27. Warum nur
Scarlett und Miko riefen mir etwas hinterher, aber ich blieb nicht stehen. Ich schnappte mir eins der vielen Fahrräder, das erste, das nicht abgeschlossen war, und radelte los.
Es schneite immer noch sacht. Die winzigen Flocken flogen mir ins Gesicht, machten mich halb blind. Ich schlingerte über die Straße, meine Hände krallten sich blau gefroren an den Lenker, aber ich spürte nichts.
Sebastian. Der immer wieder dabei gewesen war, wenn Alisas Clique sich bei den Gerolds zu Hause getroffen hatte. Der Nicoles Gefühle für David bemerkt hatte. Doch ganz gewiss nicht Davids Gefühle für Nicole – das hatte Sebastian frei erfunden. Sebastian war ein Lügner, war es schon immer gewesen. Wie hatte ich ihm nur in den vergangenen Wochen halbwegs vertrauen können? Ich war blind gewesen. Blind für seine Heimtücke und seine skrupellosen Spielchen. Hatte ich vergessen, was damals fast mit Alisa passiert wäre? Ihre verzweifelten Schreie, ihre Hände am Fensterbrett?
Ich beugte mich nach vorn und fuhr schneller. Autos brausten an mir vorbei, jemand hupte. Mir fiel auf, dass ich ohne Licht unterwegs war, aber das war mir gleich, ich würde jetzt nicht anhalten, um dann doch nur festzustellen, dass dieses klapprige Vehikel keine Beleuchtung besaß. Da war ja auch schon der Zugang ins Wäldchen.
Ich bog in die Straße ein, die zum Seehotel führte. Der festgefrorene Schneematsch knirschte unter den Reifen, wieder wäre ich fast gestürzt. Dann beugte sich die alte Kastanie über den Parkplatz. Jakobs Porsche stand zwischen mehreren anderen Fahrzeugen. Licht drang durch die Glastüren, die gerade aufschwangen, strömte über den Weg und die steinernen Hunde. Zwei Männer traten heraus, rote Pünktchen glühten auf, Gesprächsfetzen flogen hin und her.
Ich ließ das Rad fallen, drängte mich an ihnen vorbei ins Foyer. Die junge Frau an der Rezeption rief etwas, da stürmte ich schon die Treppe hoch, ignorierte das Schild, auf dem »Privat« stand. Alisas Zimmer ließ ich links liegen. Ich hörte ihr Lachen, Jakobs Lachen.
Am Ende des Flurs lag Sebastians Zimmer. Ohne anzuklopfen riss ich die Tür auf.
Sebastian lag auf dem Bett und hörte Musik. Als er mich sah, zupfte er sich die Kopfhörer aus den Ohren.
»Oh, Mondprinz. Welche Ehre.«
»Wo ist David?« Ich wusste nicht, ob ich flüsterte oder brüllte. Die Welt war ein Gemälde, dessen Farben verliefen. Doch im Zentrum, in der Mitte von allem, war die dunkle, scharf umrissene Gestalt Sebastians. Ich ging auf ihn los, auf das Einzige, das ich noch klar sehen konnte. Packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn. »Wo ist David?«
Meine Stimme war wie ein Heulen und Knurren zugleich. »Wo – ist – David?«
»Wooah, mal ganz langsam.« Er schob mich von sich weg und schwang die Beine aus dem Bett. Sobald er stand, war er viel größer und stärker als ich, aber ich würde mich nicht einschüchtern lassen.
Ich krallte die Hände in sein Shirt. »Sag es! Sag es endlich!«
Gegen meine Wut erklang Alisas Stimme hinter mir sanft, beinahe erschreckend ruhig. »Was ist denn hier los?«
Sebastian machte sich mit einem Ruck frei. »Keine Ahnung. Das wüsste ich auch gerne.«
»David lebt«, sagte ich. »Er wurde entführt. Du hast ihn entführt!«
Sebastian lachte hilflos. »Was?«
»Dann frag die Konrads. Frag die Perlanders. Verdammt, frag deine eigenen Eltern! Sie werden erpresst, von Davids Entführer, und das bist du!«
»Sebastian?«, fragte Alisa. Sie stand im Türrahmen, das Gesicht weiß vor Entsetzen, die Augen groß aufgerissen. Ihre Hände wanderten zu ihrem Kopf, sie presste sie auf die Schläfen. »Ist das wahr?«
»Nein, natürlich nicht! Luis ist jetzt vollkommen durchgedreht. Geh in dein Zimmer. Ich klär das hier. Das muss ein Missverständnis sein. Na los«, fauchte er, »geh in dein Zimmer.« Er schluckte hart, kämpfte sichtlich darum, sich zu beruhigen. »Geh, schließ die Augen, bevor du wieder einen Anfall kriegst. Bitte, Alisa, Aufregung ist nicht gut für dich. Leg dich hin. Soll ich jemanden rufen?«
Alisa, immer noch bleich wie die Wand, schüttelte den Kopf. Sie blickte von ihm zu mir, dann senkte sie den Kopf und verließ das Zimmer.
Sebastian stand da, die Fäuste geballt. Er schien vor unterdrückter Wut zu beben, die aufgesetzte Freundlichkeit war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Mit zwei, drei lautlosen Schritten war er an der Tür und lauschte.
»Was ...?«
Er hob abrupt die Hand, und ich verstummte.
Sebastian öffnete die Tür einen Spaltbreit, spähte hinaus und schloss sie dann wieder. »Sie ist weg«, flüsterte er.
»Was sollte das?«, fragte ich.
»Sie ist gefährlich«, sagte er. »Man muss mitspielen, sonst ... keine Ahnung, aber sie ist zu allem fähig.«
»Alisa
ist gefährlich?«
Er schnaubte und schüttelte den Kopf. »Du glaubst mir ja sowieso nicht. Am besten, du verziehst dich wieder. Geh nach Hause, Luis.«
Es berührte mich seltsam, wenn Sebastian mich beim Namen nannte und nicht Mondprinz zu mir sagte. Er schien erschüttert. Aber ich wusste, was für ein guter Schauspieler er war und dass
er genau wusste, welche Knöpfe man bei mir drücken musste, um mich zu manipulieren.
»Ich glaube dir kein Wort, da hast du recht. Du hast etwas mit Davids Verschwinden zu tun, gib es endlich zu!«
Sebastian setzte sich wieder aufs Bett.
»Ich kann erkennen, wenn du lügst«, sagte ich leise. »Ich konnte es früher nicht, aber ich habe dazugelernt. Sag es mir einfach, bitte.«
»Ich hasse dich.« Er vergrub das Gesicht in den Händen, als könnte er meinen Anblick nicht ertragen.
Ich atmete tief durch, bevor ich weitersprach. »Du weißt genau, dass das nicht nur Quatsch ist. Jemand hat David entführt, und derjenige weiß alles über uns. Du warst das, versuch gar nicht erst, es abzustreiten.«
Sebastian blickte wieder auf. »Du hast da was falsch verstanden, Mondprinz. Ganz falsch. Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst ... aber ja. David lebt. Doch nein, er wurde nicht entführt. Er hatte das nur alles so satt. Das Leben hier in dieser langweiligen Stadt, das öde Reihenhaus, Stress mit seiner Mutter ... während sein reicher Daddy es sich in einer Nobelvilla gut gehen lässt. Ursprünglich wollte er es nur Dr. Stendhal heimzahlen. Die Sache hat sich dann irgendwie ausgeweitet.«
»Was? Wovon sprichst du?«
»Mensch, bist du so blöd oder tust du nur so? David hat seinen Tod inszeniert, damit ihn niemand sucht, und den Erpresserbrief an seinen Onkel geschrieben. Er hatte keinen Bock mehr, der arme kleine Neffe zu sein, während Jakob einen Porsche fährt! Dabei ist sein Vater reich, sein Onkel ist reich, alle, nur er nicht! Und? Bist du nun zufrieden?«
»Aber«, stammelte ich, »aber ...«
Er blickte hoch, schaute mich direkt an, und es war kaum zu ertragen. Der Zorn in seinen dunklen Augen warf mich fast um.
»Aber was? Warum ich dann bei deiner kindischen Suchaktion mitgemacht habe, obwohl ich das wusste? Warum wohl, he?« Sein Blick bohrte sich in meinen. »Deinetwegen, Mondprinz. Weil ich gedacht habe, dass du mich vielleicht doch magst. Dass du die Vergangenheit endlich hinter dir lassen kannst. Dass du und ich ... Ich habe so darauf gehofft, wenn du nur eine Weile Zeit mit mir verbringst.«
»Du hast dich kein Stück geändert«, sagte ich kalt.
Sebastian schwieg.
»Ich fasse es nicht! Du erzählst mir, dass ihr das zusammen inszeniert habt, und ich soll wieder mit dir zusammenkommen? Mein Vater liegt halb tot im Krankenhaus! Erzähl mir nicht, dass das David war.«
»Ich habe keine Ahnung, wer das war! Und ich habe nichts inszeniert, ich habe damit absolut nichts zu tun! Ich hab mich gefreut, dass er Alisa verlassen hat, dass sie sich auch mal Sorgen macht um jemanden!«
»Es war deine Idee!«
»Ich wusste, dass David nicht glücklich war, dass er von ihr wegwollte. Ich wusste, dass sie Schluss machen muss! Ja, dass Jakob mit ihm wettet, war meine Idee, aber ich wollte die beiden nur auseinanderbringen, sonst nichts!«
»Du bist immer noch dasselbe Arschloch wie früher. Du kannst es nicht ertragen, wenn Alisa glücklich ist oder wenn sie irgendetwas bekommt und du nicht. Wie damals mit eurer Tante. Du warst so schrecklich eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit und die Geschenke, die sie gekriegt hat, dass du sie lieber tot sehen wolltest!«
»Nein«, sagte Sebastian.
»Nein? Oh doch. Ich war da. Ich habe euren Streit gehört, deine Drohungen. Ich habe ihre Schreie gehört. Wenn ich sie damals nicht zurück ins Zimmer gezogen hätte, wäre sie ein paar Stockwerke tief gestürzt!«
»Sie hat das bloß inszeniert. Wie alles andere auch.«
Ich schüttelte den Kopf. »Hörst du dich jemals selbst reden? Du ... ach, das hat ja doch keinen Zweck. Es war deine Idee, wenigstens streitest du das nicht ab. Du hättest bloß nicht erwartet, dass er mich küsst, was?«
»Nein«, sagte Sebastian leise. »Das habe ich nicht erwartet.«
»Und die Entführung? Das Loch im Eis?«
Er sah mich nicht an. »Damit habe ich nichts zu tun.«
»Woher weißt du dann das alles?«
»Von Jakob«, sagte er. »Jakob hat mit David geredet, bevor er verschwunden ist.«
Jakob wusste es also. Jakob, der Alisa für sich wollte, der ihren Kummer ausnutzte.
»Ich wollte nie, dass dir irgendetwas passiert!«, sagte Sebastian. »Ich wollte nie ... Es ist alles aus dem Ruder gelaufen, aber ich war nicht daran beteiligt. Kannst du mir einmal im Leben auch etwas glauben?«
»Wo ist David?«, fragte ich, denn das hatte er mir immer noch nicht erzählt. »Ich will mit ihm reden. Sofort. Und dann beendet ihr diese Geschichte. Und ihr zahlt das Geld zurück. Meine Güte, hast du eine Vorstellung davon, was eure Eltern durchmachen? Jakobs Mutter dreht völlig am Rad vor Angst. Und Davids Mutter? Das ist so grausam, ich fasse es nicht!« Er hatte sich nicht geändert, kein Stück.
»Ich glaube, sie weiß es. Sie hat noch ein Kind, um das sie sich kümmern muss, und kein Geld, und ich glaube nicht, dass David so gemein wäre, ihr nichts zu sagen. Ich fand ihn eigentlich immer ganz in Ordnung.« Er zögerte. »Und falls nicht, falls sie nicht eingeweiht ist, dann ist das wohl die Strafe dafür, dass sie jeden Kontakt zwischen ihm und seinem Vater unterbindet. Dass sie sich mit ihrer Familie überworfen hat und keine Hilfe annehmen will. Aus Stolz! Aus Stolz haust sie mit ihren Kindern in dieser Bruchbude.«
»Es ist eine ganz normale Wohnung«, sagte ich. »Und eine ganz normale Familie. Ich kann gut verstehen, dass sie lieber selbstständig sein will.«
»Ja, natürlich kannst du das. Du bist ja immer so verständnisvoll. Du durchschaust alles. Du weißt alles.«
Musste er so sarkastisch klingen? »Offenbar nicht«, musste ich zugeben. »Also ist David ...?«
Er gab ein Geräusch von sich, wie ich es noch nie gehört hatte, halb Schrei und halb Schluchzen. »David! Immer geht es nur um David!«
»Aber ...«
»Es war nur ein Kuss! Warum bist du bloß so besessen von ihm, nach einem einzigen Kuss? Du kennst ihn nicht mal richtig. Ich dachte, wenn wir zusammenarbeiten, erinnerst du dich wieder an ... an uns.«
Was sollte ich dazu sagen? Dass sein Gesicht mich in meine Träume verfolgte? Dass ich fast pausenlos an ihn dachte, dass er wie eine Droge war, von der ich nicht loskam? Bestimmt nicht.
»Aber es heißt immer nur David. Wo ist David, was ist mit David passiert, ach, der arme David. Ich halte es nicht mehr aus! Ein Kuss, was ist das gegen das, was wir hatten? Wir waren zusammen, Luis. Du warst der Erste, den ich je geküsst habe. Der Einzige, in den ich mich jemals verliebt habe. Was ist bloß schiefgegangen?«
»Das kann ich dir gerne sagen. Du hast Alisa fast umgebracht. Und wir waren auch gar nicht zusammen, nicht richtig. Wir haben uns nur ab und zu geküsst, und du hattest schreckliche Angst, jemand könnte etwas mitkriegen, du hast dich meinetwegen geschämt und ...«
»Nein. Nichts davon ist wahr. Ich habe mich nie für dich geschämt. Ich war bloß feige, wegen meiner Familie und meinen Freunden, doch jetzt ... jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich mutig genug.«
Noch bevor ich dazu etwas sagen konnte, rückte er plötzlich näher, und ehe ich reagieren konnte, saß er so dicht vor mir, dass ich seine Wärme spüren konnte, und da war eine Hand in meinem Nacken und eine andere an meiner Wange, und dann küsste er mich.
Wir waren beide älter. So viel war in der Zwischenzeit passiert, aber in diesem Moment war es genau wie damals – er und ich und dieses süße, unwiderstehliche Gefühl. Es war, als würde das Eis aufbrechen und das dunkle Wasser darunter hervorquellen – die Sehnsucht und diese dumme, gefährliche Liebe zu ihm, die niemals ganz verschwunden war. Es stimmte nicht, dass ich von David besessen war. Ich war von Sebastian besessen. Immer nur von ihm.
Es war immer bloß Sebastian gewesen.
Ein paar wundervolle Sekunden lang schwelgte ich in diesem Kuss, dann kam ich zur Besinnung und stieß ihn weg.
Ich sprang auf und eilte zur Tür und stürzte nach draußen, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Was war gerade passiert?
Ich musste hier weg. Sofort.