24. Nur ein Name
»Du kannst solange bleiben, wie du möchtest«, sagte Andrea bestimmt zum hundertsten Mal. Sie hatte das Bett im Gästezimmer bezogen, nachdem Jakob ihr endlich klargemacht hatte, dass ich lieber für mich sein wollte.
»Das tut mir so leid, das mit deinem Vater.« Auch das hatte sie mindestens eine Million Mal betont. »Und die Vögel stören ganz bestimmt nicht. Du darfst mich übrigens gerne Andrea nennen.«
Es wunderte mich, dass sie so ausdauernd um mich herumschwirrte. Sie war dermaßen nervös, eigentlich hätte sie in Joggingklamotten springen und loslaufen müssen. Immer wieder zwirbelte sie ihre kurzen blonden Locken.
»Hast du alles?«
»Ja«, sagte ich. »Danke schön, ähm, Andrea.«
Ich stellte den Käfig auf die Fensterbank und sah mich um. Das Zimmer war winzig. Ein Bett, ein Schrank, ein Tischchen, auf dem eine künstliche Blattpflanze stand. Hier hatte noch nie jemand mehr als ein paar Tage gewohnt. Und niemand hatte »Ich liebe dich« an die Wand geschrieben.
»Du kannst zu mir in mein Zimmer kommen, wenn dir hier die Decke auf den Kopf fällt«, sagte Jakob.
Er schien darauf zu warten, dass seine Mutter endlich verschwand.
»Ja, wenn ihr noch was trinken wollt?«
»Wir wissen, wo die Küche ist, danke.«
»Ihr bleibt im Haus, ja? Ihr geht nicht noch mal weg?«
»Nein, keine Sorge, wir sind viel zu fertig, um jetzt noch mal loszuziehen. Und morgen ist Schule.«
Sie seufzte, befingerte ihre Haare, nickte und ließ uns allein.
Ich hätte schwören können, dass sie die Treppe hinunterhüpfte. »Ist sie immer so?«
»Sie hat ADHS.«
»Im Ernst?«
»Keine Ahnung.«
»Sie hat sehr viel Energie.«
»Das hat sie. Sie muss immer in Bewegung sein. Seit ein paar Monaten trainiert sie sogar für den Halbmarathon.«
Wir schwiegen plötzlich. Das Zwitschern der Finken wirkte fremd in diesem großen, hellen Haus, es störte die lichtdurchflutete Ordnung. Zu viele Lampen brannten gegen die Januardunkelheit an.
Plötzlich fragte ich mich, wogegen Jakobs Mutter kämpfte. Welche Dämonen hinter ihren Fenstern lauerten.
»Ich kann verstehen, wenn du einfach schlafen gehen willst«, sagte er.
Ich setzte mich aufs Bett, zog die Knie an und grub meine Zehen in die weiche Decke. »Nein, bleib hier. Erzähl mir, was so wichtig ist.«
»Ich war sauer, weil dein Vater meinen Eltern hinterherspioniert hat.«
»Das hab ich mitbekommen. Dabei ging es überhaupt nicht darum, irgendwen zu beschuldigen.«
»Ich weiß«, sagte Jakob leise. Er setzte sich neben mich und lehnte sich an die Wand. Seine Beine waren viel länger als meine, seine Füße viel größer. Er trug graue Socken mit einem Zackenmuster. Scarlett würde sie bestimmt langweilig finden und ihm anbieten, wunderschöne, ausgefallene Exemplare zu stricken, wie sie sonst niemand hatte.
»Du hast mir nie gesagt, dass David so reiche Verwandte hat. Ist dir nie eingefallen, dass das wichtig sein könnte?«
Er schwieg, aber es war ein freundschaftliches Schweigen. Meine Gedanken irrten zu meinem Vater; rasch holte ich sie zurück. Ich war noch nicht bereit, wieder daran zu denken.
»Du hattest recht«, sagte er leise. »Ich hab meine Mutter direkt gefragt, ob sie etwas über David weiß.«
»Und?«, fragte ich, bevor er wieder anfangen konnte zu schweigen.
»Und nichts. Aber sie ist kreidebleich geworden. Und dann hat sie sich ihre Sportklamotten angezogen und ist losgerannt. Deshalb glaube ich, dass sie an dem Abend in der Fürstenresidenz tatsächlich über David gesprochen haben. Und dass wir nicht weggehen sollen – seit wann kümmert sie das? Sonst darf ich auch machen, was ich will.«
»Du bist schon achtzehn.«
»Ja, aber als ich sechzehn, siebzehn war, hat es sie auch nicht gestört, wenn ich nächtelang weggeblieben bin. Warum jetzt auf einmal?«
»Angst? Dass dir auch etwas zustoßen könnte?«
Er wackelte mit den Füßen. »Ich bin es nicht gewöhnt, dass sie sich Sorgen machen. Da stimmt doch was nicht.«
Vielleicht war ich verrückt. Ich glaubte, David zu sehen. Seine Stimme zu hören. Vögel starben und rote Buchstaben erschienen an meiner Wand, und Paps stürzte eine Treppe hinunter und lag im Krankenhaus.
»Reden wir morgen weiter«, schlug ich vor und musste feststellen, dass Jakob nicht bloß seinen Gedanken nachhing. Sein Kopf war zur Seite gesunken, die Augen geschlossen. Er schlief tief und fest.
Na toll. In meinem Bett. Meinem schmalen, harten Gästezimmerbett.
Schließlich kletterte ich über ihn rüber – das schien langsam eine Gewohnheit zu werden – und ging über den Flur in sein Zimmer. Von unten kamen die Geräusche des Fernsehers; seine Eltern waren offenbar immer noch wach, obwohl es mitten in der Nacht war. Vielleicht sah sich der Herr Zahnarzt, der wie ein Ringer aussah, den Boxkampf an, der heute gesendet wurde.
Ich schlüpfte in Jakobs Zimmer und legte mich in sein weiches Bett, und der Schlaf kam, ein langfingriges Ungeheuer, das mir einen Albtraum nach dem anderen injizierte.
Ich träumte nicht von David und dem See, sondern von Sebastian.
Immer wieder von Sebastian.
Die Tage vergingen januargrau. Es taute und fror und taute. Es regnete und schneite.
Und manche Dinge blieben immer gleich. Paps zwischen den Schläuchen, im Dschungel der piepsenden Monitore. Ich besuchte ihn jeden Abend. Jakob brachte mich hin, wartete draußen im Flur, fuhr mich zurück. Seine Mutter wollte immerzu wissen, wo wir waren, was wir vorhatten.
Sie hüpfte durch den Tag, bewirtete mich, fragte nach meinem Vater und meinen Hausaufgaben und tanzte um mich herum. Später saß Holger mit uns am Abendbrottisch, fragte nach der Schule, nach Jakobs Noten und verlangte Ergebnisse.
Jakob zuckte mit den Schultern. Im Moment waren auch seine schulischen Leistungen nicht allzu gut.
Manchmal sah ich ihn mit düsterer Miene durch die Schulflure marschieren. Alisa machte sich rar. Gerüchte waberten durch die Kursräume, sie sei mitten im Unterricht zusammengebrochen. Andere behaupteten, sie hätte einen epileptischen Anfall gehabt. Giftige Blicke ätzten sich durch meine Haut, brannten mir Tattoos ein.
Sie wussten nichts von meinem Vater. Ich hatte Jakob schwören lassen, niemandem etwas davon zu erzählen, auch den Lehrern nicht. Die Unterschriften eines »Steffen Wagner« kritzelte ich eigenhändig unter meine vergeigten Tests und Klausuren. Es fiel niemandem auf.
»Verräter«, zischte Miko, als ich ihn in der Mensa erwischte und mich kurzerhand zu ihm an den Tisch setzte. Er aß gerade Spaghetti, bei ihm immer ein abenteuerliches Unterfangen, da die Tomatensoße in alle Richtungen spritzte.
»Du siehst aus wie ein Vampir«, sagte ich und reichte ihm eine Serviette. »Wo ist Scarlett? Die habe ich heute noch gar nicht gesehen.«
»Was interessiert dich das?«, schnauzte er mich an.
Er war so klein und niedlich, aber seine Augen funkelten mich an. In seinem Herzen war Miko ein Sibirischer Tiger. Das wusste ich. Seltsamerweise hatte ich das nie in Frage gestellt; vielleicht war das auch die Grundlage unserer Freundschaft.
»Miko, bitte.« Ich war zu müde, um zu betteln. Zu müde, um zu kämpfen. Jeden Abend brauchte ich meine ganze Kraft, um in den Krankenhausfahrstuhl zu steigen und den Knopf zu drücken.
»Was, Miko, bitte?« Er starrte mich nieder, das Kinn und die Lippen rotverschmiert. »Haben die Aliens dich schon wieder fallenlassen? Bist du ihre erhabene, exotische Gegenwart leid? Kommst du wieder angekrochen, zurück zu den Normalos? Aliens ist übrigens ein Anagramm von Alisen . Und senil steckt da auch drin.«
»Überlass Scarlett lieber die Anagramme, die sind echt dämlich. Und das ausgerechnet von dir? Ich dachte, du vergötterst Alisa heimlich.«
»Heimlich«, stimmte Miko zu. »Die Betonung liegt auf heimlich. Ich liege ihr nicht zu Füßen, so wie du.«
Ich blickte über seine Schulter; Jakob winkte mir gerade zu. Wir mussten noch besprechen, wann wir nach Hause fuhren. Er nahm mich jeden Tag in seinem Porsche mit.
»Bist du jetzt etwa mit Jacke zusammen? Dem goldigen Klon?« Miko stöhnte auf. »Ehrlich, ich hätte dir etwas mehr Grips zugetraut, Mondgesicht.«
»Er ist in Alisa verliebt«, sagte ich. »Aber ich wohne bei den Perlanders, weil mein Vater im Koma liegt. Jakobs Mutter hat mich sozusagen adoptiert. Tu doch nicht so scheinheilig. Wir haben sie genauso verachtet wie sie uns, und ich schäme mich dafür. Jakob ist nett. Und Alisa ist ... traurig. Und verwundbar. Viel verwundbarer, als ich dachte. Und David ist tot. Tschüss, und grüß Scarlett von mir.«
Ich blinzelte die Tränen weg und lief zwischen den Tischreihen hindurch, bevor Miko mich zurückrufen konnte. Auf Mitleid konnte ich verzichten.
»Kommst du? Ich fahr zu Alisa. Dann können wir von dort gleich ins Krankenhaus.«
Ich wollte Alisa gerne sehen, aber zu den Gerolds? Dazu hatte ich heute einfach nicht die Nerven. Sebastian war da. Er war immer genau dort, wo ich ihn nicht haben wollte.
»Fahr ruhig allein.«
Jakob musterte mich skeptisch. »Bist du sicher? Dann wird es nachher aber spät, wenn ich dich erst holen muss.«
»Kein Problem«, sagte ich.
Also fuhr er, und ich wollte mich zum Grübeln in mein Zwergenzimmer verziehen. Doch ich hatte die Rechnung ohne Frau Perlander gemacht, sorry, Andrea natürlich.
»Luis? Ich hab mit ein paar von deinen Lehrern gesprochen. Das sieht nicht gut aus für dich.«
»Sie haben was?«
»Ich hab wegen Jakob angerufen, das mach ich öfter mal, und dabei habe ich natürlich auch nach dir gefragt. Keiner wusste etwas davon, dass dein Vater im Krankenhaus ist und du bei uns wohnst! Wie stellst du dir das vor? Du bist noch minderjährig. Ich hab dich entschuldigt, so gut ich konnte, aber um die Sechsen auszugleichen, die du mittlerweile angehäuft hast, wirst du in jedem Fach ein Referat halten oder eine schriftliche Ausarbeitung abliefern. Du setzt dich sofort auf den Hintern und fängst an.«
Ich starrte sie an. So hatte nicht einmal meine eigene Mutter je mit mir gesprochen. Sie hatte sich gar nicht mal besonders für meine Noten interessiert. Ihr war immer wichtiger gewesen, dass ich selbstbewusst und kreativ war und die richtigen Fragen stellte.
»Äh, wie bitte? Ich hab gar keinen Laptop, den habe ich zu Hause gelassen. Weil ich doch dachte, es wäre nur für eine Nacht.«
Das hatte ich tatsächlich gedacht, an jenem Abend, als ich die Finken und ein paar Sachen zum Wechseln geholt hatte.
Andrea verengte die Augen, aber sie ruinierte den Effekt, weil sie anfing, auf den Fersen zu wippen.
»Dann nimmst du halt Jakobs Rechner.«
»Einfach so?«
»Natürlich, einfach so. Ich will keine Ausreden mehr hören! Wenn dein Vater wieder aufwacht, soll er nicht denken, wir hätten deine Erziehung vernachlässigt.«
Wenn, sagte sie. Wenn er aufwacht. Nicht »falls«. Wenn.
Ich mochte sie. Ganz plötzlich wurde mir das klar. Sie kümmerte sich um mich, und ich mochte sie. »Okay, ich fang ja schon an.«
Auf einmal schien es mir sogar möglich, Hausaufgaben zu machen, statt auf dem Bett zu liegen und in die Dunkelheit zu starren.
»Warte, ich geb dir das Passwort.« Andrea nahm immer zwei Stufen auf einmal, während sie die Treppe hochstürmte.
»Sie ... äh, du kennst sein Passwort?«
»Hab’s beim Staubwischen gefunden. Wenn der Junge was zu verheimlichen hat, sollte er seine Gedächtnisstützen besser verstecken.«
Sie hob die Schreibtischunterlage hoch und reichte mir einen kleinen Zettel, auf dem eine ganze Liste von Passwörtern notiert war. Praktischerweise stand jeweils daneben, welches Passwort wofür war.
Besonders schwer zu merken waren sie nicht.
Alisa1.
Alisa2.
Alisa3, Alisa4, Alisa5. Und so weiter.
Meine Güte, den hatte es aber schwer erwischt.
Ich setzte mich auf den Drehstuhl und fuhr den Laptop hoch. Aufmunternd klopfte Andrea mir auf die Schulter. »Ich bin unten in der Küche, falls du was brauchst.«