32. Die Träume und ihre Antworten
Mit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus begannen die Träume.
Ich versinke im schwarzen, kalten Wasser ...
Ich gebe der Versuchung nicht nach, ich kämpfe, und trotzdem ich sinke immer tiefer ...
Die Verlockung ist groß, loszulassen und ein Teil der Nacht zu werden.
»Es wird aufhören«, sagte meine Mutter, die an meinem Bett erschien, wie jede Nacht, wenn ich schreiend hochschrak.
»Es wird aufhören«, sagte Paps, als ich ihn in der Reha-Klinik besuchte. »Ab und zu habe ich einen schmerzfreien Tag, und das wird bei dir auch so sein.«
Er zwinkerte mir zu, um mich aufzuheitern. Vor allem, damit ich ihm glaubte, dass es ihm besser ging. Seine Fortschritte waren genauso quälend langsam wie meine.
Ich hatte Paps alles erzählt, von David und dem Kuss, vom See, von Alisa und von Jakob. Und vor allem von Sebastian. Er sollte glauben, dass ich alles gut verarbeitete. Dass ich mit allem gut klarkam. Auch damit, dass meine Mutter sich nach ein paar Tagen wieder verabschiedete.
»Ein dringender Auftrag.« Natürlich.
»Du bist ja schon erwachsen.« Ja, auch das.
»Oder brauchst du mich noch?«
»Danke«, hatte ich gesagt, »danke, aber Paps und ich, wir kommen schon klar.«
Ich hatte meine Freunde. Miko und Scarlett. David, neuerdings, und seinen kleinen Bruder, der ständig nach mir fragte.
Und Sebastian.
Manches war so einfach. Sebastian und ich. Ich und Sebastian. In einer Welt, in der alles verdreht war. Irgendwie war sie so merkwürdig geworden, diese Welt.
Kompliziert.
Ich hatte noch viele Fragen, die mir niemand beantworten konnte. Die Polizei hatte mich ausgefragt, aber Antworten hatten die Beamten keine.
Also ging ich auf die Suche.
Ich zeigte unserer Nachbarin ein Foto von Jakob.
»Der ist blond.«
»Er hat wahrscheinlich eine Perücke getragen.«
»Der junge Mann hatte blaue Augen«, sagte sie. »Und er war so blass. Das weiß ich noch genau.«
»Ja«, sagte ich, »aber stellen Sie sich vor, er hätte Kontaktlinsen. Und sich ein bisschen geschminkt. Könnte er das gewesen sein?«
Sie musterte Jakobs Bild eindringlich. »Gut möglich«, meinte sie. »Ja, gut möglich, dass er das war. Ich glaube schon.«
Die Gestalt, die mir gefolgt war, in Davids Jacke und seinen Schuhen, das musste auch Jakob gewesen sein.
Alisa hatte mich gefragt, ob ich mich vor Geistern fürchtete. Ich glaube, sie wollte mich in Angst und Schrecken versetzen, um mir heimzuzahlen, dass David sich in mich verliebt hatte.
Alisa verzeiht nie, hatte KillingColin gesagt. Auch wenn alles andere eine Lüge gewesen war, das stimmte. Sie und Jakob wollten mir gehörig Angst einjagen. Deshalb der Mord an den Finken, die blutrote Schrift an der Wand, die Steinchen am Fenster. Die Briefe in Davids Handschrift.
Aber da ich sowieso voller Zweifel war, was den Selbstmord betraf, hatte ich keine Sekunde lang an einen Geist geglaubt. Abgesehen davon war ich auch nicht der Typ, der so schnell an Gespenster glaubte. Sie hatte von ihrer Freundin Nicole auf
mich geschlossen. Doch ich war nicht wie Nicole, und mein Misstrauen wuchs.
Erst da hatte Alisa beschlossen, härtere Geschütze aufzufahren. Und bei meiner Suchaktion mitzumachen, um mich im Auge zu behalten und die Sache lenken zu können. Fort vom Hotel, hin zu Davids Vater.
Bei dem Typen, der mich dort überfallen hatte, konnte es sich nicht um Jakob handeln. Der war die ganze Zeit mit Sebastian zusammen gewesen. Und auch nicht um Alisa, obwohl sie mich mit der gefälschten Nachricht nach draußen gelockt hatte.
Daher stiegen Sebastian und ich eines Tages in den Zug und besuchten Hanno, den freundlichen Studenten.
Es war nicht mal so schwer, ihn dazu zu bringen, dass er es zugab.
»Jakob war mein Dealer«, sagte er. »Ich war ihm noch was schuldig. Aber wenn ihr damit zur Polizei geht, werde ich alles abstreiten.«
Die losen Enden fügten sich zusammen. Ergaben ein Muster.
Alisa und Jakob wollten mich dazu bringen, mit der Suche aufzuhören. Es reichte ihnen. Alisa hatte genug damit zu tun, den Gefangenen zu versorgen, ohne dass ihre Eltern oder die Angestellten etwas mitbekamen. Sie hatte keinen Hausarrest an jenem Sonntag gehabt, bloß die Nase voll von allem.
Wie lange hatte sie es durchhalten wollen, David festzuhalten?
»Das habe ich sie auch gefragt.« Sebastian und ich saßen bei David in der Küche, und obwohl draußen der Frühling explodierte, tranken wir heißen Kakao mit Schlagsahne und Zimt. Ich brauchte noch mehr davon als sonst, weil ich immerzu fror.
»Und sie hatte keine Antwort«, sagte David. »Solange sie selber lebte, wahrscheinlich. Ich glaube, sie dachte, das wäre sowieso nicht mehr lange. Sie hat ständig davon gesprochen, dass sie alles vom Leben haben will. Und vom Tod. Sie wollte,
dass es war wie immer, wie früher. Wir haben viel geredet. Das konnte sie nicht aufgeben. Sie hatte sonst niemanden, der ihr richtig zugehört hätte.« Dabei schwang beinahe so etwas wie Verständnis in seinen Worten mit.
Sebastians Miene war düster. »Sie hatte niemanden? Ist das dein Ernst? Alle haben sie immer bloß verhätschelt. Und bestimmt kommt sie diesmal wieder mit allem davon.«
Bevor es eine Verhandlung geben konnte, mussten Alisa und Jakob natürlich erst gesund werden.
David rührte in seinem Kakao, bis sich die Sahne auflöste. Er starrte in die trübe Flüssigkeit.
»Eine Frage habe ich noch«, sagte ich. »Zu dir.«
»Frag.« Er lehnte sich zurück. Der Stuhl knarrte unter seinem Gewicht. Die Küche war von Davids Präsenz erfüllt. Ich dachte daran, was Alisa über ihn gesagt hatte: dass er seine Beliebtheit nur ihr zu verdanken hatte. Dass er ihr undankbares Geschöpf war. Vielleicht hätte ich ihr früher zugestimmt, damals, als ich noch mit Miko und Scarlett im Schulhof über die Außerirdischen gelästert hatte. Und nicht verstanden hatte, warum ein Junge, der nicht einmal ein Handy hatte, zu dieser Clique gehörte.
»Warum die Briefe? Der Zettel, den ich im Kursraum gefunden hatte, war doch auch von dir. Aus einem früheren Brief an Alisa?«
»Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie meine Nachrichten zerpflücken und als Waffen einsetzen würde. Und die Wahrheit ist: Ich hab getan, als hätte ich mein Handy verloren, und meine Mutter hatte kein Geld, um mir ein neues zu kaufen. Ich wollte nicht mehr ständig erreichbar für Alisa sein. Sie hat mir natürlich eins besorgt, wie immer vom Geld ihrer Tante, aber das habe ich dann auch verloren.« Er lächelte. »Ich hab es unter dem Absatz zerquetscht. Und das nächste auch. Und das übernächste. Irgendwann hatte sogar Alisa genug.«
»Ach ja, das hatte ich ja ganz vergessen. Dein Aggressivitätsproblem. Vandalismus und so.«
»Das war die Laube bei den Gerolds. Da hat es mich gepackt. Ich dachte, ich platze. Ich halte es nicht mehr aus.« Er strich sich über die Stirn. Seine Nase war immer noch krumm. Würde es immer bleiben.
Jakob hatte sie ihm gebrochen, als er ihn in den Keller geschleppt hatte.
»Die letzten Jahre waren, als würde ich in einem Sumpf feststecken. Ich konnte nicht mehr atmen. Es war wie Ertrinken. Langsam. Qualvoll. Alle fragen mich, ob ich nicht traumatisiert bin, von diesen Wochen im Keller. Aber so viel schlimmer als vorher war es auch nicht.«
Lennart kam in die Küche gehüpft.
Hastig holte ich mein Lächeln hervor. »Na, wie geht’s, Fröschchen?«
»Wir ziehen um«, erklärte er.
Seine Mutter stand im Türrahmen. »Ich hab gekündigt. In dem Horrorhaus arbeite ich keinen Tag länger. Wir ziehen zu meinem Bruder, bis ich einen neuen Job habe.«
Die Dinge klärten sich nach und nach. Das war wichtig für mich. Nur dass ich Davids Stimme vor Alisas Zimmer und später im Keller gehört habe, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Durch die schalldichte Tür hätte ich ihn gar nicht hören dürfen.
Vielleicht war es Einbildung. Oder es war die Verbundenheit zwischen uns beiden; ausgerechnet dort, wo David gefangen war, konnte ich ihn rufen hören.
Sebastian küsste mich auf die Wange.
Ich will das auch, sagte Davids Blick. Eines Tages will ich das auch.
»Luis, bitte warte!«
Ich hatte nicht damit gerechnet, Alisa vor der Gerichtsverhandlung, die erst in einigen Monaten stattfinden würde, wiederzusehen. In unsere Schule würde sie nicht mehr zurückkehren, obwohl sie, wie ich von Sebastian wusste, aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Und mehr wollte ich auch gar nicht wissen. Dass sie uns quasi vor der Haustür auflauerte, war daher beinahe ein Schock.
»Was willst du?«, fragte Sebastian kühl und legte mir beschützend den Arm um die Schulter.
Alisa sah nicht gesund aus. Sie war blass, mit dunklen Ringen unter den Augen. Doch mit der Perücke sah sie trotzdem hübsch aus – ein etwas angeschlagenes Schneewittchen, das ihren Prinzen mit in ihren Glassarg hatte ziehen wollen.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ehrlich.«
»Ach wirklich?« Zum Glück übernahm Sebastian das Reden. Ich hätte kein Wort herausgebracht. Ich war bloß froh, dass David nicht hier war; er würde es noch weniger ertragen, sie zu sehen. »Ich dachte, du kannst nichts dafür. Jakob ist an allem schuld, schon vergessen?«
Von unserem Anwalt wussten wir, dass Alisa jede Schuld von sich gewiesen hatte. Sie hatte mich nicht erwürgen wollen, sondern sich an mir festgeklammert, als sie den Anfall bekommen hatte. Und dass sie überhaupt an Davids Entführung beteiligt gewesen war, lag nur daran, dass sie solche Angst vor Jakob gehabt hatte. Er war ein skrupelloser Drogendealer – konnte man es ihr also verdenken, dass sie total eingeschüchtert gewesen war, das arme kranke Mädchen?
Alisa senkte den Blick. »Mein Anwalt wollte, dass ich nichts zugebe. Ich werde wahrscheinlich mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.«
»Schön, das zu hören«, sagte ich. »Auf Wiedersehen im Gerichtssaal.«
»Es tut mir leid, Luis!«, rief sie noch mal. »Ich wollte nie, dass irgendjemand verletzt wird. Ich wollte nur David. Ich wollte ihn behalten, koste es, was es wolle. Und dann war es wie eine Lawine, die ich nicht aufhalten konnte.«
»Geh uns aus dem Weg.«
»Sebastian, bitte! Luis!«
Er nahm meine Hand, und wir gingen aufs Haus zu, ohne uns nach ihr umzudrehen.