9.
Die nächsten Tage waren hart, sehr hart. Am Morgen nach der Party hatte Coralie den Wecker fast erschlagen. Dann aber war sie aufgestanden. Mit zusammengebissenen Zähnen, aber pünktlich. Sie war wieder auf Tour gegangen. Die ganze Zeit hatte sie gefürchtet, David zu begegnen. Was würde er sagen, wenn er herausfand, wer und was sie war? – Du hast ihn nie angelogen, sagte sie sich. – Aber du hast auch nie die Wahrheit gesagt, murmelte eine andere Stimme in ihr. – Ich hatte noch nicht mal den Hauch einer Chance, das zu tun! – Trotzdem. Du hast alle in dem Glauben gelassen, du gehörst dazu. Und jetzt flitzt du durch die Straßen und hast Angst, dass dich einer erkennt.
»Guten Morgen!«
Sie fuhr zusammen. Asta war wieder wie ein bunter Vogel aus den Rosenbüschen aufgetaucht. Sie sah, im Gegensatz zu Coralie, putzmunter aus. Ihre wachen Augen blitzten sie an.
»Wo hast du denn gesteckt? Du hast das ganze wunderschöne Feuerwerk verpasst!«
»Asta, ich muss arbeiten.«
»Ja, ja …« Asta zog sich zurück. Coralie hörte, wie sie über den Kiesweg zum Tor huschte. Und schon tauchte ihr kleines Gesicht mit dem liebenswürdigen Lächeln vor ihr auf.
Coralie reichte ihr die Zeitung. »Bitte sehr. Kein Tee. Keine Haferkekse. Okay?«
Asta nahm die Zeitung zögernd an. »Hat es dir denn gar nicht gefallen?«
»Ich muss weiter.« Sie ging zum Fahrrad und klappte den Ständer zurück. Und keine Vorträge. Sie wollte weg. Sie war viel zu nah am Haus der Rumers.
»David hat dich gesucht.«
Überrascht drehte sie sich um. »David? Mich?«
Aber Asta wusste, mit welchem Speck sie ihre Mäuse locken konnte. »Ich will dich nicht aufhalten, meine Liebe. Oder doch ein kleines Tässchen?«
Schnell sah Coralie sich um. Niemand war zu sehen. Es war sogar noch stiller als sonst. Wahrscheinlich lagen alle in ihren Betten und träumten von der Party des Jahrhunderts. »Ein … ganz kleines«, sagte sie und klappte den Ständer wieder aus.
In Astas Küche duftete eine Kanne Earl Grey. Den Teller mit den Keksen lehnte Coralie ab. Sie gab etwas Zucker in ihre Tasse und rührte um.
»Warum bist du denn so früh gegangen?«, fragte Asta. Ihre Augen ruhten besorgt auf ihrem Besuch, als könne sich der jederzeit in Luft auflösen. »Du bist doch noch so jung. Als ich in deinem Alter war … in den Fünfziger-, Sechzigerjahren, da gab es die Jazzlokale und Nachtclubs, und Berlin war rund um die Uhr geöffnet. Wir hörten AFN und Shellack-Platten und wir tanzten! Tanzten! – Hast du Jasmin gesehen?«
»Ja«, knurrte Coralie und pustete in ihren Tee, um ihn abzukühlen.
»Das Mädchen ist ja so begabt. Wie ihre Mutter! Die hat am Bolschoi-Theater getanzt, in Moskau. Jasmin konnte früher tanzen als sprechen. Schon von den ersten Schritten an bekam sie Unterricht. Die besten Lehrer, die besten Schulen.« Asta brach ab. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein. Ich bin nur müde. Es ist ein bisschen viel im Moment. Ich habe ja auch noch Schule. Und nachmittags Unterricht. Ich tanze nämlich auch.«
»Nein! Wirklich? Weißt du was? Das habe ich mir fast gedacht. So aufrecht, wie du stehst, und dein Gang … Bist du auch an der Sergej-Belkoff-Akademie?«
Belkoff war die teuerste, exklusivste Tanzschule, die man sich überhaupt leisten konnte. Zu ihm gingen alle, die mindestens Primaballerina in Paris werden wollten. Die Staatliche Ballettschule war gut. Aber Belkoff war besser. Er lehrte nach den Prinzipien der Ballets Russes, nach Choreografien von Massine und Balanchine.
»Den können wir uns nicht leisten. Asta, ich kann in eurer Liga nicht mithalten. Ich versuche, das alles allein zu wuppen. Meine Eltern haben eine Autowerkstatt in Neukölln. Ich wollte nie zum klassischen Ballett. Ich wollte was anderes. Und das kostet auch Geld, viel Geld. Das verdiene ich, so gut es geht. Ich habe keine Mutter, die am Russischen Staatsballett getanzt hat. Und keinen Vater mit sieben Autos in der Garage. Na ja, zumindest gehören sie ihm nicht … Mir fallen fast die Augen zu, weil ich nach der Arbeit zur Schule und heute Nachmittag noch zum Training muss. Und ja, ich habe Jasmin Karner gesehen.«
Stille. Asta sah sie voller Mitgefühl an. Aber das wollte Coralie nicht. Sie hatte sich dieses Leben selbst ausgesucht. Und sie hatte schon lange aufgehört, darüber nachzudenken, warum die einen Porsche fuhren und die anderen ein Fahrrad mit einem Zeitungsanhänger. Das brachte sie nicht weiter. Der Kellner im großen Spiel des Lebens hatte für sie eben Wasser und keinen Champagner gebracht. Sie hatte nicht die Pole Position bekommen. Aber sie hatte Eltern, die ihr beigebracht hatten, dass man sich trotzdem nach vorne durchschlagen konnte.
»Das ist doch kein Grund, sich zu schämen.«
»Ob du es glaubst oder nicht: Ich schäme mich nicht. Ich bin gegangen, weil ich müde war. Das ist alles.«
Okay. Und weil ich das Gefühl hatte, Jasmin Everybody’s Darling nicht das Wasser reichen zu können. Das war dämlich, denn es stimmt nicht. Aber es fühlte sich genauso an. Und wenn es sich so anfühlt, bin ich machtlos.
»Hm. Nun, es war trotzdem schade, denn David hat nach dir gefragt. Er wollte den Mitternachtstanz mit dir tanzen. Das ist der Höhepunkt vor dem großen Feuerwerk.«
Das Mitgefühl in Astas Augen verschwand. Stattdessen blitzte Neugier auf. »Irgendwie scheinst du ihn beeindruckt zu haben.«
Coralie schnaubte verächtlich. »Bei David ist das keine Kunst.«
»Oh nein, da muss ich widersprechen. Ich kenne ihn, seit er ein kleiner Junge ist. David hat nichts im Kopf außer Autos. Er hat mit dem Kartfahren so früh angefangen wie Jasmin mit dem Tanzen. Er wollte immer auf die ganz großen Rennstrecken und nichts und niemand hat ihn davon abgebracht.«
Coralie gefiel es nicht, Davids und Jasmins Namen in einem Satz zu hören. Obwohl die beiden offenbar gut zusammenpassten. Zwei Siegertypen, die einfach alles plattfuhren, was sich ihnen in den Weg stellte.
»Aber sein Vater ist strikt dagegen. Seit dem Unfall … Er will nicht, dass seinem Sohn das Gleiche passiert. Und irgendwie kann man das auch verstehen, oder?«
»Ich weiß nicht.« Coralie sah auf ihre Uhr. Sie musste los.
»Rennfahren ist der teuerste Sport, den es gibt. Ich glaube, er hat ihm den Geldhahn zugedreht.«
»Nun«, sagte Coralie und stand auf. »Dann kann er es ja vielleicht mal mit einem Nebenjob probieren? Zeitungen austragen zum Beispiel?«
»Wer? Ich?«, kam es vom offenen Küchenfenster.
Coralie fiel die Tasse aus der Hand. Sie zerbrach auf dem Boden. Draußen stand David. Er sah zerknautscht aus, als ob er gerade eben erst aus dem Bett gefallen wäre. Er trug ein ausgewaschenes T-Shirt, mehr konnte sie nicht sehen, weil Astas Küchenkräuter auf dem Fensterbrett in die Höhe geschossen waren.
Er schob einen Busch Basilikum zur Seite. »Was man da in einem Monat verdient, reicht noch nicht mal für eine Tankfüllung.«
Coralie tauchte ab und sammelte die Scherben ein.
»Guten Morgen, David«, sagte Asta und strahlte über das ganze Gesicht. »Auch einen Tee? Komm rein!«
Eine Tür quietschte.
Hektisch lief Coralie zur Spüle und legte die Scherben hinein. Dann nahm sie einen Lappen, um die Bescherung aufzuwischen. »Es tut mir leid«, stammelte sie.
»Das macht doch nichts. Ich kann dieses Lomonossow-Geschirr nicht mehr sehen. Das hat mir meine Schwiegermutter zur Hochzeit geschenkt. Es war meine einzige Ehe und das Geschirr hat nicht zu ihrem Gelingen beigetragen. Wenn du den Unterteller auch noch zertrümmerst, hätte ich im Lauf der Jahre auf elegante Weise schon die Hälfte entsorgt.«
David trat in die Küche, in der Hand eine Brötchentüte. Zu dem T-Shirt trug er eine knielange, enge Jogginghose, die jeden Muskel seiner Beine betonte. Um seinen Hals hingen die Ohrhörer eines MP3-Players. Er war verschwitzt. Wahrscheinlich hatte er gerade seinen Morgenlauf hinter sich gebracht. Er legte die Tüte auf den Tisch und küsste Asta vorsichtig auf beide Wangen, was die alte Dame mit einem verzückten Lächeln über sich ergehen ließ.
»Schon so früh wach?«, fragte sie.
»Ich bin Sportler. Auch wenn es mir schwerfällt, meine Mitmenschen davon zu überzeugen.« Sein Blick fiel auf Coralie, die gerade den Lappen ausspülte. »Guten Morgen«, sagte er.
»Guten Morgen«, erwiderte Coralie. »Ich muss jetzt wirklich los. Danke für den Tee, Asta.«
»Wohnst du jetzt hier?«
Coralie wollte den Kopf schütteln, aber Asta kam ihr zuvor. »Sei nicht so neugierig.«
»Nein, ich wohne nicht hier.« Coralie holte tief Luft. Sie sollte es ihm sagen. Jetzt. »Ich bin nur hier wegen der Zeitung.«
»Ich auch!«, unterbrach sie David. »Ist das nicht ätzend? Jeden Morgen kommt sie zu spät! Mal eine, mal drei, mal gar nicht. Welche Idioten werden da eigentlich eingesetzt?«
»Leute, die das Geld brauchen und sich vor echter Arbeit nicht drücken!«
»Ach, du meinst also, ich arbeite nicht?« Wütend funkelte er sie an. »Ich habe einen ziemlich taffen Job. Kein Urlaub, kein Wochenende.«
»Mir kommen die Tränen. In einem Auto sitzen und wie eine gesengte Sau losrasen? Das nennst du Arbeit?«
»Du hast echt keine, keine Ahnung.«
Asta sah von einem zum anderen, hob beschwichtigend die Hände und murmelte: »Kinder, Kinder!« Aber keiner hörte auf sie. Coralie warf das Handtuch in die Spüle.
»Nein. Du hast keine Ahnung, wie es da draußen vor eurem Garagentor zugeht. Dass es Leute gibt, für die dreihundert Euro im Monat ein Vermögen sind. Die von dem Geld, das du in einer Nacht verballerst, eine Familie durchbringen müssen. Welche Idioten das sind? Hörst du dich eigentlich ab und zu noch reden?«
David stand da, als hätte sie ihm die Luft aus den Reifen gelassen.
»Tschüss. Ich muss. Ich bin nämlich auch so ein Idiot.«
»Okay, ich hab’s nicht so gemeint. Es ist nur –«
»Es ist mir egal, was ist. Ich bin schon irre spät dran. Danke für den Tee, Asta. Ich komme gerne wieder und zerschlage dein restliches Geschirr. Ich muss dabei nur an Typen wie ihn denken.«
Sie lief hinaus. Ein paar Häuser weiter war die Wut verflogen. Übrig blieb ein merkwürdiges Gefühl. Eine Mischung aus Verlust und Triumph. Verlust, weil er sich als ein echter Vollidiot entpuppt hatte. Triumph, weil sie nicht eingeknickt war, sondern ihm klar und direkt ihre Meinung gesagt hatte. Womit sich sein minimales Interesse an ihr wohl völlig erledigt hatte.
Beide Gefühle verschwanden, als sie in der S-Bahn auf dem Weg nach Hause saß und Mietskasernen von Schöneberg vorüberhuschten. Noch nicht mal der Nerd mit seiner Wandergitarre war da gewesen. Irgendeines seiner dämlichen Lieder hätte sie jetzt gut gebrauchen können. Sie war traurig. David hatte sie verletzt. Welche Idioten machen das eigentlich … Bis ihr einfiel, dass sie an diesem Morgen gar keine Zeitung bei den Rumers eingeworfen hatte.
In der Schule fehlte nicht viel und Coralie wäre neben Laura schnarchend vom Stuhl gefallen. In den wenigen wachen Momenten zeichnete sie ihrer Freundin einen Weltall-Rennwagen mit einer Andockvorrichtung für den Irreversibler, die sie in der nächsten Stunde wieder wegradierte. Laura setzte dann Jimi ans Steuer. Coralie seufzte. Wenigstens für eine war die Welt in Ordnung. Zumindest so lange, bis sie mit ihrem Angebetenen die ersten Worte wechseln würde. Die beiden hatten nämlich noch nie miteinander gesprochen.
»Ich bin bis eins geblieben«, erzählte Laura in der Pause und suchte nach einem verloren gegangenen Stück Gurke in ihrer Bento-Box, als Jimi mit seiner Clique über den Hof ging und dabei ein, zwei neugierige Blicke in ihre Richtung warf. »Guckt er noch?«
Coralie biss in ihren Apfel. »Mmmmmhh. Jetzt nicht mehr. Vielleicht solltest du irgendwann mal zurückgucken. Im Moment tust du so, als ob er Luft für dich wäre.«
»Das sagt die Richtige. Übrigens hat David nach dir gefragt.«
»Ach ja?« Sie knabberte weiter an ihrem Apfel herum, um nicht antworten zu müssen. Um nichts in der Welt würde sie Laura von ihrer Begegnung am Morgen erzählen und dass sie auch von Asta auf diese geradezu revolutionäre Entwicklung hingewiesen worden war.
»Ich glaube, er fand dich … na ja, ziemlich interessant.«
»Das liegt an den Radkappen.«
Laura hob die schwarzen Augenbrauen, die sie sich mangamäßig ein bisschen höher auf die Stirn gemalt hatte, was ziemlich lustig aussah. »Radkappen? Hab ich was verpasst? Ist das ein neuer Trend?«
»Ach, vergiss es. Erstens findet er mich nicht interessant und zweitens ist es sowieso egal. Er ist einer von denen, die außer Autos nichts im Kopf haben. Autos und Daddys Kohle.«
»Seit wann hast du denn solche Vorurteile gegen reiche, nicht arbeitende Minderheiten?«
»Seit er die arme, arbeitende Mehrheit als Idioten bezeichnet hat.«
»Wann?«, fragte Laura und durchwühlte ihre Schultasche. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Heute Morgen. Zeitungsaustragen ist was für Idioten, findet er.«
Laura brachte die Gurke zum Vorschein, an der ein angelutschtes Bonbon klebte, und warf sie in den Papierkorb neben der Bank. »Heute Morgen. Hm. Möchtest du das näher ausführen?«
»Nein.«
»Coco, so geht das nicht.« Coco war der Spitzname, den Coralie am meisten hasste. Laura wusste das. Wenn sie ihn einsetzte, war die Ansage ernst. »Du willst meinen Rat, meine Tat, meine Unterstützung. Da musst du schon den Mund aufmachen. Wie zum Teufel bist du heute Morgen an David gekommen?«
»Er war bei Asta. Zufall. Ich hab vergessen, die Zeitungen bei ihnen einzuwerfen. Der Vertrieb hat mir schon eine SMS geschickt, dass sie mich feuern, wenn das noch mal passiert. Ist ja sowieso egal. London ist gestorben.«
Die Klingel schrillte. Laura stand auf. »Nein, ist es nicht. Aber wenn du immer so schnell abtauchst, darfst du dich nicht wundern, wenn dein Dasein in der Dunkelheit verröchelt. – Oh.«
Laura versteckte sich hinter Coralies Rücken. Erst dachte die, es wäre wegen Marie. Ihre Klassenkameradin hatte mal wieder ihre treusten Fans wie eine Gänseherde um sich geschart. Den geuuhten Kommentaren entnahm Coralie, dass es gerade um das Outfit für die Filmpremiere ging. Doch dann sah sie Jimi. Er stand oben am Ende der Treppe, die Arme lässig vor der Brust gekreuzt, und ließ seine Blicke über die kichernde Mädchenschar wandern.
»Darf ich dir mit einer Schnorchelmaske aushelfen?«, fragte Coralie. »Wegen abtauchen und so.«
Aber Laura machte sich noch kleiner. »Gestern hat er mich angelächelt. Hilfe! Was soll ich denn machen?«
»Vielleicht zurücklächeln?«
»Das geht nicht! Bring mich hier weg!«
Coralie blieb stehen. »Du gehst jetzt an ihm vorbei. Du wirst ihm in die Augen sehen und ein zartes Hallo über deine Lippen hauchen.«
»Nein! Das kann ich nicht.«
»Soll ich es dir zeigen?«
Laura tauchte auf. »Ist das nicht absolut bescheuert? Dir macht es gar nichts aus, Jimi anzusprechen. Stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Aber wenn es David wäre …«
»Das ist was anderes.«
»Aber warum? Kannst du mir das erklären?«
»Ich könnte. Aber das ist nicht mehr nötig.«
»Warum?«
»Weil Jimi gerade reingegangen ist.«
Laura drehte sich um. »Oh. Dann beim nächsten Mal.«
»Ja. Klar. Ich werde dich dran erinnern.«
Schule war in diesen letzten Tagen vor den Sommerferien eine Farce. Sie saß ihre Stunden ab und wartete darauf, endlich ins Tanzstudio zu kommen. Doch wenn sie gehofft hatte, Jasmins Verrat dort zu vergessen – genau das Gegenteil war der Fall. Schon beim Eintreten ließ sie der Gedanke nicht mehr los, wer sie hier hintergangen haben könnte. Luisa, die am Empfangstresen jeden mit einem netten Gruß empfing? Nein. Carl, der vor dem schwarzen Brett stand und die neusten Auditions durchging, die dort angeschlagen waren? Unmöglich. Eine Horde achtjähriger Ballettmäuschen kam kichernd um die Ecke gejagt und rannte sie fast um. Die erst recht nicht. Aber wer?
Im Umkleideraum wandte sie den anderen den Rücken zu. Das Misstrauen zerstörte jedes Lächeln, jedes nette Wort. Irgendjemand unter all diesen Leuten, bei denen sie sich bis jetzt so geborgen gefühlt hatte, war ein mieser Verräter. Er hatte sie beim Üben ihrer Choreografie beobachtet, am Ende sogar noch heimliche Aufnahmen gemacht und sie ihrer größten Konkurrentin in die Hände gespielt. Wusste Jasmin eigentlich, dass ihre Schritte gestohlen waren? Dass ihre Moves Coralie und Wanda gehörten? Dass Xavier, der andere Trainer und offenbar ein ganz privater Feind von Wanda, die Arbeit, die Fantasie, die ganze Kreativität anderer Leute als eigene Leistung ausgab? Sie brannte darauf, ihre Empörung mit Wanda zu teilen.
Sie traf sie am Getränkeautomat, wo sich ihre Trainerin gerade eine Flasche Wasser zog. Als sie ihr von Jasmins Aufführung auf Rumers Gartenparty erzählt hatte, war Wanda sprachlos.
»Meine Choreografie! Meine Moves!« Noch immer ärgerte sich Coralie maßlos, wenn sie daran dachte. »Und du hast keine Idee, woher sie das hatte?«
Wanda öffnete die Flasche und trank einen Schluck. »Nein. Wirklich nicht. Der Song ist natürlich bekannt, der wird das Gleiche für den Dance sein wie Antigone für die Theater-Aufnahmeprüfung. Ich hatte wirklich schon befürchtet, dass wir nicht die Einzigen sind.«
Gemeinsam gingen sie den Flur hinunter. Aus den anderen Studios hörte sie Klaviermusik und das Trappeln von Füßen – Aufstellung fürs klassische Ballett.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte Coralie irritiert.
»Weil es nicht auf die Musik ankommt, sondern darauf, was du aus ihr machst. Sonst könnte man weder Giselle noch Schwanensee aufführen, denn das hat weiß Gott schon jeder mal gehört und gesehen.«
»Aber woher hat sie meine Ideen?«
Wanda öffnete die Tür zu ihrem Studio. Drei andere Mädchen und zwei Jungen warteten schon auf sie. Rock the Ballett, bad boys and pretty girls of dance, ein Workshop nach Rasta Thomas und Adrienne Canterna. Wo die beiden waren, genau dahin wollte Coralie auch. Sie hatte die Gastspiele dieser außergewöhnlichen Company mehrmals besucht. Moderne Rockmusik, interpretiert von großartigen Tänzern mit street credibility. Wanda war eine der wenigen in Deutschland, die nach den Choreografien der beiden Amerikaner lehren durfte, und sie war, nach ihrer Zeit bei Khaled, auch für mehrere Tourneen ein pretty girl of dance gewesen.
Coralie überfiel die Lust, sich komplett zu verausgaben. Den Frust herauszulassen. Die Wut auf Jasmin und Xavier, die ihr so viel Mühe, Schweiß und Arbeit und ihren Traum gestohlen hatten. Aus den Augenwinkeln musterte sie ihre Mitschüler. War es einer von ihnen gewesen? Handys und Kameras waren in der Tanzschule tabu. Aber wer achtete schon darauf, was in den Sporttaschen war, die auf einer Bank an der Wand lagen? Sie kannte gerade einmal die Vornamen der anderen. Wusste nichts von ihnen, hatte sich kaum einmal privat unterhalten. Hatte sie jemanden irgendwann einmal vor den Kopf gestoßen? Ein dummer Spruch, eine blöde Bemerkung – es gab keinen größeren Jahrmarkt der Eitelkeiten als eine Tanzschule.
Nein, sie konnte sich nicht erinnern. Das große Fenster ging hinaus in den Vorraum. Auf den alten Sofas saßen Mütter und Au-pair-Mädchen und warteten darauf, dass die Kleinen aus der Kindertanzgruppe kamen. Coralie ging zur Scheibe, formte mit den Händen einen Schirm gegen das Licht und sah hindurch. Jeder konnte sie beobachten. Es war ein Kommen und Gehen. Neugierige schneiten herein, erkundigten sich nach den Kursen und den Gebühren, schauten zu und gingen wieder. Profitänzer scharten sich ums Schwarze Brett, lasen die Zettel mit den Terminen für Auditions und den Jobangeboten. In der Ecke hatte die Schule einen kleinen Shop eingerichtet: Ballettkleidung und Tanzschuhe, Haarklammern, Pflaster, Wasser, Bänder, all die Kleinigkeiten, die man brauchte. Immer mal wieder kamen Leute, die nicht wegen einem Tanzkurs hereinschneiten, sondern einfach nur ein Paar neue Schuhe oder eine abgefahrene Leggins suchten.
Coralie ließ die Arme sinken. Jeder, absolut jeder hatte sie beobachten können.
»Wir denken uns was anderes aus.« Wanda war hinter sie getreten und legte die Hand auf ihre Schulter.
»Dazu ist es zu spät!«
»Irrtum. Dazu ist es nie zu spät. Denkst du, ich gönne Xavier seinen Triumph?«
Coralie drehte sich zu ihr um. »Worum geht es hier eigentlich?«
Wanda tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört. Sie ging zurück in die andere Ecke, dorthin, wo CDs zu nachlässigen kleinen Türmen gestapelt lagen, und begann, die passende Musik herauszusuchen.
Coralie folgte ihr. »Xaviers Triumph ist mir egal.« Sie sprach so leise, dass die anderen nichts hören konnten. »Und dein Battle gegen ihn auch. Wusstest du, dass er diese Jasmin ins Rennen schickt?«
»Nein. Natürlich nicht. Ich wusste gar nicht, dass er in der Stadt ist! Es geht hier auch um meinen Ruf, kapierst du das? Ich würde doch nie etwas tun, was ihm in die Hände spielt!«
Schritte und Lachen drangen vom Flur, kamen näher. Weitere Kursteilnehmer trafen ein.
Wanda stand auf. »Es hilft nichts. Wir müssen uns was Neues überlegen.«
»Wer hat uns verraten?«
Wanda ließ den Blick über die anderen gleiten. Sie hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen.«