28. Die Nachricht
Auf der Treppe lief ich fast in jemanden hinein.
»Hey, pass doch auf. Oh, Luis. Du bist es.«
Alisa.
Ich konnte jetzt nicht mit ihr reden. Mit niemandem. Ich musste nach Hause.
»Warte, Luis. Ich muss dir etwas zeigen. Die Nachricht habe ich gerade bekommen.« Sie zeigte mir ihr Handy.
Triff mich am Seeufer.
Jetzt.
»Ich versteh das nicht«, sagte Alisa. »Von wem ist die? Da steht von Scarlett, aber warum sollte Scarlett mir so was schreiben, und wo hat sie überhaupt meine Nummer her?«
»Man hat ihr das Handy geklaut«, sagte ich. »Das ist nicht Scarlett.«
Alisas Augen wurden groß. »Das kann nicht sein«, flüsterte sie.
Mein Herz schlug nicht. Ich atmete nicht mehr. Ich stand nur da und konnte mich nicht rühren.
David lebte. Er lebte wirklich.
Und ich wusste nicht mehr, wer er war. Ich wusste gar nichts über diesen Jungen, den ich geküsst hatte.
Konnte er so niederträchtig sein, seine eigene Entführung zu inszenieren? Seinen Tod vorzutäuschen? Mit allen zu spielen, die ihn liebten?
Ich dachte an meine zerrissenen Finken, an das Blut auf dem Teppich. So wenig Blut. Sie waren so klein.
»Du solltest da nicht hingehen«, sagte ich. »Ich gehe.«
Eine Gestalt, die mich im Schnee verfolgte. Abdrücke seiner Chucks.
Was war in meinem Zimmer geschehen? Ein Wutanfall, weil er mir sagen wollte, dass ich aufhören sollte, Ärger zu machen?
Ich liebe dich,
hatte an meiner Wand gestanden.
Der Überfall in Potsdam. Hör auf, nach mir zu suchen ...
Oh David, dachte ich, David, was hast du getan? Wer bist du?
»Wenn es David ist ...«
»Nein«, sagte ich. »Ich kümmere mich darum. Ruf die Polizei.«
Vandalismus, hatte Herr Werner gesagt. David hat einen Gartenpavillon zerhackt. Er war vorbestraft.
Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Ich hatte es einfach verdrängt. Wenn er das alles inszeniert hatte – was war ihm noch zuzutrauen?
»Bist du sicher?«, fragte Alisa. »Vielleicht sollte ich lieber mitkommen. Es ist dunkel da draußen und das Ufer ist rutschig.«
»Ich möchte allein mit ihm reden.«
Hat dir der Kuss überhaupt etwas bedeutet?, wollte ich ihn fragen. Oder war auch das bloß gespielt? Was wolltest du damit erreichen – dass man dich für schwul hält und alle glauben, dass du damit nicht klargekommen bist und verwirrt warst und deshalb ins Wasser gegangen bist?
»Ich muss ihn ein paar Dinge fragen. Okay?«
»Okay«, sagte sie leise.
Das Licht aus den Hotelzimmern färbte die dünne Schneeschicht, die sich über den Garten gelegt hatte, golden. Durch das Küchenfenster drang Geklapper, der dröhnende Dunstabzug schaufelte Dampf und Gerüche nach draußen.
Ich nahm den Trampelpfad zum Ufer. Die weite Fläche des Sees schimmerte weiß. Schwarze Flecken, wo der Wind den Schnee weggeweht hatte, schufen ein unregelmäßiges Zebramuster. Hier war es still, bis auf das leise Läuten und
Klirren der Gräser und der überfrorenen Binsen. Über uns wisperten die Bäume. Gespenstisch schwarz ragten sie in den Himmel, aus dem immer noch Schnee rieselte.
Eine dunkle Gestalt stand am Ufer – groß gewachsen, breitschultrig, oder lag das an der Jacke?
»David?«
»Ich bin es«, sagte Jakob, und nun erkannte ich ihn auch.
»Was machst du denn hier?«
»Ich hab eine seltsame Nachricht bekommen«, sagte Jakob. »Halte mich für verrückt, aber ich dachte, sie wäre von David.«
»Er ist nicht da.« War ich erleichtert oder enttäuscht? Ich spürte ein seltsames dumpfes Brennen in der Brust, aber ob es Sehnsucht war oder Angst, hätte ich nicht sagen können.
Denk nicht an Sebastian, beschwor ich mich.
Er hatte mich belogen. Und David? Ich hatte gedacht, das kleine warme Leuchten in meiner Brust wäre Verliebtheit. Ich hatte gedacht, ich hätte vielleicht eine Chance bei ihm. Doch nun ... nun wusste ich gar nichts mehr.
»Du glaubst doch nicht, dass er riskiert, vom Hotel aus gesehen zu werden?«, fragte Jakob. »Er wird aus dem Wald kommen und über den See gehen.«
»Das ist Wahnsinn! Das Eis ist viel zu brüchig.«
»Ist es nicht.« Jakob wagte einen Schritt auf die Oberfläche, stampfte prüfend mit dem Fuß auf und ging weiter. »Es hält. Es hat lange genug gefroren in den letzten Wochen.«
Zögernd folgte ich ihm. Ich konnte den Anblick nicht vergessen: das dunkle Loch, Davids bunten Schal, die Absperrung, die zuckenden Lichter. Was würde ich ihm sagen, wenn ich ihn traf? Wie viel er mir bedeutet hatte? Und dass ich ihn nun hasste? Dass ich ihn nie wiedersehen wollte?
Mit tastenden Schritten arbeitete Jakob sich voran, Meter für Meter weiter weg vom Ufer.
Ein Knacken erklang.
Stocksteif blieb ich stehen. »Jakob, komm da weg! Es ist nicht sicher, lass uns zurückgehen.«
»Aber wir müssen ihn doch treffen«, sagte er. »Ich dachte, wenn wir ihm entgegengehen, zeigt er sich endlich. Er muss irgendwo dahinten im Wald sein, das ist seine Lieblingsstelle.«
Er zeigte ans jenseitige Ufer. Dort, wo David an jenem Abend gestanden und mich beobachtet hatte, während ich den Sonnenuntergang fotografierte. Es schien Jahre her zu sein.
»Warte mal, das kann doch nicht ...« Jakob kniete sich aufs Eis und wischte den Schnee mit beiden Händen beiseite. »Das ... oh nein!«
»Was?«, rief ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. »Was ist denn da?«
»David!«, schrie er. »Oh Gott, er ist eingebrochen, irgendwo auf dem Weg hierher, und das Wasser hat ihn unter dem Eis bis hierher getragen!«
Wild begann er auf das Eis einzuhämmern. Er schlug darauf ein, erst mit den Fäusten, dann trat er mit den Stiefeln zu. Wieder knackte es. Schwarze Finger glitten wie Schlangen über den weißen Schnee, färbten ihn dunkel.
»David!« Jakob legte sich flach aufs Eis, tauchte die Hände ins Wasser. »Hilf mir, Luis, schnell! Er gleitet weg, gleich ist er wieder unter dem Eis. Ich glaub, er lebt noch. Er lebt noch!«
Ich ließ mich auf die Knie fallen, auf den Bauch, robbte näher. Nein, dachte ich, oh nein, oh nein, nicht jetzt, erst war sein Tod vorgetäuscht und jetzt ist es echt, oh nein, das darf nicht wahr sein!
»Pack mich am Knöchel!«, schrie Jakob. »Halte mich fest!«
Ich griff nach seinem Bein, bekam es zu fassen.
Plötzlich schwang er herum, schleuderte mich von sich weg und ich rutschte über Eis, ich schlitterte auf dem Bauch weiter, ich ließ los, und dann knirschte das Eis weiter, Splitter bohrten
sich in meinen Oberschenkel, und dann nur noch Wasser und Kälte, Eiseskälte, als ich versank.
Zuerst war der Schmerz unglaublich. Es war wie gleißendes Feuer. Und dann tauchte ich wieder hoch, über mir war der Himmel, aus dem immer noch Flocken fielen, und ich konnte das Hotel sehen, die gelben Rechtecke. Davor hockte eine dunkle Gestalt. Verzweifelt versuchte ich, nach der Kante des Eises zu fassen, während das Gewicht meiner Kleider an mir zerrte.
»Hilf mir!« Ich wollte schreien, um Hilfe rufen, aber meine tauben Lippen brachten kaum ein Stammeln heraus. »Hilf mir!«
Jakob zog sich auf die Knie. Eis knirschte, Eis brach. Er wischte sich über die Augen.
»Luis, du Idiot! Warum? Warum musstest du alles verderben? Warum sprichst du immerzu von David? Warum lässt du nie locker? Warum kannst du es nicht einfach mal gut sein lassen?« Ich öffnete den Mund, um zu schreien, und schluckte Wasser. Es war wie brennende Säure. Meine Beine wurden schwer, ich spürte sie nicht mehr. Aber ich kämpfte immer noch. Meine Fingernägel brachen ab, während ich mich am Eis festkrallte, das unter mir wegsplitterte.
Die dunkle Gestalt richtete sich auf, war nur eine Silhouette gegen das Licht. »Alles ist so kompliziert geworden. Du hast alles verdorben! Wirklich, ich wünschte, ich müsste das nicht tun.«
Dann war er fort.
Ließ mich allein.
Ich fand meine Stimme wieder. »Hilfe! Hilfe!«
Aber niemand war da. Im Wintergarten saßen die Hotelgäste vor gefüllten Tellern, vielleicht tranken sie heißen Glühwein, sie redeten und lachten. Das Licht spiegelte sich in den großen
Scheiben, machte sie blind. Sie konnten das Ufer nicht sehen, und sie konnten meine Schreie nicht hören.
»Alisa!« Ihr Zimmer hoch über dem Wintergarten. Ein helles Viereck. »Alisa! Hilf mir! Ich bin im See!«
Der Wind frischte auf, wirbelte mir Schneeflocken ins Gesicht, tanzte um meine Haare, wehte meine Stimme davon. Alles wehte davon. Ich verlor den Halt, versuchte zu schwimmen, doch meine Beine ließen sich nicht bewegen.
Ich hätte Angst haben sollen, doch seltsamerweise kümmerte es mich nicht. Der Himmel wurde noch dunkler.
Ich träumte mich davon. Es war so verlockend, aufzugeben.
Schau auf die Sterne, hatte meine Mutter gesagt. Sie klebte die Leuchtsterne an meine Zimmerdecke, sie schuf einen Himmel für mich. Mond und Sterne, Luis-Lu. Wenn kein Himmel da war, konnte man sich einen schaffen. Welchem Stern willst du folgen?
Ich sah das Licht vor mir. Die Fenster, den hell erleuchteten Wintergarten.
»Hilfe!«, krächzte ich. »Hilfe!«
Keine Antwort.
Diesmal versuchte ich es anders. Es war meine letzte Chance; gleich würde ich mich gar nicht mehr bewegen können. Behutsam schob ich die Ellbogen auf das Eis und zog mein Gewicht hoch. Es krachte unter mir, ich fiel mit dem Gesicht voran in Eissplitter und Wasser. Aber nun war ich ein kleines bisschen näher am Ufer.
Noch einmal. Ich stemmte mich hoch, das Eis zerbrach, doch ich hatte damit gerechnet. Noch einmal. Während ich mich im Schneckentempo vorarbeitete, wurde mein Körper immer gefühlloser. Meine Gedanken wollten davondriften. Es wäre so einfach gewesen, loszulassen, in der Finsternis davonzuschweben. David war nicht gekommen, alles war eine
Lüge, und mein Vater lag im Sterben. Ich konnte ihm einfach folgen.
»Nein«, flüsterte ich. Versuchte zu schreien, all meine Kraft zusammenzuraffen. »Nein!«
Noch einmal. Die Ellbogen auf das Eis.
Es hielt.
Stück für Stück zog ich mich höher, darum bemüht, mein Gewicht gleichmäßig zu verteilen. Beweg das Knie, befahl ich mir. Na los, beweg es.
Es schien unmöglich. Da war nichts, was ich hätte bewegen können, ich konnte meinen Körper nicht fühlen. Es war, als hätte mir ein Hai die Beine abgefressen, das dunkle Wasser oder ein Hai oder die Kälte.
Beweg dein Knie, hoch damit, befahl ich mir. Wenn Paps aufwacht und du bist nicht da, dann ist er ganz allein. Darüber kommt er nie hinweg. Für ihn. Kämpfe für ihn!
Beweg dich!
Irgendwie schaffte ich es, das Knie hochzuziehen, mich hoch aufs Eis zu schieben. Wie bei einer Geburt glitt ich aus dem Wasser heraus.
Mein Körper brannte in tausend Höllenfeuern. Ich robbte die letzten Meter zum Ufer. Dann schlossen sich kräftige Finger um mein Handgelenk, und eine Gewalt, der ich nichts entgegenzusetzen hatte, riss mich hoch.
Alisa umarmte mich. »Gott sei Dank. Was machst du bloß. Oh Gott, Luis! Du wärst beinahe ertrunken!«
Meine Zähne klapperten so, dass ich nicht antworten konnte.
»Geht es dir gut? Alles in Ordnung? Ich hab mir Sorgen gemacht und aus dem Fenster geschaut, und da habe ich was gesehen, eine Bewegung im Eis, und bin sofort losgerannt.«
Ich schlotterte so stark, dass ich fast umfiel.
»Komm rein, schnell«, sagte Alisa. »Du musst ins Warme und die Sachen ausziehen.« Sie legte mir den Arm um die Schulter.
Halb führte, halb schleppte sie mich. Wie durch ein Wunder gelang es mir, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
»Wo ... wo ist Jakob?«, fragte ich. »Jakob hat ... er hat ...«
»Nicht stehen bleiben, Luis. Komm ins Haus. Wir nehmen den Hintereingang, das ist kürzer. Hier lang. Warte kurz, ich hol dir eine Decke aus dem Schuppen. Eine Sekunde bloß.«
Ich zitterte, konnte nicht damit aufhören. Meine Zähne schlugen gegeneinander. Der Wind pfiff durch das Schilf. Es raschelte und klirrte und sang.
Wo war Jakob? War er noch hier? Würde er mich zurückschleppen und ins Eisloch werfen? Ich drehte mich um. Der See lag still da. Der Wind spielte mit den Gräsern. Die Flocken wehten schräg über die glatte Eisfläche.
Als mich jemand an den Schultern berührte, stieß ich einen schwachen Schrei aus.
»Ich bin’s doch nur.« Alisa legte mir eine Decke um die Schultern. »Komm, wir müssen dich unbedingt aufwärmen. Ich ruf gleich den Krankenwagen, aber mein Handy liegt noch oben. Komm.«
Sie führte mich durch den verschneiten Garten zum Hotel. Durch die Scheiben des Wintergartens sah ich das Kaminfeuer flackern. Kerzen glühten auf den Tischen. Die Gäste saßen wie schwarze Puppen auf ihren Stühlen. Es war, wie ich gedacht hatte: Sie konnten uns nicht sehen, geblendet vom Licht.
Die Hintertür war offen. Das Geklapper aus der Küche wurde laut. Vor uns gähnte die Treppe, die hinunter in den Keller führte. Alisa schob mich daran vorbei in den teppichbedeckten Gang, der zum Fahrstuhl führte.
»Bis der Arzt kommt, wärmen wir dich schon mal auf. Du kannst was von Sebastian anziehen, das ist kein Problem. Oh Mann, hörst du denn gar nicht mehr auf zu zittern? Was ist passiert? War David da, hast du ihn gesehen?«
»Jakob«, stammelte ich. »Jakob wollte mich umbringen.«
»Jakob? Ich glaube, du halluzinierst. Er würde dir nie etwas tun.«
Alisa lehnte den Kopf gegen die Wand des Lifts. Im kalten Licht der Neonlampe wirkte sie gespenstisch blass.
»Da sind wir.«
Die Tür öffnete sich zum Flur hin. Alisa blieb an meiner Seite, bis wir in ihrem Zimmer angelangt waren, und drehte sofort die Heizung hoch.
»Jetzt schnell runter mit den Kleidern. Ich helfe dir, ja? Oder soll ich Sebastian holen?«
»N...nein«, stammelte ich. »N...nicht Se...Sebastian.«
Da ich kaum einen Finger rühren konnte, ließ ich mir von ihr helfen. Sie streifte mir die nassen, kalten Klamotten vom Leib und half mir in einen weichen Pullover und eine Jogginghose. Ich zitterte immer noch.
Alisa schlug die Bettdecke hoch. »Komm, hier rein.« Hastig häufte sie Mengen an Kissen und Decken auf mich. »Ich sag meiner Mutter, dass sie den Krankenwagen rufen soll, und hol dir einen Tee. Das ist wichtig, man soll was Warmes trinken. Keinen Alkohol. Nur was Warmes. Ich hab mich ein bisschen schlaugemacht, was Eisunglücke angeht. Als das mit David passiert ist, hab ich alles darüber gelesen, was ich finden konnte. Weil ich verstehen musste, was er gelitten hat, weißt du. Ich bin gleich wieder da.«
Ich lag in ihrem Bett und starrte auf die Fotos.
Alisa und David. David und Alisa. Ihr glückliches Lächeln, sein ernstes. Seine blauen Augen waren wie kleine Seen, wie Stücke vom Himmel.
David hatte mir keine Nachricht geschrieben. Das war Jakob gewesen.
Hieß das, David war tot? Sie hatten alle gelogen.
Jakob hatte gelogen. Sebastian hatte gelogen.
Die Entführung – nichts als eine einzige große Lüge, um abzukassieren. Was hatte David in den Tod getrieben? Der Kummer wegen Alisa? Weil er meinetwegen so verwirrt war, weil er nicht mehr wusste, was er denken sollte? Weil er depressiv war? Oder hatte Jakob ihn dazu getrieben, damit er freie Bahn bei Alisa hatte?
Ich musste jemanden anrufen, am besten Herrn Werner. Er musste erfahren, wie gefährlich Jakob war. Sofort. Bevor er noch mal versuchte, mich umzubringen.
Um aus dem Bett zu steigen, musste ich meine ganze Willenskraft aufbringen. Die Decken um mich gewickelt, wankte ich an den Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Ich sah mich selbst in der Scheibe gespiegelt, mit wirren, nassen Haaren, bleich und furchterregend anzuschauen.
Ich sackte auf dem Stuhl zusammen. Ich brauchte ein Telefon. Polizei. Das war genauso wichtig wie ein Krankenwagen. Sollten sie nicht längst unterwegs sein?
Mein Handy war mit in den See gefallen, hoffentlich hatte Alisa ihres irgendwo hier liegen. Ich tastete mit klammen Fingern über den Schreibtisch. Vor mir lag ein Bilderrahmen, wahrscheinlich Alisas Lieblingsbild. Darauf hatte sie sich bei David untergehakt und strahlte in die Kamera. Sein Lächeln erreichte seine Augen nicht.
Er war depressiv, aber ich hatte es nicht erkannt, hatte die zerrüttete Seele, die so nah am Rand des Abgrunds wohnte, nicht gesehen. Ich hatte geglaubt, dass er Alisa nicht richtig lieben würde, aber das hatte er getan, so gut er es eben konnte. Und als sie Schluss gemacht hatte, hatte er auch Schluss gemacht.
Tränen in meinen Augen.
Oh David, David. Was würde ich dafür geben, wenn das alles nicht geschehen wäre.
Ich war so träge, dass alle meine Bewegungen wie in Zeitlupe abliefen. Verdammt, ich musste mich beeilen. Jakob dachte, ich wäre ertrunken. Er war weggegangen und hatte mich meinem Schicksal überlassen. Wenn er hier auftauchte, war ich verloren.
Und Sebastian? Er steckte mit Jakob unter einer Decke. Oder? Ich war zu erschöpft, zu durcheinander, um über Sebastian nachzudenken.
Beinahe hätte ich die Schublade nicht aufbekommen. Sie hakte, meine Finger wollten mir nicht gehorchen, doch ich ließ nicht locker. Mit einem Ruck kam sie mir entgegen, und da lag das Handy. Ich griff danach.
Darunter lag der Brief. Der Abschiedsbrief, ich erkannte es am Papier, an der Schrift.
Meine Augen wanderten über die Worte.
Moment mal.
Dieses Blatt war größer. Und da stand etwas ganz anderes.
Liebe Alisa,
du weißt, dass ich immer Rücksicht genommen habe. Auf dich und deine Krankheit. Auf die Wünsche deiner Eltern, auf meine Mutter. Ich habe die Zähne zusammengebissen und mitgemacht.
Aber damit ist es ab jetzt vorbei. Ich weiß, wer ich bin und was ich fühle, und ich werde nicht mehr auf mein eigenes Leben verzichten. Auch nicht für meine Familie. Und erst recht nicht für dich.
Ungläubig starrte ich auf die Zeilen. Daneben lag ein weiteres, zerknittertes Stück Papier, das genau an die Schnittkante passte.
Es ist vorbei.
Versuche nicht, mich umzustimmen.
Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr.
Das ist mein letztes Wort.
David
Das war der Brief, der vollständige Brief.
Es war nicht die Ankündigung eines Selbstmords. David hatte mit Alisa Schluss gemacht, um frei zu sein.
Für mich.
Mein Blick fiel auf das Handy in meiner Hand. Es war gar nicht Alisas Handy. Ich kannte dieses Telefon.
Es gehörte Scarlett.
»Oh, Luis«, sagte Alisa hinter mir. »Du solltest doch im Bett bleiben.«
Ich drehte mich zu ihr herum. Sie lehnte an der Tür, eine dampfende Tasse in den Händen. Sacht stellte sie sie auf dem Schränkchen neben der Tür ab.
»Was hast du gemacht?«, fragte ich. »Was hast du mit David gemacht?«