Epilog
Ich beobachte die Vorhänge, die im Wind flattern. Wolken ziehen am Himmel vorbei, durchkreuzen den Mond.
Bald ist es so weit. Ich kann es fühlen. Ich spüre es in meinem Knochen, meinem Herzen.
Sie wird kommen. Sie hat uns längst gefunden.
Eine Zeitlang dachte ich wirklich, wir könnten uns vor ihr verstecken. Uns in Sicherheit bringen.
Aber Sicherheit gibt es nicht, nicht für uns. Alisa verzeiht niemals.
Der dunkle Umriss in meinem Bett atmet gleichmäßig. Du schläfst tief und fest neben mir.
Es ist noch nicht vorbei. Es wird nie vorbei sein. Ich lehne mich zurück, versuche zu atmen, versuche an die Oberfläche zu schwimmen.
Die Nacht füllt meine Lungen. Sommer weht durchs Fenster, aber ich kann das Eis immer noch spüren. Schneeflocken verklumpen mein Herz.
Ein Rascheln draußen vor dem Haus. Der Wind spielt mit den großen Bäumen, mit der Scheinakazie und dem Ahorn. Ein paar Grillen zirpen und verstummen wieder.
Albträume wehen durchs Fenster. Das Dröhnen eines Motors trägt weit in der stillen Nacht.
Sie wird einen Weg hier rein finden. Sie wird die Treppe heraufkommen, sie wird unsere Nachbarn grüßen, als hätte sie jedes Recht der Welt, mich zu besuchen. Oder sie wird eine Leiter mitbringen und sie gegen das Haus lehnen. Sie nutzt jeden Vorsprung, jede Vertiefung im Mauerwerk, bis sie es schafft, durchs offene Fenster zu steigen.
Es ist unser Fenster. Sie wird denken, dass David hier schläft, hier bei mir. Sie weiß nicht, dass ich mit dir zusammen bin und nicht mit David, dass du quasi bei uns eingezogen bist, weil
du nicht mehr mit deinen Eltern redest, die ihre wunderbare Tochter für unschuldig halten. Woher soll sie es auch wissen? Unser Freundeskreis überschneidet sich nicht. Wenn sie überhaupt noch Freunde hat.
Tagsüber weiß ich, dass das Unsinn ist; sie hat uns zusammen gesehen. Doch in der Nacht gelten keine Argumente, jede Logik versickert in den Rissen des Eises, das sich in mir ausbreitet wie eine spiegelnde Fläche über den Tiefen der Angst. In der Nacht denke ich: Was, wenn sie es einfach nicht glauben will? Wenn ihr die Rache wichtiger ist als ihr eigenes Leben?
Alisa verzeiht nie. Sie ist auf der Suche nach David; niemand hat ihr gesagt, dass er und seine Familie umgezogen sind. Vielleicht wird ihr Schuh ein paar Steinchen lösen, ein bisschen Putz wird abbröckeln. Davon lässt sie sich nicht stören. Sie ist wild entschlossen, und was aus ihr wird, ist ihr egal. Jede Operation erkauft ihr ein bisschen Zeit, jedes neue Medikament schenkt ihr eine Gnadenfrist.
Sie hat nichts zu verlieren.
Und wenn sie David nicht haben kann, soll ihn niemand bekommen.
Alisa verzeiht niemals.
Welche Waffe sie wohl mitbringt? Ein Messer? Eine Pistole?
Diesmal werde ich bis aufs Blut kämpfen. Egal, wie es ausgeht, für sie oder für mich.
Durch meine Adern fließt Eis.
Ich höre Schritte. Ich höre Atmen.
Ich hebe die Hände mit der Waffe. Ich ziele.
Meine Hände zittern nicht mehr. Ich treffe.
Mitten ins Herz.
Und sie fällt. Sie sinkt in sich zusammen, ihr dunkles Haar schwimmt in einer Lache aus scharlachrotem Blut. Oder ist es eine Perücke, die sich von ihrem kahlen Schädel löst?
Mit einem Schrei fahre ich hoch.
Es ist dunkel. Du regst dich neben mir.
»Schlaf weiter, Mondprinz«, murmelst du und schlingst den Arm um mich. »Sie kommt nicht. Nicht diese Nacht. Und überhaupt nicht. Sie will, dass man sie weiterhin für unschuldig hält. Vergiss sie, wir sind fertig mit ihr.«
Morgen Nacht kommt die Angst vielleicht zurück, doch in diesem Moment ist alles gut.
Ich habe eine Picknickdecke unter den Bäumen ausgebreitet. Ein leichter Wind raschelt in den Zweigen der Birken, ein Wasserspiel plätschert im Teich. Lennart und David versuchen, einen der unzähligen Frösche zu fangen, die am Uferrand quaken.
»Da ist er!«, schreit Lennart. »Ich hab ihn gleich!«
Wir sind nicht die Einzigen heute im Park, aber für einen Moment ist mir, als wären wir allein, nur du und ich. Du bist der Junge mit dem schwarzen Haar und den dunklen Augen, du liegst auf der Seite, mir zugewandt, und lächelst mich an.
Ich strecke die Hand aus und berühre deine Narbe. Die hast du aus dem Internat mitgebracht, in das du gekommen bist, weil ich dir nicht geglaubt habe. Weil deine Mutter und auch ich Alisa ihre Geschichte abgenommen haben. Wir haben dich verdammt. Ich habe dich verdammt. Es tut mir so leid, doch wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.
Heute bist du schweigsam. Nachdenklich. Du weißt, was ich getan habe, und du warst damit einverstanden. Schwer ist es trotzdem. »Es ist das Richtige«, sagst du zu mir, denn du siehst mir an, dass ich zweifle. »Wir schaffen das, Mondprinz.«
Auch David nickt zustimmend. Als hätte er nicht am meisten gelitten.
»Bist du sicher?«, hatte Paps gefragt. »Soll ich vielleicht mitkommen?« Da habe ich ihn in die Schulter geknufft, ganz vorsichtig, damit er nicht umfällt. Mein Vater ist noch nicht
lange wieder zu Hause und noch so schwach und wackelig auf den Beinen wie ein Kind, das gerade erst laufen lernt. Aber sonst ist er schon ganz wieder der Alte. Am liebsten würde er alles für mich regeln, doch das hier muss ich selbst tun.
Zum Glück habe ich Unterstützung.
»Wer hat Hunger?«, ruft Miko und kramt im Picknickkorb.
Du beobachtest ihn mit einem Lächeln. Seit sie dich gerettet haben, liebst du Miko und Scarlett fast ebenso sehr wie ich.
»Au! Es hat mich gebissen!« Miko fällt nach hinten und hält sich den Arm. An seinen Fingern hängt eine Verschlussklemme aus Metall wie ein kleines, bissiges Krokodil. »Der Schrecken des Planeten hat mich erwischt! Warte nur, mit dir werde ich schon fertig!«
Während er sich dramatisch im Gras wälzt, übernimmt David den Picknickkorb. »Wir hätten da ... gefrorenen Jogurt, der schon schmilzt, Bananenmuffins, wenn ich richtig sehe, und was ist das? Erdbeeren mit Schokosauce? Ich sterbe!« Dann entdeckt er die Thermoskanne. »Das kann doch nicht wahr sein! Bei dreißig Grad!«
»Ich brauch nun mal meinen Kakao«, sage ich. »Weil ich friere. Immer und überall, auch im Sommer. Meine Zehen frieren und meine Knie und meine Ellbogen. Sogar meine Augen.«
»Augen können nicht frieren«, meint Lennart, der angeschlichen kommt und sich einen Muffin schnappt.
»Ich könnte dir eine Sonnenbrille häkeln«, schlägt Scarlett vor. Sie sitzt im Gras, mitten in einem Haufen bunter Wolle. »Aber erst mache ich das hier fertig.«
Miko stöhnt. »Sie will mir nicht verraten, was es wird.«
»Eine Badehose?«, schlägst du vor, denn du kennst natürlich das Fotoalbum, das ich Paps geschenkt habe.
»Bitte nicht!«, fleht Miko. »Bitte keine Badehose!«
»Na gut, dann eben nicht«, meint Scarlett. »Meinetwegen kannst du auch ohne Badeho...« Mitten im Satz verstummt sie.
Starrt zum Kiesweg.
Ein Mädchen steht dort. Ein blondes Mädchen in einem bunten Sommerkleid. In ihren Armen hält sie einen Korb, und mir entgeht nicht, wie ihre Hände zittern.
»Ich ... ich hab auch was mitgebracht.«
Alle starren sie an. Die Temperatur im Park sinkt um mindestens zehn Grad.
Du greifst nach meiner Hand und drückst sie, und da atme ich tief durch und stehe auf.
»Nicole«, sage ich. »Schön, dass du da bist.«
»Du wusstest das?«, fragt Miko und setzt sich auf.
»Ich habe sie angerufen«, sage ich so laut, dass alle mich hören können. »Und eingeladen.«
»Warum?«, fragt Scarlett leise. »Warum tust du dir das an?«
»Weil ich nicht schlafen kann«, sage ich. »Weil ich jede Nacht davon träume, was war. Ich ertrinke. Oder ich fliehe. Oder ich kämpfe. Ich bin müde, wisst ihr? Ich will, dass es aufhört. Und ich glaube«, füge ich leise hinzu, »dass dieser Schritt dazugehört.«
Alisa verzeiht nie, hat Nicole gesagt. Aber ich bin nicht Alisa. Und ich kann nicht mit einem Groll leben, der mir das Herz zerfrisst. Also habe ich an Jakob in der U-Haft einen Brief geschrieben. Ich habe ihm geschrieben, was ich durch diese schlimme Geschichte gewonnen habe. Dass ich sonst vielleicht nie mit dir zusammengekommen wäre. Dass ich mich über meine Freundschaft mit David freue. Dass ich nun weiß, auf wen ich mich verlassen kann.
Und ich habe Nicole angerufen.
Ich gehe auf sie zu. Sie wirkt kleiner als früher, unsicher und verloren, und ihre Unterlippe bebt.
»Danke«, flüstert sie. »Das war echt lieb von dir, Luis. Aber ich glaube, es hat keinen Zweck. Ich passe nicht zu euch. Ich fühle mich hier wie ... wie eine Außerirdische.«
»Was hast du mitgebracht?« Miko tritt neben mich und nimmt ihr den Korb ab. »Gummibärchen! Sie hat Gummibärchen mitgebracht!«
»Ich hab ihn!«, schreit Lennart. »Ich hab den Frosch! Wer will den Frosch sehen?«
Er öffnet seine Hand, und der Frosch hüpft in Richtung Teich davon. Lennart stürzt ihm nach.
Nicole wagt kaum, meine Freunde anzuschauen. Oder dich. Und erst recht nicht David.
Er hat sich aufgesetzt. »Hier ist noch Platz«, sagt er. »Willst du was trinken?«
»Teichwasser oder Kakao?«, ruft Lennart, der auf den Knien über das Gras rutscht. »Wer will, darf meinen Frosch streicheln!«
Sie lächelt, so vorsichtig, dass ihr Lächeln beinahe zerbricht.
»Es wird eine Mütze«, brummt Scarlett. Ich versuche, ihren Blick zu erhaschen, ob sie sauer auf mich ist, aber sie hat den ersten Schock überwunden. Und Scarlett wäre nicht Scarlett, wenn sie nachtragend wäre. »Wenn Sebastian sie nicht will, kannst du sie haben, Köhlchen.«
»Wer sagt, dass ich sie nicht will?«, fragst du.
Scarlett strahlt dich an. Den Tag, an dem der coole, arrogante Sebastian Gerold eine ihrer Kreationen trägt, wird sie sich im Kalender rot anstreichen.
Am Anfang sind wir alle noch etwas still. Doch Lennarts Geplapper lockert die Stimmung auf, und irgendwann verfliegt das Unbehagen.
Ich denke an Alisa. Ihr habe ich auch einen Brief geschrieben. Durch dich
, habe ich geschrieben, durfte ich lernen, wie kostbar das Leben ist. Und die Liebe. Und das Vertrauen.
Sie hat mir nicht geantwortet. Vielleicht ist es besser so.
Über uns flattern die grünen Blätter in einer Brise, die weißen Blätter der Jasminsträucher tupfen den Rasen wie Sommerschneeflocken. Die Luft ist mild und gesättigt mit den Düften von Gras, Jasmin und Bananenmuffins.
Du streckst dich auf der Picknickdecke aus, deine Finger verschränken sich mit meinen. Ich fasse nach Nicoles klammer, schweißnasser Hand. Schließlich liegen wir alle im Gras unter dem Baum. Über den Zweigen blüht der Himmel kornblumenblau, endlos weit.
Eine Hummel taumelt über uns hinweg, und die Amseln flöten um ihr Leben.
Ich blicke nach oben, in den fernen Himmel, der so zerbrechlich ist wie ein Spiegel, und halte deine Hand. Als ich zu dir hinschaue, ist dein Lächeln schöner als der Sommer.
Und mir ist nicht mehr kalt.