. Zwei davon hatte ich erst gestern gesehen, die anderen beiden vorgestern.
»Das sind Jakobs Eltern! Und das sind Herr und Frau Gerold. Wo sind die da? Ist das ein Restaurant?«
»Ja, die Fürstenresidenz.« Das Nobelhotel in unserem Ort, ein großes, hypermoderndes Gebäude, dem der Charme des Seehotels völlig abging.
»Alisa hat gesagt, dass sie nie ausgehen.«
»Tja, gestern Abend haben sie das aber getan. Schau dir die Bilder an. Achte auf die Gesichter.«
Ich klickte weiter. Alisas Mutter wirkte traurig, nahezu verstört. Ihr Vater hielt sich aufrecht, trank ein Glas nach dem anderen. Holger und Andrea hatten sich in Schale geworfen. Das Paar, das ich nicht kannte, war ebenfalls sehr elegant gekleidet. Der Mann war groß und hager, die Frau an seiner Seite hübsch, blond und viel jünger als er.
»Ich wusste gar nicht, dass Jakobs und Alisas Eltern so gut befreundet sind. Und wer sind die anderen beiden? Das sieht aus wie ein Club der Reichen und Schönen.«
»Club trifft es ganz gut«, meinte Paps. »Soweit ich in Erfahrung gebracht habe, treffen sich die sechs regelmäßig in der Fürstenresidenz. Da würde unsereins sich nicht mal einen Salat bestellen. Ich konnte mit einem der Kellner ein interessantes Gespräch führen, leider nicht mit dem, der an jenem Abend den Tisch unserer sechs Freunde hatte. Aber der Mann, mit dem ich gesprochen habe, hat früher schon mal das eine oder andere mitbekommen. Anscheinend geht es vor allem um Wohltätigkeitsveranstaltungen, die Vorbereitungen fürs Stadtfest, Marketing und so weiter. Langweiliges Gedöns. Einmal haben sie zusammen eine Petition bei der Bürgermeisterin eingereicht. Sie halten sich für wichtig, aber sie geben ein ganz gutes Trinkgeld.«
Er war in seinem Element.
»Du bist verrückt, Paps. Wofür hältst du dich, für einen Privatdetektiv?«
»Du weißt, wer diese zwei hier sind, oder?«
»Wetten, dass du es mir gleich sagen wirst?«
»Das ist Herbert Konrad. Und seine Frau Ludmilla. Seine dritte Frau übrigens.«
»Konrad? Wie Autohaus Konrad?«
»Exakt. Und wie David Konrad.«
»Aber David ist gar nicht mit denen verwandt. Bloß ganz entfernt.«
»Oh, so entfernt nun auch wieder nicht. Seine Mutter ist immerhin Herberts Schwester.«
»Was?«
»David ist der Neffe von Herbert Konrad, der übrigens keine eigenen Kinder hat. In dieser Familie steckt so viel Geld, das kannst du dir kaum vorstellen. Ja, sie sind ein Club, sie treffen sich mit den anderen Gutsituierten in unserer Stadt, sie zelebrieren ihre Überlegenheit. Oft sind auch andere Leute dabei, die Namen dürften dir fast alle bekannt vorkommen nach den Firmen hier in der Gegend. Aber diese drei Familien sind der innerste Kreis, wenn du so willst. Sie kennen sich schon lange, sie halten zusammen, sie treffen sich regelmäßig. Herbert Konrad bringt seine jeweilige Frau mit, wenn er die alte abserviert hat. Nebenbei, die Fürstenresidenz gehört ihm auch.«
»Das kann nicht sein«, murmelte ich.
Es war mir egal, was der Autohändler alles besaß und mit wem er sich traf. Aber dass David sein Neffe war – das war heftig!
»Es kann. Und wie ich in Erfahrung gebracht habe, steckt Konrad in ein paar ganz üblen Geschäften mit drin. Es kann mehr als einen Grund geben, warum David verschwunden ist.«
Mir wurde heiß und kalt.
»Schau dir die Gesichter an«, sagte Paps.
Ich ging die Fotos durch.
Was ich sah, war Unglück. Und Sorge.
Paps hatte eine ganze Fotostrecke geschossen, es war beinahe ein kleiner Film. Ich betrachtete die Gesten, die mehr aussagten, als es den Betreffenden bewusst war. Konrad runzelte die Stirn. Frau Gerold legte ihm die Hand auf den Arm. Jakobs Mutter schien Konrads Frau Ludmilla zu trösten.
»Geht es um David?«, fragte ich. »Auch wenn er der Neffe ist, haben sie sich doch wohl nicht besonders nahegestanden. Meinst du, sie trauern alle gemeinsam um ihn? Er ist schon seit drei Wochen verschwunden.«
Paps strahlte mich an. »Du bist schnell. Mir scheint, du gerätst nach deiner Mutter. In der Tat, warum sollten diese Leute um David trauern? Ich denke auch, dass sie eher andere Probleme haben. Und welche das sind, das finden wir auch noch raus. Es geht hier um Geld, Luis, um sehr viel Geld. Ich kann es geradezu riechen.«
Ich nicht. Ich roch weder Geld, noch konnte ich mir vorstellen, in welche Richtung die Geschichte ging. David war verschwunden. War er tot oder lebte er noch? Solange ich das nicht wusste, war mir alles andere egal.
»Aber was hat das mit David zu tun?«
»Ich weiß nicht«, sagte Paps. »Denk nach. Was könnte einem reichen Mann Sorgen bereiten?«
»Miese Geschäfte? Sinkende Einnahmen? Nicht jeder kann sich einen Porsche leisten. Nicht jeder steigt in der Fürstenresidenz ab.«
Nicht jeder verliert einen Neffen, dachte ich.
Vielleicht standen sie sich näher, als David mir verraten hatte. Vielleicht gab es einen Grund dafür, warum seine Mutter mit den beiden Kindern in einem kleinen Reihenhaus lebte, statt mit ihrem Bruder, der blondierten Schwägerin und der Crème de la Crème unserer Stadt sündhaft teuren Latte macchiato zu schlürfen oder Hummersalat zu verspeisen.
Vielleicht hatten sie Angst.