29. So schön und so wild
Alisa musterte mich mit einem spöttischen Lächeln. »Willst du nicht erst deinen Tee trinken?«
»Ich will wissen, was mit David passiert ist!«, krächzte ich. »Er hat sich nicht umgebracht, er wollte mit mir zusammen sein!« Meine Stimme wollte mir noch nicht so recht gehorchen.
Grazil durchschritt sie das Zimmer, nahm mir Scarletts Telefon aus der Hand und hob das Foto auf, das ich vorhin betrachtet hatte.
»Wir waren so ein schönes Paar«, murmelte sie versonnen. »Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man dem Tod ins Auge geblickt hat? Die Schmerzen, die Angst ... nein, das kannst du dir nicht vorstellen. Diese vielen Stunden im Krankenhaus, und du weißt nicht, ob du jemals wieder da rauskommst. Ich hab mir vorgenommen zu leben. Intensiv. Leidenschaftlich. Wie lange wird es dauern, bis der Krebs wiederkommt? Wie lange hab ich noch? Es darf keine Rolle spielen. Ich habe mich gegen die Angst entschieden. Für das Leben. Für das Jetzt. Mit allem, was dazugehört. Lieben und geliebt werden, fühlen, lachen, sein. Ich muss sein, wer ich bin, solange ich noch Zeit habe. Aber das verstehst du nicht. Du weißt nichts vom Tod. Dir ging es immer gut. Und wie hast du das genutzt? Gar nicht. Du jammerst nur darüber, dass deine Mutter abgehauen ist. Als wenn jemand, der stark ist, eine Mutter brauchen würde. Man muss stark sein, wenn man überleben will. Schön und stark und wild, und man muss sich nehmen, was man braucht.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sagte ich. »Was hat das mit David zu tun?«
»Er hat sich um mich gekümmert, als es mir nicht gut ging. Hat mir das Essen gebracht, mich aufgeheitert. Er war so unglaublich süß! Diese Augen! Dieses Lächeln! Ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Und ich hab es ihm gesagt. Wer
gerade eine schwere Hirnoperation und eine Chemo hinter sich hat, der wartet nicht, bis ihm das Glück in den Schoß fällt. Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn mochte. Ich hab ihn gefragt, ob er mein Freund sein will.«
Ich starrte sie an. Ja, sie war, wie sie sich selbst beschrieben hatte. Stark und schön und wild. Ihre Augen blitzten. Sie war das schönste Mädchen, das ich kannte.
»Er wollte nicht, kannst du dir das vorstellen? Er hat mir gesagt, dass er mich mochte, aber das war schon alles. Er war sich unsicher, was Mädchen betraf. Und ich sagte, das kriegen wir schon hin.«
»Wie wolltest du das denn hinkriegen, wenn er damals schon wusste, dass er schwul war?« Ich dachte an das, was in dem Brief stand. Für meine Familie.
»Du hast ihn gezwungen? Aber wie kann man denn ...?«
»Seine Mutter ist unsere Angestellte«, sagte sie. »Sie war bloß eine Küchenassistentin. Was glaubst du, wie sie sich gefreut hat, als sie zur Köchin befördert wurde! Meine Eltern waren erst skeptisch, aber sie haben es nicht bereut.«
»Deine Eltern haben dir deinen Freund ... gekauft?«
»Was heißt gekauft?« Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Sie meinten, es würde mir guttun, jemanden an meiner Seite zu haben. Es würde meinem Leben Stabilität verleihen. Und für David war es ebenfalls perfekt. Er war in der Schule viel besser angesehen, weil er mit mir zusammen war. Er hatte plötzlich Freunde, und als wir uns besser kennengelernt haben, war es so schön! Wir hatten Spaß miteinander. Es ging gar nicht mehr um die Stelle seiner Mutter. Er hat sich in mich verliebt.«
»Das hast du gehofft«, sagte ich leise. »Aber du warst dir nicht sicher. Du konntest dir nicht sicher sein. Also hast du dir einen Test ausgedacht, richtig? Du hast Sebastian losgeschickt,
damit er Nicole mit dem Gedanken impft, sie könnte bei David landen?«
»Nein, das habe ich erst von Jakob erfahren.«
»Du hättest es lieber nicht riskiert, oder? Dass David es ausprobiert. Du wusstest, du würdest ihn verlieren, wenn das passiert.«
»Ja«, fauchte sie. »Ich habe nicht erwartet, dass David wirklich einen Jungen küssen würde. Schon gar nicht so jemanden wie dich.« Alisa strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster. »Ich war so wütend, du kannst es dir nicht vorstellen. Ich dachte, wenn ich ihn so richtig demütige, kommt er zu mir zurückgekrochen. Aber er dachte nicht daran.« Hasserfüllt funkelte sie mich an. »Was wir alles miteinander erlebt haben ... und dann will er plötzlich nur noch dich. Dich! Was hast du ihm denn zu bieten, du mit deinem depressiven Vater und dem Loch, in dem ihr haust? Ich kann ihm eine Zukunft bieten. Der Club meiner Eltern hat Verbindungen. Er hätte einen Platz an einer der besten Unis bekommen, Jura zum Beispiel, inklusive einer Anstellung in einer renommierten Kanzlei. Nach der Schule hätten wir zusammen durchstarten können. Und was tut er? Er will unbedingt schwul sein. Er mochte mich, er wollte es bloß nicht zugeben.«
»Du warst das in der Toilette«, flüsterte ich. »Du hast uns gefilmt.«
»Ja, das war ich! Ihr wart so aufeinander fixiert, ihr habt nicht gemerkt, dass ich euch gefolgt bin.«
Ich starrte sie an.
»Ich wollte es nicht glauben, dass er es wirklich tun würde. Wie kannst du es wagen, meinen Freund zu küssen!« Und sie schlug mich mitten ins Gesicht.
Der Angriff kam so unerwartet, dass ich vom Stuhl flog. Mein ganzes Gesicht brannte. Ich schmeckte Blut im Mund. Mitsamt
meinen hundert Decken landete ich auf dem Fußboden, und sie stürzte sich auf mich.
»Ich hasse dich!«, kreischte sie. »Du hast mir David weggenommen! Aber er gehört mir. Er gehört mir!«
Sie schlug auf mich ein. Ich spürte es kaum, die Decken schützten mich, fesselten mich jedoch auch. Irgendwie schaffte ich es, meine Arme herauszuwinden und Alisa zurückzustoßen. Sie prallte gegen den Bürostuhl und fiel auf der anderen Seite zu Boden.
Ich rappelte mich auf und hechtete zur Tür. Aber ich war zu langsam.
»Du bleibst hier!« Sie riss mich wieder zurück.
Zusammen fielen wir auf den Teppich.
Ihre Hände waren überall, ihre Fingernägel scharf wie Klingen. Sie riss an meinen Haaren, kratzte mir durchs Gesicht, schlug mich, boxte mich in den Magen.
Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich vergaß zu frieren. Ich wehrte mich nach Kräften, versuchte Alisas Handgelenke zu fassen zu kriegen, sie abzuschütteln. Aber ich war durch mein Bad im Eiswasser geschwächt, und Alisa war wie eine tobende Furie.
Sie griff hinter sich und zog einen Schal vom Bett. Einen bunten, gestreiften Schal. Davids Schal.
Bevor ich wusste, wie mir geschah, wickelte sie ihn mir um den Hals.
Alisa beugte sich über mich, bis unsere Nasenspitzen sich fast berührten. »Das ist Davids Schal, ganz recht. Seine Mutter wollte ihn nicht haben, sie hat ihn mir gegeben. Alles, was ihm gehört, gehört auch mir.« Sie zog fest zu. »Er verdankt mir alles. Von seinem Fahrrad bis zu seiner Lederjacke! Dass er beliebt ist, dass er zu meiner Clique gehört. Dass Jakob sein Freund ist. Ohne mich ist er nur ein ganz normaler Junge, der in einem öden Reihenhaus wohnt.«
Ich rang nach Luft, versuchte, nach ihr zu greifen, nach dem Schal um meinen Hals, ihn zu lockern.
»Kannst du dich erinnern, wie er aussah, bevor er mein Freund geworden ist? Die Frisur? Die Klamotten? Er war ein Außenseiter, wie du und deine Loserfreunde. Ich hab ihn zu dem gemacht, der er ist.«
Sie zog wieder am Schal, zog die Schlinge enger zusammen.
Ich hustete, röchelte, vor meinen Augen verschwamm alles.
»Und was macht er? Er küsst dich! Ich hasse dich. Ich hasse dich!«
Und dann plötzlich lockerte sich der Druck um meinen Hals. Sie hockte immer noch auf mir, aber ihre Augen fingen an zu schielen, wanderten zur Seite. Sie keuchte auf, ihre Hand wanderte an ihre Schläfe.
»Oh Gott«, keuchte sie.
Dann kippte sie zur Seite weg und zuckte.
Und ich lag da und kämpfte gegen die Ohnmacht, die mich überrollen wollte. Kämpfte gegen den Schmerz.
Luft. Atmen. Nur Atmen.
Das Zimmer drehte sich um mich.
Irgendwann rappelte ich mich auf, wälzte mich auf die Knie.
Alisa lag vor mir. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Sie atmete schnell, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Ihre Augen starrten wie blind in die falsche Richtung.
»Hilf mir«, flüsterte sie. »Ruf den Notarzt.«
»Hast du den nicht längst gerufen?«, fragte ich. »Für mich?«
Sie lächelte schwach. Nein, natürlich hatte sie das nicht.
Ich stemmte die Hände auf den Teppich und sammelte meine Kraft. »Okay«, brachte ich heraus. »Wo ist das Telefon?«
Ich tastete nach Scarletts Handy, fasste in scharfe Kanten.
Der Bürostuhl hatte es unter sich zertrümmert. Da lagen nur noch Stücke.
»Ich geh Hilfe holen«, flüsterte ich.
Meine Stimme war weg. Jedes Wort tat so weh, dass mir die Tränen in die Augen stiegen.
»Nein!« Alisa tastete nach mir, klammerte sich an meinen Arm. »Nein, nimm mich mit. Lass mich nicht allein hier!«
Wie zwei Betrunkene stützten wir uns gegenseitig. Wir torkelten in den Flur. Niemand war da; hier im privaten Bereich hätten wir höchstens auf Sebastian stoßen können. Keiner der Hotelgäste oder Angestellten war in Rufweite. Mit ihrem ganzen Gewicht hing Alisa an mir.
Am Treppenabsatz erschien plötzlich ein dicker Mann mit einer bekleckerten Krawatte, der wohl auf dem Weg zu seinem Zimmer war.
»Was ist denn mit euch los?«, rief er sofort.
»Sie hat einen Anfall«, krächzte ich und ließ Alisa los, die ihm halb bewusstlos in die Arme fiel.
Dann ging alles ganz schnell.
Der Gast rief laut um Hilfe, und sofort rannten mehr Leute herbei. Alisas Vater erschien, beugte sich über sie, ohne mich zu beachten, und hob sie auf. Mit seiner Tochter im Arm eilte er die Treppe hinunter. »Ruft den Krankenwagen! Unverzüglich!«
Ich hörte die Aufregung unten im Foyer, die Schritte, die Stimme ihrer Mutter.
»Alisa! Mein Gott, tut doch was!«
Jemand weinte. »Wann kommt denn der Arzt!«
Schritt für Schritt schleppte ich mich die Stufen hinunter, bis ich endlich hinunter in die plüschige Halle gelangte. Ein Hirsch starrte mich aus kalten Glasaugen an. Ich war so benommen, dass ich eine Weile zurückstarrte.
Die Martinshörner näherten sich, ohrenbetäubendes Heulen.
Überall waren Menschen, sie bildeten eine Front vor den Glastüren. Alisa lag auf dem Samtsofa vor der Rezeption.
»Hier gibt es nichts zu sehen. Gehen Sie wieder in den Wintergarten.«
Die Frau von der Anmeldung versuchte, die Leute zu verscheuchen, aber alle redeten wild durcheinander, und von draußen zuckten bereits die blauen Lichter durch die Milchglasscheiben.
Und dann legte sich plötzlich eine Hand über meinen Mund.
»Hab dich«, flüsterte Jakob mir ins Ohr.