30. Das Fenster
»Du bist ja wirklich nicht totzukriegen«, sagte Jakob. »Versuchen wir es einfach noch mal.«
Ich wollte winken, rufen, aber meine Stimme war weg, und in der allgemeinen Aufregung achtete niemand auf uns, als Jakob mich in Richtung der Küche und der Wirtschaftsräume zerrte. Ich stolperte mit ihm mit, versuchte mich zu wehren, mich loszureißen, aber sein Griff war unerbittlich fest.
Er stieß mich vorwärts, halb zerrte, halb schleppte er mich über den Gang. Aus der Küche kam das unvermeidliche Geklapper, ich konnte Umrisse von Leuten erkennen, aber bevor ich auch nur ein Wimmern herausbrachte, stieß Jakob die Tür nach draußen auf. Die Lichter des Krankenwagens wirbelten über den Himmel, färbten den Schnee.
Jakob schlug den Pfad zum See ein. Ich wand mich und trat nach ihm, aber es war zwecklos. Er war so viel stärker als ich, und ich war immer noch halb gelähmt von meinem unfreiwilligen Bad im eiskalten Wasser. Da war schon das Ufer. Die Binsen waren zertrampelt, doch der leise fallende Schnee hatte sich wieder sacht darübergelegt.
Man sah noch die Stelle, wo ich eingebrochen war – ein gigantisches Loch im Eis, Dunkelheit mit einem gezackten Rand.
Jakob blieb stehen und strich mir eine Locke aus dem Gesicht. Meine Haare waren immer noch nass. »Du bist echt eine Nervensäge, Kleiner, weißt du das?«
»Warum?«, brachte ich heraus.
»Warum ich das tue? Typisch Luis. Gleich stirbst du, aber immer noch stellst du Fragen. Du willst wissen, warum ich Alisa geholfen habe, ihren irren Plan durchzuziehen? Ich liebe sie. Schon immer. Sie war so wütend auf David, und die Gelegenheit, ihren blöden Freund loszuwerden, konnte ich nicht
vorübergehen lassen. Außerdem hat er irgendwie Wind davon bekommen, wie ich mir etwas dazuverdiene, und er hatte ein Problem damit.«
Wovon sprach er? »Was?«
»Die Drogen natürlich«, sagte Jakob genervt. »Der Porsche bezahlt sich nicht von allein. Dass wir nebenbei meinen Eltern und Davids Onkel noch was aus dem Kreuz leiern konnten, kam uns da gerade recht. Noch Fragen?«
Er schubste mich so heftig, dass ich fiel.
»Jakob!« In diesem Augenblick tauchte eine zweite dunkle Gestalt am Anfang des Pfades auf. »Jakob? Was machst du da?« Und dann, erschrocken: »Luis?«
»Sebastian!«, rief Jakob, er klang geradezu vergnügt. »Du hast mir gerade noch gefehlt.«
Sebastians Blick wanderte zu mir. Jakob zögerte keine Sekunde, er packte Sebastian bei den Schultern und rammte ihm die Faust in den Magen. Während Sebastian mit einem erstickten Schrei zurücktaumelte, schlug er ihn mit aller Kraft ins Gesicht.
Nur ein paar Schritte zu viel. Sebastian ruderte mit den Armen, fiel aufs Eis, es brach, alles zerbrach. Er kämpfte, ich sah seinen Kopf aus dem Wasser ragen. Dann stand er wieder, während die Eisschicht um ihn herum krachte und splitterte. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust.
»Ich bring dich um!«, schrie er außer sich.
Wie ein wildgewordenes Nashorn stürmte Sebastian aus dem See. Eis brach, es schien um ihn herum zu explodieren, Wasserfontänen spritzten auf. Er stürzte sich auf Jakob, doch dieser empfing Sebastians Ansturm mit einer blitzschnellen Bewegung. Dann wankte Sebastian mit einem Schrei erneut rückwärts, und ich sprang vor und fing ihn auf, bevor er wieder ins Wasser fallen konnte. Er war schwer und nass und kalt, und ich stürzte mit ihm ins überfrorene Schilf, aber ich hielt ihn fest.
»Ach, Luis. Musst du dich schon wieder einmischen?« Jakob kam näher, dieses böse Lächeln im Gesicht, das ihn fremd aussehen ließ. Das war nicht der Freund, bei dem ich übernachtet hatte, der sich so nett um mich gekümmert hatte. Diesen Jakob kannte ich nicht.
»Nun, dann halt zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich werde sagen, ihr seid aufs Eis gegangen. Ihr seid eingebrochen. Ich habe alles versucht, aber ich konnte euch nicht retten. Ist das nicht traurig?«
Drohend kam er auf uns zu.
Sebastian regte sich schwach.
Behutsam legte ich ihn ins Ufergestrüpp. Mit klammen Fingern tastete ich ihn ab, griff in seine Hosentasche und fand das kleine Messer. Die Klinge schimmerte dunkel im goldenen Licht, das aus den Fenstern des Gerolds
fiel.
Und als Jakob auf uns zustürmte wie ein wildgewordener Stier, stach ich zu.
Der Schnee fiel leise. Der Wind hatte nachgelassen, und die Flocken kamen nun senkrecht von oben. Sie waren immer noch fein wie Nadelstiche.
Ungläubig starrte Jakob auf den Messergriff, der in seinem Bauch steckte. Seine Hand wanderte dorthin. »Oh«, sagte er.
Ich wartete darauf, Blut über seine Finger strömen zu sehen. Ich rechnete damit, dass er auf die kalten, frostüberkrusteten Steine fiel, dass er sich vor Schmerz krümmte.
»Oh Gott, das wollte ich nicht! Jakob. Jakob? Du brauchst einen Arzt!«
Doch er lachte nur. »Du greifst mich an, du Loser? Du willst mich abstechen? Was glaubst du, wer du bist?« Er grinste und zog das Messer aus seinem Bauch – nein, aus seiner dicken Jacke. Es war kein einziger Topfen Blut daran. Scheiße.
Ein Teil von mir war erleichtert, aber dieses Gefühl verwandelte sich rasch in Entsetzen, als Jakob auf mich zukam.
Mord im Blick.
Sebastian schaffte es irgendwie, aufzustehen. »Lass ihn!«
Ich wollte schreien, als Jakob Sebastian mit beiden Händen vor die Brust stieß. Ihn zurück in den See schubste. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht.
Es klatschte laut, als Sebastian fiel. Schwarze Tropfen schraubten sich in die Höhe, noch mehr Eis zerbrach. Das Wasser brodelte.
Ich brachte keinen Laut heraus. Bei allem, was geschah, konnte ich nicht schreien, nicht um Hilfe rufen, Sebastian nicht zu Hilfe eilen.
Vor mir glättete sich die Wasseroberfläche, und die dunkle Stelle zwischen dem weißen Eis war schwarz und vollkommen. Kleine Lichtfunken tanzten darin.
Jakob drehte sich zu mir um. »Und jetzt zu dir.«
Da konnte ich mich auf einmal doch wieder bewegen. Ich rannte los, aber schon war er hinter mir und packte mich an dem Pullover, den Alisa mir vorhin angezogen hatte. Die Angst verlieh mir ungeahnte Kräfte. Ich heulte auf, riss mich los und hastete weiter. Ich versuchte zu schreien, aber ich hatte immer noch keine Stimme. Da, der Wintergarten, ich hämmerte gegen die Scheiben – aber niemand saß an den Tischen, die Stühle waren zurückgeschoben, auf den Tellern häuften sich die Speisen. Nicht ein einziges Paar schaute sich über blutroten Weingläsern in die Augen.
Da riss Jakob mich wieder zurück und schleuderte mich zu Boden.
Hinter dem Hotel fuhr der Krankenwagen mit heulenden Sirenen los.
Jakob schaute irritiert hoch, und ich nutzte die Sekunde, sprang auf und hechtete durch den Garten zum hinteren Eingang.
Menschen. Ich musste unter Menschen. Alle waren vorne, doch dorthin konnte ich nicht, dafür hätte ich an Jakob vorbeikommen müssen. Also nach hinten. In der Küche war noch Personal, Davids Mutter würde mir helfen.
Irgendwie entwickelte ich eine erstaunliche Geschwindigkeit. Jakob fluchte, während er mir nachsetzte.
Ich rannte über die rutschige, verschneite Wiese. Kälte und Nasse machten meine Füße taub, aber wenigstens rutschte ich nicht aus. Ich sprang ein paar Steinstufen hoch, zur Tür, neben der die Essensgerüche aus der Wand quollen.
Die Küche, endlich! Ich wollte gerade hineinrennen, als Jakob mich an der Schulter packte und herumschleuderte. Ich stürzte einer dunklen Öffnung entgegen, in der ich im letzten Moment die Kellertreppe erkannte.
Wild mit den Armen rudernd suchte ich nach Halt, meine Knöchel schrammten über die Wand, ich rutschte weiter und kam so hart auf, dass der Schmerz mir durch alle Knochen fuhr. Stöhnend wälzte ich mich herum, doch schon war Jakob neben mir.
»Wie viele Leben hast du eigentlich?«
Das Messer schnappte auf. Sebastians Messer, oh verflucht! Ich konnte es hier im Dunkeln nicht sehen, hörte nur das leise Klicken.
»Nein«, sagte er dann leise. »Man soll das Schicksal nicht herausfordern. Inszenieren wir doch lieber einen weiteren kleinen ... Selbstmord.« Er zog mich hoch, und ich heulte auf, als er versuchte, mich hinzustellen. Mein Bein. Irgendwas war mit meinem Bein.
»Nicht weinen, Kleiner. Ich helfe dir ja.«
Er packte mich am Kragen und zerrte mich die Treppe hinauf. Ich versuchte mich zu wehren, griff nach dem Handlauf, um mich festzuhalten, und prallte mit dem Fuß gegen die Wand.
Der Schmerz war so groß, dass er wie eine Woge über mir zusammenschlug und mich unter sich begrub.
Mit aller Kraft kämpfte ich dagegen an, in Ohnmacht zu fallen. Benommen bekam ich mit, wie Jakob mich in Alisas Zimmer schleppte und mich aufs Bett warf, als wäre ich nichts als eine Puppe. Dann öffnete er das Fenster. Ein kalter Wind wehte mir ins Gesicht. Jakob fegte alles weg, was auf dem Schreibtisch lag, und wandte sich wieder zu mir um.
»Du bist mit der Schuld nicht fertiggeworden. Damit, dass du für Davids Tod verantwortlich bist. Und jetzt auch für Alisas Anfall, nachdem du dich mit ihr gestritten hast. Wer kann mit so viel Tod und Scheitern fertigwerden? Du jedenfalls nicht, Luis. Du warst schon immer ein Sensibelchen.«
Er trat neben das Bett und blickte auf mich hinunter. »Bist du bereit?«
Dann war alles nur noch Schlagen und Treten und Kratzen, und seine grausam harten Hände, mit denen er mich vom Bett, durchs halbe Zimmer und zum Fenster schleifte. Ich sträubte mich mit allem, was ich an Kraft und Energie aufbringen konnte, aber es nützte nichts. Als ich mit dem Fuß gegen die Schreibtischkante stieß, wäre ich beinahe wieder ohnmächtig geworden. Wenn das geschah, war ich tot. Jakob zerrte mich auf den Tisch, um mich von dort über die Fensterbank zu stoßen. Ein paar Meter unter mir befand sich der Wintergarten, Licht und Wärme und die Menschen, die dorthin zurückkehrten und sich ihrem längst abgekühlten Essen widmeten, nachdem Alisas dramatischer Zustand sie aufgeschreckt hatte. Niemand blickte nach oben.
Ich krallte mich am Sims fest, am Fensterrahmen, an Jakobs Arm. Immer noch konnte ich nicht schreien, ich ächzte und wimmerte, und ich kämpfte.
Ich konnte nicht aufgeben. Ich konnte mich nicht fallen lassen. So wie ich im See darum gekämpft hatte, an der Oberfläche zu bleiben, so konnte ich auch jetzt nicht aufhören, mich zu wehren.
»Lass los!«, zischte Jakob wütend.
Meine Füße suchten Halt. Fanden einen winzigen Absatz vor dem nächsten Stockwerk.
Er zog das Messer, ließ die Klinge aufspringen.
Meine Wut und meine Angst wichen plötzlich einer übermenschlichen Ruhe.
Ein Absatz. Eine Lücke im Mauerwerk.
»D...du warst das vor unserem Haus«, stammelte ich. »Und das mit den Finken. Wie hast du das gemacht? Eine Perücke und Kontaktlinsen?«
Er schwieg. Also kein Schurkenmonolog, der mir Zeit verschafft hätte.
»Und mein Vater?«
»Was wird das hier? Die ganzen Antworten nützen dir eh nichts mehr.«
Ein Vorsprung unter meinen Zehen. Ich hing gar nicht am Sims, ich konnte mein Gewicht halten. Mit einem Fuß jedenfalls, der andere war so gut wie nutzlos.
Warum hatte Alisa geschrien, als sie damals hier gehangen hatte? Als ich sie wieder ins Zimmer gezogen und ihr das Leben gerettet hatte?
Sie war nie in Todesgefahr gewesen.
Ich hatte das nicht gewusst. Und Jakob wusste es ebenfalls nicht.
Er kniete vor mir auf dem Schreibtisch. Er hatte keinen Halt.
Das war wichtig.
Ich verlagerte mein Gewicht auf die wenigen Millimeter, die die Zehen meines rechten Fußes dort fanden. Ich hatte nur einen heilen Fuß, das musste reichen. Mit der rechten Hand klammerte ich mich an den Fensterrahmen.
Er wollte mit dem Messer in meine Hand stechen.
Damit hatte ich gerechnet. Als er sich vorbeugte, griff ich mit der Linken nach seiner Jacke. Und warf mich nach hinten.
Sebastian stürzte an mir vorbei, während ich zur Seite schwang, nur von ein paar Fingern und einem tauben Zeh gehalten.
Mit einem gellenden Schrei stürzte er dem Glasdach des Wintergartens entgegen. Ein Knall, ein ohrenbetäubendes Beben, und dann noch mehr Knirschen und noch mehr Schreie.
Ich konnte nicht nach unten sehen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich nun mit beiden Händen am Sims festzuklammern. Mein Fuß rutschte ab. Ich rutschte ab. Shit. Nicht jetzt, nicht ... oh.
Da waren da starke Hände.
Zogen mich ins Zimmer.
Eine Stimme redete auf mich ein. Eine beruhigende, tiefe Stimme.
»Also, das war knapp.«