25. Tu das nicht
Ich fing tatsächlich an zu arbeiten. Für Sowi nahm ich mir noch einmal das leidige Thema »Wirtschaft« vor und begann mit meinem Aufsatz. Allzu schnell zeigten sich bei mir die ersten Ermüdungserscheinungen, und ich beschloss, zur Aufmunterung meine Mails zu checken. Ich bekam nicht oft welche, aber innerhalb einer ganzen Woche hatte sich vielleicht doch etwas angesammelt.
Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass außer ein paar Spams und einigen Rundmails meines eifrigen Mathelehrers (ungefähr zehn Seiten Übungsaufgaben) nichts eingetroffen war, ertappte ich mich dabei, wie ich über Jakobs Account nachdachte. Die Liste mit den Passwörtern lachte mich an.
Es war so einfach. Viel zu einfach.
Was wollte ich eigentlich sehen? Was er mit David geredet hatte? Ob sie irgendetwas über mich gesagt hatten?
Es ging mich nichts an.
Doch, das tat es. Jakob hatte nie abgestritten, dass er David auf die Idee gebracht hatte, fremdzuküssen. Damit hatte alles begonnen.
Ob mehr dahintersteckte? Was konnte ich nicht sehen?
Ich wusste, dass ich es nicht tun sollte. Bis jetzt konnte ich Jakob mit gutem Gewissen sagen, dass ich seinen Rechner nicht missbraucht hatte. Es war ein Vertrauensbruch, in seiner Privatsphäre herumzuschnüffeln.
Du musst auf dein Gefühl hören, hatte meine Mutter gesagt. Nicht immer ist das, was richtig scheint, auch das Richtige. Es gibt manchmal gute Gründe, sich über Regeln und sogar Gesetze hinwegzusetzen. Wenn Journalisten nicht bereit sind, auch mal etwas Verbotenes zu tun, werden sie der Wahrheit nie auf die Spur kommen.
Mein Vater hatte den Kopf geschüttelt und ihr widersprochen.
Du denkst immer nur ans Jetzt und ans Hier, hatte sie darauf entgegnet. Denk mal global. An Diktaturen. An geschlossene Gesellschaften. Wer nie die Regeln bricht, wer nie etwas riskiert, der lebt vielleicht sicher. Aber lebt er?
Meine Finger ruhten auf der Tastatur.
Ich war kein Journalist, ich war bloß neugierig, Jakob war mein Freund, und man tat so etwas nicht. Ich tat so etwas nicht.
Aber da waren diese Träume, die mich nicht losließen, die Träume vom See und vom dunklen Eis und vom kalten Wasser. Die Träume von einem lachenden David. Die Sehnsucht nach ... manchmal wusste ich gar nicht, nach wem. Es durfte nicht Sebastian sein und David war tot, und nach wem konnte ich mich sonst sehnen?
Ich brauchte die Antworten.
Wenn Jakob jetzt ins Zimmer platzte, wäre unsere Freundschaft vorbei. Das wusste ich.
Trotzdem fasste ich einen Entschluss. Ich gab das Passwort ein: Alisa11.
»Schlechte Idee«, murmelte ich vor mich hin. »Schlechte Idee, sehr schlechte Idee.«
Da waren seine Kontakte. David. Da war es. Ich überflog die Dialoge, hastig, von meinem schlechten Gewissen geplagt. Sinnloses Jungsgequatsche. Mein Name fiel kein einziges Mal. Doch, hier. Ihr letztes Gespräch.
Das war der Abend, nachdem David und ich uns auf dem Mädchenklo geküsst hatten. Der Abend, an dem ich nichtsahnend mit Paps ferngesehen hatte, während gerade die Welt unterging.
J: Geiles Video.
D: Was für ein Video???
J: Hier ist der Link. Noch Fragen?
D: (ein paar Minuten später) Ich bring dich um.
J: Warum? Wolltest du dich nicht sowieso outen?
Damit endete der Dialog auch schon. David hatte sich ausgeklinkt, er war ehrlich sauer. Das war der Beweis, dass er nicht gelogen hatte. Er hatte nicht gewusst, dass wir gefilmt wurden.
Was gab es noch? Geheimnisse machen süchtig. Ich ging an die Tür und horchte. Kein Jakob.
Ich hatte immer noch freie Bahn. Und immer noch ein schlechtes Gewissen. Besser, ich machte Schluss. Sonst würde ich Jakob nie wieder in die Augen schauen können.
Da fiel mein Blick auf einen seiner Kontakte. Das dazugehörige Profilbild war verschwommen, kaum mehr als ein verwischter dunkler Fleck.
KillingColin nannte sich die Person – seltsamer Name. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
J: Worüber wir neulich gesprochen haben – vergiss es.
KC: Willst du immer nur träumen? Ich kann dir liefern, was du willst. Niemand kennt sie so gut wie ich.
J: Das ist abartig. Sie soll sich freiwillig für mich entscheiden.
KC: Warum sollte sie? Der süße David ist ihr Ein und Alles. Aber sie verzeiht nie. Schreib dir das hinter die Ohren: Alisa VERZEIHT NIE. Wenn er einen Fehler macht, ist er weg vom Fenster.
J: Er wird keine andere küssen. Nie im Leben.
KC: Oh doch. Er ist in eine andere verknallt. Schon lange.
J: Woher willst du das denn wissen?
KC: Ich weiß es eben. Wenn es nicht klappt, bezahlst du mich halt nicht. Was hast du zu verlieren?
J: Wenn Alisa das rauskriegt ...
KC: Warum sollte sie? Du musst bloß den Mund halten. Überrede David zu dem Kuss. Sie serviert ihn ab, und der Weg ist frei. Du kriegst sie schon rum, keine Sorge. Gib’s zu, der Plan ist sein Geld wert.
J: Wenn David wirklich in eine andere verliebt ist, warum ist er dann mit Alisa zusammen?
KC: Warum sitzt ständig so eine blöde Tussi bei dir im Porsche, wenn du auf Alisa stehst?
J: Okay, ich mach’s.
KC: Zahltag. Rück die Scheine rüber.
Der ominöse Colin hatte also kassiert. Für diesen genialen Plan, den er ausgeheckt hatte, um Alisa mit Jakob zu verkuppeln. Dann hatte er vielleicht auch das Video gedreht?
Meine Hände zitterten so, dass ich kaum das Programm schließen konnte.
Wer mochte KillingColin sein? Wer kannte Alisa so viel besser als Jakob, obwohl dieser zu ihrer Clique gehörte, und wusste von Davids geheimer Schwärmerei?
Doch Colin wusste nicht alles. Es klang, als wäre David in ein anderes Mädchen verliebt gewesen, aber stattdessen hatte er mich geküsst.
Colin. Ich grübelte, warum mir dieser Name so bekannt vorkam. Ich kannte keinen Colin, garantiert nicht. Aber warum war mir dann, als hätte ich es wissen müssen?
Nein, mich in dieses Rätsel zu verbeißen brachte nichts. Wichtiger war doch: David war schon seit vier Jahren mit Alisa zusammen. Warum? Warum hatte er ihr nicht längst die Wahrheit gesagt und Schluss gemacht?
Die Frage war eigentlich nicht so schwer zu beantworten. Wegen Alisas Krankheit natürlich. Alle nahmen Rücksicht auf sie. Und weil er zu feige war. Das wahrscheinlich auch. Aber wer war ich, darüber zu urteilen?
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich fluchte über die Hoffnung, die in mir aufstieg: dass ich es war, den David wirklich mochte. Hatte er mich heimlich in der Schule beobachtet? War er rot geworden, wenn ich vorbeigegangen war?
Leider konnte ich mich nicht daran erinnern. Ich dachte an unseren Kuss im Schnee.
An seine Worte über seine Beziehung zu Alisa.
An den Jubelschrei und den Sprung, die Fäuste in die Luft gereckt, ein Bild der Freude. Und dann hatte David sich umgebracht? Wegen Alisa, die er schon lange nicht mehr liebte, die er vielleicht nie geliebt hatte? Wie hatte Jakob das überhaupt glauben können?
Aber vielleicht hatte er es auch nie geglaubt – und war deshalb so bereitwillig in die Suche mit eingestiegen. Nur sagen durfte er nichts, damit sein übles Spiel nicht aufflog.
Vielleicht hatte er gehofft, dass David wieder auftauchte.
Und vielleicht hatte er gedacht: Bitte nicht.
Das Dumme an der ganzen Geschichte und meiner heimlichen Schnüffelei war, dass ich Jakob nicht einfach fragen konnte, wer sich hinter dem Namen KillingColin versteckte. Aber ich musste es wissen. Musste unbedingt wissen, in wen David verliebt war. War ich es? Oder hatte er nur ein bisschen herumexperimentieren wollen?
Dann überkam mich plötzlich eine unwirkliche Ruhe. Es war überhaupt nicht wichtig, wen er liebte oder warum er mich geküsst hatte. Meine eigenen Gefühle musste ich hintenanstellen. Wichtig war bloß, dass David keine tiefen Gefühle für Alisa empfunden hatte.
Und das bedeutete, dass er sich nicht umgebracht hatte, weil sie Schluss gemacht hatte. Das war völlig absurd. Ich wusste zwar immer noch nicht, was passiert war, aber so viel stand fest. Ein Unfall schied ebenfalls aus. Dann hätte er sich nicht die Mühe gemacht, einen Abschiedsbrief zu schreiben.
Dass ihn jemand spontan in den See geschubst hatte, konnte auch nicht sein. Wenn er im Wäldchen ein paar Drogendealer erwischt hatte, hätten sie ihn vielleicht zusammengeschlagen, aber ihn erst einen Brief schreiben lassen? Unsinn.
An diesem Abend musste etwas geschehen sein, das ihn dazu gezwungen hatte, sich zu verstecken. Und weil er nicht wollte, dass ich ihm nachspionierte, hatte er mich erschreckt.
Mein Herz protestierte. Der David, den ich geküsst hatte, würde keine kleinen Singvögel töten, nur um mich davon abzuhalten, ihn zu suchen. Der David, dessen kleiner Bruder mit löchrigen Strümpfen durch die Wohnung tobte, würde keinen Mitschüler in einer dunklen Gasse betäuben.
Ich dachte an Paps im Krankenhaus. Das traute ich David ebenfalls nicht zu. Aber wenn er mich hatte warnen wollen? Vor jemandem, der draußen herumschlich und die wirklich bösen Dinge tat? Vor jemandem, der gefährlich war?
Es gab so vieles, was ich nicht begriff, was einfach nicht zusammenpasste. Doch ich raffte meinen ganzen Mut auf und ging nach unten, wo Andrea Perlander in der Küche herumfuhrwerkte und Käse rieb.
»Schon fertig, mein Lieber?«, fragte sie.
Ich dachte an Paps’ Vermutungen. An mitfühlende Hände. An das versteinerte Gesicht eines Autohändlers.
»Ist David entführt worden?«
»Was?« Sie starrte mich an. Ihre Hände wurden langsamer, rieben mechanisch weiter. Ein Blutstropfen rann über ihre Finger. »Wie ... wie kommst du denn darauf?«
Auf einmal kam mir ein Gedanke. Ein Gefühl, nein, eine Ahnung. Warum sie so unendlich, beinahe unerträglich nett zu mir war. Das war nicht einfach Fürsorge für einen Kumpel ihres Sohnes, der gerade eine schwere Zeit durchmachte. Das war schlicht und einfach ein schlechtes Gewissen.
»Darüber haben Sie gesprochen«, sagte ich. »In der Fürstenresidenz. Sie und die Konrads und die Gerolds. Darüber, dass David entführt worden ist.«
Andrea wurde weiß wie die Wand. Die Reibe glitt ihr aus den blutenden Händen. »Nicht«, stammelte sie. »Nicht. Bitte nicht!«
Manchmal, hatte meine Mutter gesagt, ist der Journalist Beichtvater und Seelsorger. Wahrheiten sind wie Geschwüre. Sie tun weh, sie können ein Leben vergiften und einen Körper krankmachen. Manchmal muss der Journalist Chirurg und Therapeut sein, er oder sie muss helfen, das eiternde Geschwür aufzuschneiden.
Ich hielt die Tischkante mit beiden Händen umklammert, während ich mit meinen Worten das Messer ansetzte. »Hat der Entführer auch Jakob bedroht? Fragen Sie deshalb ständig, wo er hinwill?«
Sie schluckte, Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. »Du darfst niemandem etwas erzählen! Er macht seine Drohungen wahr.«
»Er?«
»Ich weiß doch nichts!« Sie schluchzte unvermittelt los. »Herbert hat einen Brief bekommen, darin steht, dass David lebt. Dass sein Onkel zahlen soll – zweihunderttausend Euro, je hunderttausend für David und Lennart! Und wir auch. Hunderttausend für Jakob, und dasselbe noch für Alisa und für Sebastian, insgesamt eine halbe Million. Und wenn wir zur Polizei gehen, wird er sich ein Kind nach dem anderen vornehmen. Er hatte Fotos! Er wusste Details. Er kann zugreifen, wann immer es ihm beliebt.«
Meine Knie wollten unter mir nachgeben. »Und ihr habt nichts gesagt? Nichts unternommen?«
»Er hat David! Was soll denn noch alles geschehen? Wir haben drüber gesprochen. Ludmilla will unbedingt die Polizei einschalten, aber jeder weiß doch, wie schnell das schiefgehen kann. Nein, wir haben beschlossen, zu schweigen. Eine halbe Million ist viel Geld, aber es ist irgendwie machbar.«
Wo war die Schuld, die sie mir gegenüber fühlte? Was hatte das mit mir zu tun? Ich hatte keine reichen Verwandten, nur einen Vater im Krankenhaus.
»Mein Vater wollte mit dem Kellner der Fürstenresidenz reden«, sagte ich.
»Ja«, flüsterte sie. »Jakob hat mir alles erzählt. Von den Fotos. Von deinem Vater, dass er Journalist ist. Dass er früher für die richtig großen Agenturen gearbeitet hat. Dass er gut ist.«
Oh Gott. Das hatte ich ihm gesagt.
»Sie haben den Entführer darüber informiert? Dass ihm jemand auf der Spur ist?«
»Ja!« Andrea schrie fast. »Das haben wir. Damit er nicht denkt, wir hätten die Polizei oder die Zeitung eingeschaltet. Um ihm zu versichern, dass wir nichts damit zu tun haben!«
Ich starrte sie an. Beinahe war mir, als würde die Luft flimmern, als würde die Realität kippen.
»Als ich mit Jakob gesprochen hatte, hab ich natürlich sofort Herbert angerufen. Ich hatte solche Angst, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Angst. Und Herbert hat Kontakt aufgenommen.«
»Wie?«
»Das weiß ich nicht! Er wollte uns nicht mehr darüber sagen. Aber er hat ein paar Andeutungen gemacht. Es geht immer über Mittelsleute. Jemand, der ihm einen Brief bringt oder ein Lebenszeichen von David. Wir vermuten, dass es eine ganze Kette von solchen Mittelsmännern gibt, von denen jeder nur den Nächsten kennt.« Sie putzte sich die Nase. »Es ist hoffnungslos. Wir können den Entführer nicht zu fassen kriegen, nicht allein jedenfalls. Und bevor wir nicht ganz klar einen Weg sehen, wie man den Kerl schnappen könnte, werden wir die Polizei nicht einschalten. Wir werden nichts tun, was Davids Leben gefährden würde. Oder das Leben unserer eigenen Kinder.«
»Mein Vater liegt im Koma.« Mir war beinahe schwarz vor Augen, die Wut drohte mich zu überwältigen. »Weil Sie ihn verraten haben! Was, wenn er stirbt? Glauben Sie wirklich, der Typ wird David freilassen, seine einzige Versicherung?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Andrea. Sie senkte den Blick auf ihre zerschundenen Hände. »Es tut mir leid.«
»Ja«, sagte ich heftig. »Mir auch!«
Ich musste hier weg, oder ich würde ersticken.