31. Was die Krankenschwester sah
Eine kühle Hand lag auf meiner Stirn.
Ich blinzelte. Da waren Augen. Ein Gesicht. Jemand beugte sich über mich.
Warum tat mir nur der Hals so weh? Was war passiert?
»Schsch«, sagte der Jemand, der sich als Siegfried Werner entpuppte. »Nicht sprechen. Obwohl ich die Geschichte schon gerne erfahren würde. Ich weiß ja nur das, was deine Freunde mir erzählt haben.«
Meine Freunde?, formte ich mit den Lippen.
In meinem Kopf herrschte eine seltsame Leere.
»Paps?«
Ich versuchte mich aufzurichten, aber Werner drückte mich sanft zurück aufs Kissen.
»Er ist wieder aufgewacht, Luis. Gestern. Und deine Mutter ist unterwegs.«
Ich sah mich um. Ein Krankenhauszimmer? Wie lange lag ich schon hier?
»Du hast zwei Tage geschlafen«, sagte er, bevor ich fragen konnte. »Du warst total unterkühlt, und du hast dir den Fuß gebrochen.« Namen trudelten nach und nach ein.
Ein Gesicht über mir, ein Messer. Jakob.
Ein dunkelhaariger Junge, der ins schwarze Wasser stürzte. Ein Junge, der mich geküsst hatte. Sebastian.
Alisa, die neben mir zusammenbrach.
David.
Da war etwas. Etwas Wichtiges, ich musste nur drauf kommen.
»Herr Werner«, krächzte ich.
Etwas Wichtiges. Denk nach, Luis. Erinnere dich.
Da waren Details. Alisa. Etwas, das Alisa gesagt hatte.
Es war wichtig.
»Lass mich dich auf den neuesten Stand bringen. Dein Vater ist noch vor dir aufgewacht. Er hat den Jungen von der Zahnarztfamilie identifiziert – als denjenigen, der ihm bei einem Gläschen Bier etwas anvertrauen wollte; und als Nächstes wacht Steffen im Krankenhaus auf. Wir können wohl annehmen, dass Jakob Perlander deinen Vater unter Drogen gesetzt und ihn die Treppe hinuntergestoßen hat. Mit Sicherheit können wir das natürlich erst sagen, wenn er wieder vernehmungsfähig ist. Jakob hat sich beim Sturz durchs Glasdach schwere Verletzungen zugezogen, aber zum Glück keine lebensgefährlichen. Und deshalb wird er auch für den Mordversuch an deinem Vater und dir und Sebastian Gerold zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Sebastian lebt?«, krächzte ich.
»Deine beiden Freunde haben ihn gerettet. Sie sind dir auf geklauten Rädern nachgefahren, als du allein zum Hotel geradelt bist, und haben den Jungen im See schreien gehört. Er ist so klug gewesen, die Luft anzuhalten, bis Jakob ihn aufgegeben hatte. Trotzdem wäre er nicht mehr aus dem eiskalten Wasser herausgekommen, wenn Scarlett und Miko ihn nicht herausgezogen hätten. Miko hat mich dann unverzüglich angerufen und informiert, dass du in Gefahr seist. Also bin ich Hals über Kopf losgefahren.« Er lächelte mich an. »Es wird dich sicher freuen zu hören, dass deine Freundin Alisa in einer Notoperation gerettet worden ist. Sie hatte einen Tumor im Kopf, der sie außer Gefecht gesetzt hat. Aber sie lebt.«
David gehört mir, hatte sie gesagt. Er verdankt mir alles, was er hat und was er ist, und er gehört mir.
Im Präsens.
Er gehört mir.
Ich schloss die Augen und sah sie vor mir.
Die Kratzer auf ihren Armen, aber sie hatte sich nicht selbst verletzt.
Die Müdigkeit in ihren Augen, die dunklen Ringe, aber sie hatte überhaupt nicht getrauert.
Holst du Alisa schon wieder was zum Naschen?, hatte Davids Mutter gefragt.
Ein Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Warum hatte ich nicht auf mein Gefühl gehört? Ich glaubte nicht an Gespenster.
Ich riss die Augen auf. Werner war schon an der Tür.
»Warten Sie!«
»Ja, was denn?« Er kehrte an mein Bett zurück.
»David«, sagte ich. »David lebt.«
»Draußen herrscht Tauwetter«, sagte Werner. »Ich hoffe, wir werden ihn finden.«
»Nein!« Ich packte seine Hand, hielt ihn fest. »Er lebt. Suchen Sie ihn im Hotel.« Meine Gedanken schlingerten wie ein Auto auf eisglatter Straße. »Im Seehotel.«
Wo hatte Alisa ihn versteckt?
Ich erinnerte mich an früher, an die Nachmittage in ihrem Zimmer, wenn wir gelernt hatten. Daran, wie wir uns manchmal nach draußen gesetzt hatten, in die Laube.
Nein, die Laube gab es nicht mehr, das hatte ich gesehen. Nur noch einen Schuppen. Aber dann hätte man David doch gehört, wenn er gerufen hätte, oder? Außerdem hatte Alisa von dort die Decke geholt. Das hätte sie nicht tun können, wenn David darin eingesperrt wäre.
Nein, erinnere dich.
Ich hatte ihn gehört. Es war gar nicht so lange her.
»Im Keller«, flüsterte ich. »Suchen Sie im Keller. Versprechen Sie es. Schwören Sie, dass Sie nach ihm suchen!«
Werner blickte mich irritiert an, dann nickte er.
»Na schön«, sagte er. »Dann werde ich mich dort einmal umsehen.«
»Luis! Du bist wach!« Scarlett drängte ins Zimmer, Miko im Schlepptau. Sie strömten herein wie die Sonne und ihr Mond. »Du lebst, Lusi, altes Haus!«
»Unkraut vergeht nicht«, bemerkte Miko weise.
Siegfried Werner machte den Platz für meine Freunde frei.
»Mannomann«, sagte Scarlett. »Du machst ja Sachen.« Sie wuchtete ihre gelbe Tasche auf die Matratze. »Ich hab dir was gehäkelt, eine Mütze und einen Schal. Ich kann dir auch Socken stricken, damit du keine kalten Füße mehr bekommst. Und was schönes Weiches für deine Hände. Haben sie dir schon erzählt, dass du dir einen Fingernagel komplett abgerissen hast?«
Das erklärte den Verband an meiner rechten Hand.
»Danke«, flüsterte ich.
»Ich dachte, du wolltest ihn aufmuntern«, meinte Miko. »Und nicht zu Tode erschrecken.«
»Keine Sorge, Spinner«, sagte Scarlett liebevoll. »Für dich werde ich auch noch was häkeln.«
Egal, was sie mir strickte oder häkelte, bastelte oder sägte, ich würde es tragen, es mochte noch so hässlich oder ausgefallen sein. Sie hatten Sebastian gerettet. Sie waren ins eiskalte Wasser gewatet, um Sebastian zu retten. Das würde ich ihnen nie vergessen.
»Ich könnte dich abküssen«, sagte ich.
»Äh, nein. Danke, aber nein.«
»Mich vielleicht?«, schlug Miko vor.
Wir verhandelten und kamen überein, dass ich ihn nicht küssen würde. Nur umarmen. Umarmen reichte vollkommen. Ich wollte weder ihn noch Scarlett jemals loslassen.
Eine Stunde später scheuchte die Krankenschwester die beiden raus.
Zwei Stunden später stand Siegfried Werner erneut in meinem Zimmer.
»Ich wollte es dir persönlich mitteilen«, sagte er. »Wir haben David Konrad gefunden, wie du gesagt hast, in einem der Kellerzimmer. Es war schallisoliert, ein ehemaliges Musikzimmer. Herr Gerold sagte, dass Sebastian früher darin Schlagzeug gespielt hat.«
»Er lebt?«
»Ja, er lebt, dein David. Er ist schwach und hungrig und wütend, aber er lebt.«
Damit hatte ich nicht gerechnet: dass Glück wehtat. Dass das Gefühl, das durch meinen Körper fuhr, wie Eis und Feuer brannte, sodass es zugleich schwer und heiß und prickelnd war und mich frösteln ließ.
»Also, die Sache ist die: Er ist hier«, fuhr Werner fort. »Ich wollte dich nur kurz vorwarnen, damit du nicht aus dem Bett fällst oder so. Der Junge sollte sich ausruhen, aber nicht mal der Chefarzt persönlich konnte ihn davon abhalten, dich zu sehen.« Er wandte sich zur Tür hin. »Also, er kann jetzt reinkommen.«
Ein Krankenpfleger schob einen Rollstuhl herein, eine grinsende Krankenschwester lenkte einen Infusionsständer, der durch Schläuche mit dem Patienten verbunden war.
Einem Jungen mit schwarzen Haaren und den unglaublichsten eisblauen Augen, die ich je gesehen hatte. Er war blass und abgemagert und trug die Spuren von Misshandlung an sich – ein verblassender grünroter Fleck am Wangenknochen, verschorfte Kratzer quer über der Nase. Sein Lächeln jedoch war tief und strahlend.
David konnte immer noch lächeln.
Ungebrochen.
»Lassen wir die zwei kurz allein«, sagte Werner und scheuchte Pfleger und Schwester hinaus. Sie wirkten enttäuscht, bestimmt hätten sie unsere Wiedersehensszene gerne mitbekommen.
Ich blickte ihnen nach. Kaum wagte ich es, den Jungen in dem Rollstuhl anzusehen. Aber er schaute mich an. Er starrte und starrte, als hätte er nie etwas so Schönes wie mich gesehen.
»Luis«, flüsterte er. In seinem linken Arm steckten die Schläuche, aber er streckte die rechte Hand aus und tastete nach meiner. »Der Typ von der Polizei hat mir gesagt, dass du die ganze Zeit über nach mir gesucht hast.«
Ich konnte nicht sprechen, also hätte ich nicken können. Aber nicht einmal das brachte ich fertig.
Er schien keine Antwort zu erwarten. Er saß einfach neben mir.
Er. David.
Als die Krankenschwester hereinlugte, gab es nichts Spektakuläres zu sehen. Wir küssten uns nicht.
Wir hielten nicht einmal Händchen. Die Szene, in der er sich vorbeugte, um mir einen Kuss zu geben, war schon vorbei.
Es war ein kurzer, zärtlicher Kuss auf die Lippen. Ich erwiderte ihn nicht.
»Okay«, sagte er leise. »Tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Dass du wieder frei bist. Nur ...«
»Es war nur ein Kuss, ich weiß. Aber ich dachte ... Ich habe so oft an dich gedacht. Vielleicht gibst du mir eine Chance?«
»Ich bin schon mit jemandem zusammen«, sagte ich. »Mit meinem Ex. In den letzten Wochen ist viel passiert.«
Er nickte. Er sah traurig aus. Traurig und glücklich zugleich. Lebendig. Frei.
»Freunde?«, fragte ich.
Und da war es wieder, das Lächeln. »Gerne«, sagte er.
Dies war der Moment, in dem die Krankenschwester hereinschaute. »Da ist noch ein Besucher«, sagte sie. »Du bist heute sehr gefragt, Luis.«
Hinter ihr stand Sebastian.
»Ah«, sagte David. »Verstehe.« Er grinste plötzlich. »Wir sehen uns, ja?«
Ich nickte.
David ging, und Sebastian trat an mein Bett.
»Hi«, sagte ich unsicher.
»Ich habe gerade gehört, du bist wieder mit deinem Ex zusammen?«, fragte er.
»Ich hoffe es jedenfalls«, sagte ich. »Bin ich?«
Man sah ihm die Strapazen nicht an. Dass er fast ertrunken und erfroren wäre. Dass er mit Jakob gekämpft hatte. Dass er dem Tod so nah gewesen war. Er war ein bisschen blass, aber das spöttische Lächeln war immer noch da.
Er wirkte jünger. Verletzlicher. »Es gab eine Zeit, da hätte ich alles für diese Frage gegeben.«
Mir stockte der Atem. »Und jetzt nicht mehr? Es ist zu spät?«
»Du vertraust mir nicht«, sagte Sebastian. »Du hast mir nie vertraut. Du hast lieber Alisa geglaubt als mir. Kann es etwas mit uns werden, wenn du immer an mir zweifelst? Ich war damals so wütend auf dich. Du hast mir das Herz gebrochen, Luis. Ich wollte dich vergessen, aber ich werde dich einfach nicht los. Egal, was ich tue, ich werde dich nicht los.«
»Ich glaube dir jetzt.«
»Jetzt, nachdem sich alles aufgeklärt hat? Das ist ja auch nicht schwer. Ich brauche jemanden, der immer an mich glaubt. Auch wenn es schwer ist. Auch wenn der Anschein gegen mich spricht.«
Es war zu spät.
Ich hatte ihn immerzu verdächtigt. Ich hatte ihn verraten, als ich Alisa geglaubt hatte und ihm nicht, und erst, als meine Füße den kleinen Vorsprung berührt hatten, war mir aufgegangen, wie sehr ich ihm Unrecht getan hatte.
Zu spät.
Ich liebte ihn so sehr, ich hatte nie aufgehört, ihn zu lieben, aber es war zu spät.
»Aber ich war auch nicht unschuldig daran«, sagte Sebastian leise. »Ich wollte nicht zu dir stehen. Ich hatte Angst, meinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Du hattest recht, ich war eifersüchtig und wütend, weil Alisa alles bekommen hat, was sie wollte, als Kranke, und ich dachte, wenn nun auch noch rauskommt, dass ich schwul bin ... Sie hat uns damals erwischt, weißt du noch? Und dann hat sie gedroht, es unserer Tante zu sagen, und die hätte mich sofort enterbt, und ich dachte, die Welt würde untergehen, wenn es rauskommt, dass ich mit dir zusammen bin. Was habe ich erwartet? Wie konntest du jemandem vertrauen, der nicht zugibt, wer er ist? Der dich nur in dunklen Nischen küsst, der seine Familie belügt? Du wusstest, dass ich alle anderen belüge. Warum dann nicht auch dich?«
Ich streckte die Hand nach ihm aus, und er setzte sich an die Bettkante und legte seine Hand über meine. »Keine Lügen mehr, okay? Und du vertraust mir.«
»Ja«, flüsterte ich heiser. »Das tue ich. Dann ... versuchen wir es noch mal?«
»Oh Gott, ja«, sagte er. Er hielt meine Hand. Er küsste mich nicht, er sah mich nur an. »Wer bekommt schon so eine zweite Chance? Ich kann dich sowieso nicht vergessen, Mondprinz. Das konnte ich nie.«
Ich liebe dich, dachte ich, aber ich sprach es nicht aus. Das sparte ich mir für eine andere Gelegenheit auf.
Ich hielt seine Hand.
Ich hielt ihn fest.
Sebastian. Sebastian. Sebastian.