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13.

Schon von weitem strahlten die Laserkanonen ihr Licht in den Abendhimmel über Berlin. Hunderte von Menschen standen hinter den Samtkordeln, mit denen man den roten Teppich abgesperrt hatte. Wachmänner hatten alle Hände voll zu tun, kreischende Teenager davon abzuhalten, sich auf eine riesige Pappfigur zu stürzen: Casper Kendall mit Knarre und Diamanten.

»Wow«, flüsterte Laura, als sie aus dem Bus gestiegen waren und auf der anderen Straßenseite warteten, bis der Verkehr weiter vorne von roten Ampeln gestoppt wurde. »Das ist ja wie bei der Oscar-Verleihung!«

Limousinen fuhren vor, wurden herangewunken, und Männer in dunklen Anzügen und blütenweißen Handschuhen öffneten die Türen. Mindestens eine halbe Hundertschaft Fotografen und Kamerateams hatte sich vor einer Stellwand aufgebaut. Die Leute aus den Limousinen blieben davor stehen, lächelten, winkten und ließen sich vom Blitzlichtgewitter nicht im Mindesten beeindrucken. Die Rufe der Fotografen und das Klicken der Kameras drangen bis zu den beiden Mädchen auf der anderen Seite der vierspurigen Straße hinüber.

»Meinst du, er ist schon da?«, fragte Laura aufgeregt.

Coralie schüttelte den Kopf. Fast wäre sie im Bus eingeschlafen, aber jetzt war sie hellwach. »Die Megastars kommen erst ganz zum Schluss. Zumindest war das bei Tom Cruise so.«

»Du warst bei Tom Cruise?« Laura hob missbilligend die Augenbrauen.

»In Rock of Ages, ja. Der beste Musikfilm aller Zeiten. Ist das Kostja Ullmann?«

Lauras Antwort ging unter im Kreischen von Hunderten Kehlen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber, weil sie kleiner war als Coralie, erst recht nichts erkennen. »Keine Ahnung. Wollen wir?«

»Hast du die Einladung?«

»Das fragst du mich jetzt schon zum zehnten Mal. Ja. Bitte sehr.«

Laura wühlte in ihrem Teletubbie-Beutel. Lala war einmal einer ihrer Lieblinge gewesen, und da sie sich weder von ihm trennen noch weiter mit ihm kuscheln wollte, hatte sie kurzerhand mit einer beherzten Operation die Füllwatte entfernt, zwei alte Vorhangkordeln angenäht und die schlaffe Hülle zur Tasche erklärt. Lala sah zwar irgendwie von zwei Seiten erhängt aus, aber Laura fand das witzig.

»Ja was?«, fragte Coralie ungeduldig, als Laura nicht fand, was sie suchte.

»Sie muss doch da sein. Ich hab sie erst vorhin in der Hand gehabt!«

»Laura!«

»Da!« Triumphierend zog ihre Freundin die Karte aus Lalas Bauch.

Laura hatte sich zur Feier des Tages besondere Mühe mit ihrem Outfit gegeben. Und das hieß: ein glitzerndes Paillettentop ohne Ärmel, umfunktioniert zum Minirock, dazu Holzclogs, die sie noch am Nachmittag türkisblau lackiert hatte, und ein schlichtes weißes T-Shirt. Das allerdings war über und über mit Schleifen aus Geschenkband verziert, die sie mit Sicherheitsnadeln angeheftet hatte. Außerdem trug sie einen Haarreif mit Katzenohren.

Da Coralie wusste, dass man neben Laura outfitmäßig nur verlieren konnte, hatte sie sich für eine Jeans, ein Spaghettiträgertop und Marions schwarze Lederjacke entschieden, die ihr nur unter harten Auflagen und heiligen Schwüren überlassen worden war. Die Haare trug sie offen, und sie hatte ihre Mutter beim Styling zur Verzweiflung gebracht, weil ihre Locken selbst unter Zuhilfenahme des Glätteisens immer wieder eigenwillig in ihre Form zurücksprangen. Schließlich hatte Coralie es aufgegeben und sich stattdessen dem Make-up gewidmet: Mascara kiloweise, Lidstrich, Lippenstift und Rouge. Beim letzten Blick in den Spiegel war sie ein wenig erschrocken. Das bin ich?, hatte sie gedacht. Eine fremde, junge Frau hatte ihr entgegengeblickt. Schmales Gesicht, riesige Augen, betonte Wangenknochen. Sie fühlte sich älter, erwachsener. Genauso, wie ihr diese Rolle gefiel, genauso verunsicherte sie sie auch.

Lauras Make-up musste man nicht mehr kommentieren. Sie sah aus, als hätte sie sich ihr eigenes Manga ins Gesicht gemalt. Klitzekleines Mündchen, riesige Augen und kreisrundes Rouge in Pink.

»Also dann.« Laura packte Coralie am Arm und rannte mit ihr über die Straße.

Auf der anderen Seite machten die Leute ihnen Platz, als wäre es ganz selbstverständlich, dass dieser bunte Luftballon zu den Stars und nicht zu den Wartenden gehörte. Aber Laura trug die Einladung auch vor sich her wie der Messdiener den Weihrauch.

Am Anfang des roten Teppichs standen zwei Sicherheitsleute und checkten erst einmal, ob man nicht versuchte, sich mit einem Fake hereinzuschmuggeln. Mit einem knappen Nicken wurden Coralie und Laura weitergewiesen an einen Counter. Ein Dutzend bildhübsche Hostessen reichte den Gästen entweder ein silbernes oder ein goldenes VIP-Bändchen. Laura und Coralie bekamen ein goldenes. Dann durften sie zum Kino.

»Kneif mich«, flüsterte Laura und hängte sich bei ihrer Freundin ein. »Wer hier schon alles gegangen ist … Hallo!«

Eine kreischende Meute, wohl ein Ableger von Maries Uuuuh-Club, winkte ihnen zu.

»Ein Autogramm!«, schrie ein Mädchen, keine zwölf Jahre alt.

»Aber ich bin doch gar nicht berühmt!«, schrie Laura zurück. Überall blitzen Fotoapparate und Handy-Kameras. Am Eingang warteten schon Kamerateams.

»Mach doch nichts!« Das Mädchen kippte fast über die Absperrung vor Begeisterung.

Mit einem Schulterzucken machte Laura sich los und lief zu ihr hin. Sofort wurden ihr mehrere Notizblöcke und Papierblätter entgegengehalten. Laura kritzelte auf jeden ein kleines Manga – Coralie sah ihr über die Schulter und erkannte die Karikatur von Casper Kendall, in seinem Irreversibler unterwegs ins nächste Sonnensystem. Die kleine Göre fiel fast in Ohnmacht vor Aufregung.

»Ist das cool! Wer bist du?«

»Laura. Einfach nur Laura. In zehn Jahren kriegst du dafür eine Million.«

Sie reihten sich wieder ein in die Schlange der Gäste, die nicht abriss.

»Eine Million was?«, fragte Coralie. »Reißzwecken? Haustaubmilben?«

Laura streckte ihr die Zunge heraus. Sie hatte die Schmach vom Mädchenklo einigermaßen verkraftet, auch wenn Coralie den ganzen Vormittag gebraucht hatte, um sie dazu zu bewegen, das Schulgebäude zu verlassen. Laura hatte befürchtet, Jimi draußen zu begegnen.

Nun aber war sie wieder ganz in ihrem Element. »Da vorne!«, rief sie und deutete in die Menge, die sich vor dem Kinoeingang staute, weil Reporter ständig irgendjemanden herauspickten und mitten auf dem Teppich befragen mussten. »Da ist Marie!«

Marie stand neben einem älteren Mann, der ihr Vater sein musste, und sah nicht sehr glücklich aus. Als sie ihre Klassenkameradinnen erkannte, rang sie sich ein schnelles Lächeln ab.

»Hi. Schön, dass ihr da seid.«

Coralie wechselte einen schnellen Blick mit Laura. Das klingt aber ganz anders, sollte er heißen.

»Wo sind denn die anderen?«, fragte sie.

»Schon drinnen.«

»Ah ja. Na dann. Viel Spaß.«

Es gelang Coralie, sich an einem Tatort-Kommissar und einem bekannten Talkmaster vorbeizuschummeln, ohne von den Kameras erfasst zu werden, wie sie hoffte. Drinnen ging es mit Rolltreppen hinab in den Keller, und als sie unten ankam und sich nach Laura umdrehte, war die verschwunden. Sie suchte die Menge ab, konnte Laura aber nirgendwo entdecken. In großer Sorge – war ihre Freundin zwischen die Rolltreppen geraten? Hatte sie die Orientierung oder, schlimmer noch, das Bändchen verloren? – fuhr sie wieder hoch. Am Rande des roten Teppichs stand die Vermisste – vertieft in ein Gespräch mit einer bekannten Modebloggerin.

»Und das machst du alles selbst?«, fragte die junge Frau. Sie war groß und dünn und hatte grasgrüne schulterlange Haare. Trotzdem sahen beide aus wie durch denselben Windkanal gejagt.

»Ja!«, quietschte Laura. »Mich inspirieren die Avatare aus meinen Mangas.«

»Was, du zeichnest auch noch?«

Coralie blieb bewusst ein paar Schritte entfernt stehen. Sie wollte Laura nicht stören, auch wenn die Zeit drängte und sie immer noch keine Plätze im Kino hatten. Die Bloggerin war nett. Wenn sie lachte, hatte sie Grübchen in den Wangen. Immer wieder wurde das Gespräch unterbrochen, weil Bekannte oder Freunde von ihr auftauchten und sie mit Wangenküssen begrüßten. Laura hatte vor Aufregung einen hochroten Kopf, der nicht ganz zu den pinkfarbenen Rougepunkten passte, aber einen interessanten Kontrast zu den grünen Haaren ihres Gegenübers bildete.

Endlich war das Gespräch beendet. Aufgeregt hüpfte Laura zu Coralie.

»Ich komme in ihren Blo-hog!«, rief sie. »Ich kriege die Headline morgen früh! Ich bin das Street Girl des Tages!«

Coralie verkniff sich die Bemerkung, was die genaue Übersetzung dieses Begriffs bedeutete und in welchem Zusammenhang er einmal gestanden hatte.

»Sind wir jetzt so weit?«, fragte sie und betrat die Rolltreppe. Laura nickte und folgte ihr. Unten wartete schon die nächste Überraschung: Es gab sechs Kinos. Und in allen lief derselbe Film. Aber nur in einem, dem größten, würden Casper Kendall und Mia Myers im Anschluss auch vor den Vorhang treten. Diejenigen, die kein goldenes Bändchen hatten, mussten sich auf die kleineren Kinos verteilen.

»Dann sind wir also nicht Vip, sondern Vip-Vip?«, fragte Laura einen Kinomitarbeiter in Livree, der ihnen den richtigen Eingang zeigte.

»Sieht so aus. Ihr habt das große Los.« Er musste ein Mia-Myers-Fan sein, denn er sah ein bisschen unglücklich aus. »Da hinten gibt es Drinks und Popcorn. Bedient euch.«

Coralie musterte die Schlange vor der Essensausgabe mit gerunzelter Stirn. »Das dauert ja den halben Film, bis wir dran sind. Weißt du was?« Sie wandte sich an Laura. »Geh du rein und halte mir einen Platz frei. Ich hole uns was.«

»Okay. Bis gleich!«

Und schon war ihre Freundin verschwunden. Coralie versuchte, das Ende der Schlange ausfindig zu machen, und stellte sich an.

»Hi.«

Sie fuhr herum und im selben Moment fing ihr Herz an zu jagen. David. Und neben ihm, im Rollstuhl, sein Vater.

»Bist du also doch hier?«

Nein, das ist mein Geist, wollte sie antworten, aber der Joke blieb ihr im Hals stecken. Thomas Rumer sah nicht so aus, als ob er den Abend genießen würde. Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Armlehne seines Rollstuhls und scannte die Menge wohl gerade nach einem Fluchtweg ab.

»Guten Abend«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Rumer, abgelenkt von seiner Suche, sah sie einen Moment irritiert an.

»Ich bin Coralie«, sagte sie. »Wir kennen uns von Ihrem Geburtstag.«

Rumer ergriff ihre Hand und drückte sie. Beinahe wäre Coralie zu Boden gegangen. Er hatte immer noch eine Kraft in den Fingern, mit der er selbst eingerostete Feststellschrauben ohne Werkzeug lösen konnte.

»Waren Sie die junge Dame, die …«

»Nein, war ich nicht«, unterbrach sie ihn, bevor er ihr Schleiertänze auf dem Dach oder ein Bad in Schokoladenpudding unterstellen konnte. »Ich war nicht lange genug da, wofür auch immer.«

»Und wie kam ich zu der Ehre Ihres Besuchs?«

»Ihr Sohn hat mich eingeladen.«

»Ah. Ja. Ich erinnere mich.« Es schien nicht die schönste Erinnerung seines Lebens zu sein. »Und so sehen wir uns wieder.«

»Ja. So schnell geht das. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

Sie drehte sich um, stellte fest, dass rücksichtslose Barbaren ihren Platz in der Schlange okkupiert hatten und sie dort stehen bleiben musste, wo sie war.

»Und wer hat dich eingeladen?« David versuchte, freundlich interessiert zu klingen. Genauso gut hätte er sagen können: Erklär mir mal, wie du es geschafft hast, an der Security vorbeizukommen und auf dem gleichen Event wie ich zu sein, wenn du schon meine Einladung ausgeschlagen hast, du unwürdiger Wicht.

»Oh, du weißt doch. Ich bin ein Party Crasher«, antwortete sie. Meine Güte, war sie froh, dass sie nicht mit ihm hier war. Sie rückte ein kleines Stück vor. Das dauerte ja ewig hier.

»Alle Achtung.«

»Ach, so schwierig ist das nun auch wieder nicht. Mir kommt es vor, als wäre alles hier, was nicht bei drei auf den Bäumen war.«

Thomas Rumer verzog das Gesicht. Sie biss sich auf die Lippen.

»Ich meine … Entschuldigen Sie bitte, also ich meine es nicht so … Eigentlich … Natürlich nicht Sie, denn Sie können ja …« Sie verfranste sich völlig.

David schoss einen wütenden Blick auf sie ab.

»Stimmt«, sagte Rumer. Und lächelte. Das sah bei ihm zwar so aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen, aber es war eindeutig ein Lächeln. »Ein bisschen wahllos, das Publikum hier.«

Ein Witz von Thomas Rumer, das musste so selten vorkommen, dass sogar David die Spucke wegblieb. Sie rückten einen halben Meter auf.

»Sie sind also Davids neue Freundin? Habe ich das richtig verstanden?«

Der, um den es ging, schaute in die andere Richtung und tat so, als hätte er nichts gehört.

»Nein«, antwortete sie schnell. »Wir begegnen uns nur immer morgens am Briefkasten. Ich bringe die Zeitung.«

David schaltete sich wieder ein. »Weil sie seit Kurzem nicht mehr pünktlich kommt und man das aber in ihrer Gegenwart nicht laut sagen darf.«

»Das stimmt doch gar nicht!«

»Und wem bringen Sie die Zeitung?«, fragte Rumer.

Coralie wollte antworten, aber David war schneller. »Asta. Sie ist ihre Nichte. Und sie hat die gleichen Probleme mit diesen unzuverlässigen Leuten.«

»Oh, Moment«, unterbrach ihn Coralie und wollte das mit der Nichte und der Unzuverlässigkeit sofort klarstellen. »Das stimmt so nicht. In Wirklichkeit …«

»Könnten wir das Thema vielleicht vertagen?«, fragte David ungeduldig. »Ich will nicht ständig diskutieren, wer arbeitet und wer nicht.«

»Wobei das durchaus ein vertiefenswertes Gespräch sein könnte.« Rumer schob seinen Rollstuhl ein Stück weiter vor. »Sie haben mit David also die gleichen Diskussionen wie ich?«

Coralie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was Ihre Themen sind. Meine jedenfalls drehen sich darum, wie man durch Arbeit Geld verdient.«

Rumer nickte anerkennend. David hingegen sah im Moment aus wie Nepomuk, der Halbdrache: Durch seine ärgerlich geblähte Nase hätte jederzeit eine giftgrüne Rauchwolke entweichen können.

»Fein, dass ihr euch so gut versteht«, knurrte er. »Wollt ihr nicht zusammensitzen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Danke. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin in Begleitung hier.«

Davids Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Sie hatte eigentlich vorgehabt, ihm von Laura zu erzählen. Aber dann entschied sie sich dagegen. Was bildete er sich eigentlich ein? Dass alle anderen nicht gut genug wären, nur weil sie ihn ausgeschlagen hatte?

»David! Da bist du ja!«

Jasmin drängelte sich durch die Schlange und kam strahlend auf sie zu. Als sie Coralie entdeckte, verlor sie einen klitzekleinen Moment die Fassung, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt und lächelte alle ebenso strahlend wie wahllos an.

»Guten Abend, Herr Rumer!« Sie beugte sich zu Davids Vater herab und küsste ihn ungefragt links und rechts. Während sie das Gleiche bei David machte, wischte sich Thomas Rumer ärgerlich ihren Lippenstift ab.

»Hi, Coralie!« Jetzt war sie dran.

Coralie ließ die Begrüßung über sich ergehen. Jasmin glitzerte, klimperte, duftete, kicherte, kurz: Sie wirkte hinreißend in ihrem Flucci-Bucci-Mucci-Fummel, und eine Menge Leute drehten sich zu ihr um und beobachteten sie. Sie wusste das, denn die Bewegung, mit der sie ihre offenen glänzenden Haare nach hinten warf, wirkte wie einstudiert für einen Shampoo-Spot.

»Danke für die Einladung!« Sie strahlte David an und hängte sich bei ihm ein. Dann wandte sie sich an Coralie. »Ich dachte, du hättest keine Zeit? Irgendwie muss unsere liebe Asta da etwas durcheinandergebracht haben. Mal hü, mal hott – aber jetzt sind wir ja alle hier.«

»Hast du auch das richtige Bändchen?«, fragte David.

Sie hob ihr Handgelenk, als ob sie einen Verlobungsring präsentieren würde: Gold.

Thomas Rumer stieß einen ungeduldigen Seufzer aus, den nur Coralie mitbekam. »David, es reicht«, sagte er plötzlich. »Ich mache diese Faxen nicht mehr mit.«

Damit scherte Rumer aus der Schlange aus und rollte direkt vor den Tresen. Alle Leute machten ihm Platz, keiner murrte.

»Das macht er immer so«, knurrte David. »Auch als Rollstuhlfahrer könnte man ja ein bisschen rücksichtsvoll sein.«

Coralie hob nur vielsagend die Augenbrauen. Rücksichtnahme fordern und David Rumer sein, das passte nicht zusammen.

»Aber David.« Jasmins Stimme klang nach drei Kilo Kreide. »Er ist ein kranker, bemitleidenswerter Mann.«

»Ist er nicht.«

»Du musst ihn mehr unterstützen! Schau mal, er kommt gar nicht richtig an den Tresen heran!«

Rumer saß in seinem Rollstuhl und wirkte recht entspannt. Die Servicekraft nahm gerade seine Bestellung auf.

»Ich kann das gar nicht mit ansehen!«

Jasmin lief zu Rumer, der erschrocken zusammenfuhr, als sie seinen Rollstuhl packte und einfach mal ungefragt neu arrangierte.

»Das sollte sie lieber lassen«, grummelte David.

Coralie sah auf ihre Uhr. Sie hatte Laura schon viel zu lange allein gelassen. Und allein mit David … Sie sah ihn an und ihre Blicke trafen sich.

Der Ärger aus seinem Gesicht verschwand.

»Was hast du gemacht?«, fragte er.

»Was … Was meinst du?«

»Du siehst so anders aus.«

Es irritierte sie, dass ihm ihre Veränderung auffiel. Ehrlich gesagt hatte sie ganz vergessen, wie sorgfältig sie sich an diesem Abend auf Glamour gestylt hatte. Neben Jasmin kam sie sich zwar immer noch vor, als trüge sie einen Blaumann, aber in diesem Moment … Etwas passierte gerade mit seinen Augen. Sie bekamen einen ganz anderen Glanz. Weicher, irgendwie. Ehrlich interessiert.

»Besser?«, fragte sie, und ihr Herz begann wieder, wie wild zu schlagen. Als ob es wichtig wäre, einem Typ wie David zu gefallen.

»Nein, anders. Älter.«

Rums. Das waren die Komplimente, von denen man mit siebzehn träumte.

»Na danke. Üb mal lieber noch ein bisschen.«

Er grinste. »Ich dachte, du wärst noch in der Liga, die sich freut, wenn man sie an der Tanke für volljährig hält.«

Auch nicht besser.

»Du siehst klasse aus.« Sie merkte, dass sie rot wurde, und drehte schnell ihren Kopf weg, damit er das nicht mitbekam. »Weißt du, eigentlich bin ich froh, dass wir uns mal ohne Stress treffen.«

»Warum?«

Coralie erfuhr nicht, was er damit meinte, denn plötzlich tauchte ein Mann hinter David auf und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Hello! Fantastisch, dass du hier bist. Wir müssen miteinander reden.« Er hatte einen amerikanischen Akzent, ein Nussknackergrinsen und dunkle, akkurat kurz geschnittene Haare. Nach dem Schulterschlag packte er David auf Barack-Obama-Art am Oberarm. »Ich möchte dich dem Chef des Marketings vorstellen. Hast du eine Minute?«

Sein Blick fiel auf Coralie. »Mein Name ist Allister Coy, Chestnut Productions.«

Das war eine der Major Filmcompanies der Welt. Coy reichte ihr die Hand und er drückte glücklicherweise nicht ganz so fest zu wie Thomas Rumer. »Dein Girlfriend?«

»Nein. Sicher nicht«, klärte sie den Irrtum auf. Warum hielt sie eigentlich jeder für Davids Freundin, nur weil sie ein paar Minuten zusammenstanden? Jeder außer Jasmin, die David gerade einen halb sehnsuchtsvollen, halb eifersüchtigen Blick zuwarf. »Coralie Mansur«, stellte sie sich vor.

»Oh, sie hat Humor!« Coy lachte dröhnend. David sah sie einen Moment lang irritiert an, doch schon schlug ihm der Nussknacker auf die Schulter. »Kommt mit.«

Coralie schüttelte den Kopf. Noch zehn Minuten, dann würde der Film losgehen. Und die Schlange war nicht kleiner geworden. Thomas Rumer gab wohl gerade eine Großfamilienbestellung auf, auch das dauerte. »Äh, ich muss noch Popcorn und Cola für meine Freundin holen. Tut mir leid.«

»Die bekommst du. Es dauert nur eine Minute.«

»Sorry, aber sie wartet auf mich. Und dein Dad ist schon an der Reihe.«

Coy folgte ihrem Blick. »Wait a moment«, bat er sie und lief zu Thomas Rumer. David kniff die Augen zusammen und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. Er sah unsicher aus. So kannte sie ihn gar nicht.

»Wer ist das?«

»Das ist einer der wichtigsten Männer im Filmgeschäft und jetzt auch im Rennsport. Chestnut Productions steigen in die Formel 1 ein. Sie hätten meine Teilnahme am Challenge Cup bezahlt. Wenn …« Er brach ab und sah zu Boden.

»Wenn was?«, fragte Coralie. Selten genug, dass man mit David mal vernünftig reden konnte.

»Wenn ich keine Scheiße gebaut hätte«, presste er schließlich hervor. »Und wenn mir mein eigener Vater nicht in den Rücken gefallen wäre. Er hat Coy davor gewarnt, sich auf mich einzulassen.«

»Was?«, entfuhr es Coralie. »Das glaube ich nicht.«

»Dann frag ihn doch! Frag ihn, ob er wirklich glaubt, dass ich Rennfahrer werden kann.«

»Frag dich das lieber selbst. Oder ist dir die Meinung deines Vaters so wichtig?«

»Ja. Das ist sie. Ohne seine Unterstützung schaffe ich das nicht. Die Formel 1 ist das härteste Ding, das man durchziehen kann. Dagegen war alles andere, was ich bisher gemacht habe, Kinderkram. Das geht nur, wenn wirklich alle hinter einem stehen. Und mein Vater tut das nicht.«

»Warum nicht?«

David wies mit dem Kopf Richtung Tresen, wo Coy sich gerade zu Thomas Rumer hinunterbeugte und auf ihn einsprach. Jasmin stand daneben und sah überflüssig aus. Sie merkte das und schoss einen ärgerlichen Blick auf Coy ab, der dafür aber keinerlei Antennen hatte. Thomas schüttelte immer wieder unwillig den Kopf. Er sah kurz in ihre Richtung.

»Sie reden über mich. Mein Vater glaubt, dass mir dasselbe passieren kann wie ihm. Aber ich werde nicht denselben Fehler machen. Warum kapiert er das nicht?«

»Vielleicht, weil du andere Fehler immer wieder machst?«

Ungläubig drehte sich David zu ihr um. »Wovon redest du? Wer … Asta. Ich fass es nicht. Was hat Asta über mich erzählt? Dass ich der Sunnyboy bin, der nichts richtig auf die Reihe kriegt?«

»Na ja, ganz unschuldig bist du an diesem Eindruck wohl nicht.«

Er holte tief Luft, wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. »Ja, es stimmt. Ich hab letztes Jahr irgendwie die Peilung verloren. Alles krachte zusammen. Mein Vater … Er hatte immer noch Hoffnung, eines Tages wieder laufen zu können. Doch dann kam die endgültige Diagnose. Das hat ihn verändert. Immer war er stolz auf mich gewesen. Und auf einmal … Auf einmal wollte er, dass ich aufhöre. Warum?, hab ich ihn gefragt. Ich bin gut! Du hast es doch selbst immer wieder gesagt! Aber er wollte es nicht mehr hören. Es wurde immer schlimmer. Und ich war wohl auch kein Ausbund an Geduld.«

»Das tut mir leid.« Zum ersten Mal redete David davon, wie es wirklich in ihm aussah.

»Ich wurde schlechter. Unkonzentrierter. Nichts klappte mehr richtig. Und aus Frust habe ich ein paar Dummheiten gemacht.«

Jasmin faltete gerade den Barkeeper zusammen, weil es nicht schnell genug ging. Zwischendurch drehte sie sich immer wieder um und warf einen nervösen Blick zu David. Ganz offensichtlich gefiel es ihr nicht, dass sie sich ins Abseits manövriert hatte. Am liebsten hätte Coralie gesagt: Beruhige dich. Dein David ist der Letzte, der mich interessiert. Doch seine Worte hatten gar nicht so selbstsicher geklungen, wie sie das von ihm gewohnt war. Sie drehte sich zu ihm um – und bemerkte, dass er sie die ganze Zeit angesehen haben musste.

»Du bist schön«, sagte er, als hätte er in diesem Moment festgestellt, dass etwas anders schmeckte, als es aussah. »Nur mal so. Du solltest öfter mal … na ja …«

»Was?«, fragte Coralie, und ein gefährliches Glitzern trat in ihre Augen. »Mein Neandertaler-Fell zu Hause lassen?«

»Was hast du eigentlich? Jedes Mal, wenn ich dir was Nettes sage, haust du mir verbal eins auf die Nase!«

»Weil das, was du nett nennst, immer wie eine Beleidigung klingt?«

»Das stimmt nicht. Du siehst wirklich klasse aus. Das sagt man dir nicht oft, stimmt’s? Sonst würdest du anders reagieren.«

»Wie denn?«, giftete sie.

»Vielleicht mit einem Lächeln? Einem Danke? Einem …«

Er kam näher zu ihr. Wieder hatte sich dieses gefährliche kleine unwiderstehliche Lächeln in seine Mundwinkel gestohlen. Die Trauer über das Zerwürfnis mit seinem Vater war vergessen. Er fixierte sie, als wäre sie das Wichtigste auf der Welt.

»Einem … was?«, stammelte sie.

Er hatte verdammt noch mal recht. Viele Komplimente hatte sie nicht bekommen in ihrem Leben. Das lag aber auch daran, dass sie es – im Gegensatz zu Jasmin beispielsweise – nicht darauf anlegte. Wie würde sie in diesem Moment reagieren? Mit einem verführerischen Blick, der unausgesprochenen Aufforderung, dem Lächeln und dem Danke noch etwas folgen zu lassen? Was? Doch nicht etwa …

»Hi, Darlings!«

Sie fuhren auseinander. Die Stimme des Amerikaners riss sie heraus aus dem unsichtbaren Cocon, der sich um sie und David gebildet haben musste.

»Alles okay?«

David nickte und fuhr sich etwas nervös durch die Haare. Coralie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Sie wurde rot. Meine Güte, sie wurde rot! Was musste David von ihr denken? Dass sie ernsthaft geglaubt hatte, er und sie … würden sich … hier … vor allen Leuten …

»Alles okay«, antwortete David mit einem Grinsen. Er hatte sich wieder in der Gewalt. So schnell, wie man eine Lampe an- und ausknipste. Wahrscheinlich tat er das auch mit seinen Gefühlen. Man merkte ihm nun keine Spur von Unsicherheit mehr an.

Jasmin bekam mittlerweile eine Packung Popcorn nach der anderen herübergereicht, was nicht unbedingt zu ihrem paillettenbesetzten beigen Chiffontraum passte. Wahrscheinlich bereute sie gerade zutiefst, die süße Schwiegertochter in spe zu spielen, während die interessanten Dinge bei David abzulaufen schienen.

»Fine.« Coys Grinsen sah etwas gequält aus. »Ich wette, Darling, du hast dein Zeug früher, wenn du mit uns kommst, als wenn du hier in der Schlange stehst.«

Thomas Rumer verließ gerade seinen Platz am Tresen und rollte davon. Jasmin hatte jetzt auch noch vier Flaschen Cola vor sich stehen und versuchte, wenigstens zwei davon zu nehmen, wobei sie die Hälfte des Popcorns über ihr Kleid und auf dem Boden verteilte. Rumer verschwand in der Menge, ohne ihnen auch noch einen Blick zuzuwerfen.

»Was ist denn mit ihm los?«, fragte Coralie verwundert. Eine merkwürdige Familie war das.

David wollte seinem Vater folgen, aber Coy hielt ihn zurück.

»Lass ihn. Es ist auch für ihn nicht leicht.«

Was denn?, wollte Coralie fragen. Aber dann hielt sie sich zurück. Die Rumers gingen sie nichts an. Sie wollte einfach nur eine Cola, einen Riesenbecher Popcorn und dann ins Kino. Jasmin sah nicht so aus, als ob sie irgendetwas davon auf die Reihe bekäme. Normalerweise hätte sie ihr geholfen. Wenn Jasmin eine normal nette Person gewesen wäre und nicht diese arrogante Kleptomanin, die noch nicht mal vor den Moves anderer haltmachte. Doch noch bevor sie irgendeine Idee hatte, wie sie sich am besten verdrücken konnte, schob Coy sie bereits vor sich her über den Flur auf eine unscheinbare Tür zu.

Vor ihr standen gleich zwei finster blickende Männer mit verschränkten Armen und Kragenmikrofonen. Ohne ein Wort der Erklärung wurden sie durchgelassen.