16.
Es war eine dieser Nächte, in denen man nicht alleine nach Hause ging. Laura und Coralie zogen noch im Treppenhaus die Schuhe aus und versuchten, auf Zehenspitzen so leise wie möglich in die Wohnung zu kommen. Es war ein Uhr nachts. In zwei Stunden würde der Wecker klingeln, also lohnte es sich eigentlich gar nicht mehr, ins Bett zu gehen.
Die ganze Fahrt mit der U-Bahn hatte Laura von niemand anderem gesprochen als Casper Kendall. Seine Augen. Sein Lächeln. Seine Stimme. Sein Blick. Sein Mund. Seine Ohren. Seine Hände. Seine Haare. Seine Augen. Sein Lächeln … Coralie hatte das Gefühl, Casper besser zu kennen als ihr eigenes Spiegelbild. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer. Die Wohnung war dunkel und still. Schnell huschten sie hinein.
»Wo ist es?«, waren Lauras erste Worte.
Coralie kramte in ihrer Handtasche herum und zog das kostbare Stück heraus: eine Autogrammkarte. Sie in Lauras Tasche zu transportieren, wäre die Garantie für Fettflecke und ein Stück rohen Fisch quer über Caspers Grinsen gewesen. Der Traum aller schlaflosen Nächte hatte unterschrieben und netterweise noch drei X-e dazugesetzt. Zu mehr hatte Lauras Mut nicht gereicht, als sie ihn darum gebeten hatte. Kiss you all over … Jimis Schwester hatte definitiv ein Rad ab.
Laura riss ihr die Karte fast aus der Hand und betrachtete sie andächtig.
»Seine Augen …«
»Ja«, unterbrach Coralie ihre Freundin brutal. »Ich weiß mittlerweile, dass er zwei davon hat.«
Laura hauchte einen Kuss auf beide. Bei ihr wusste man nie so genau, ob sie sich selbst ernst nahm oder einfach nur heillos übertrieb. »Leb wohl, Geliebter. Das Leben und eine kleine, hinterhältige Göre reißen uns auseinander.«
Okay, sie übertrieb.
Laura kicherte, und Coralie lachte, ob sie wollte oder nicht, mit. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, wenn sie an den vergangenen Abend dachte. David hatte sie geküsst. Aber aus welchem Grund …
»Er hat so einen schwarzen Filzmarker benutzt, mit dem man CDs beschriftet. Hast du so was?«
»Ja. Wenn er nicht schon längst eingetrocknet ist.«
Coralie zog die Schreibtischschublade auf und begann, darin herumzuwühlen. Währenddessen griff sich Laura ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber und probierte, Caspers Schrift zu imitieren.
»Jetzt sag schon. Wo warst du die ganze Zeit, nachdem dich dieser braun gebrannte Ami abgeschleppt hat?«, fragte sie. Die Fahrt über hatte sie versucht, mehr aus Coralie herauszubekommen, aber die hatte nur sehr wortkarge Antworten gegeben.
»Bei Davids Sponsoren. Chesnut Productions. Die sind in die Formel 1 eingestiegen und wollen sich beim Experience Day auf dem Lausitzring den besten Nachwuchs sichern.«
»Und dazu gehört David?« Kiss kiss kiss, schrieb Laura, aber sie bekam den rechten Schwung nicht hin.
»Dazu hätte er gehört, wenn er letztes Jahr nicht so viel Mist gebaut hätte. – Hier.« Sie reichte ihrer Freundin einen dicken schwarzen Filzstift, den diese stirnrunzelnd musterte.
»Ich weiß nicht, ob der die richtige Größe hat.«
»Dann schreib drüber.«
»Und das Ding verhunzen? Ich hab nur die eine. Habt ihr keinen Kopierer? Dann könnten wir besser üben.«
»In der Werkstatt. Aber …«
Laura ließ den Stift sinken. »Okay. Ich weiß, es ist spät. Und morgen – na ja, genauer gesagt heute, ist Freitag. Du musst arbeiten und wir beide müssen in die Schule. Wenigstens, um unsere Zeugnisse abzuholen. Das ist die letzte Chance. Für diese Kröte und für mich. Wenn sie heute ihr Autogramm nicht kriegt, verpfeift sie mich bei Jimi. Dann kann ich nur noch auswandern oder die Schule wechseln.«
»Sag mal … Nur mal angenommen … Einfach mal rumgesponnen: Was wäre, wenn sie es Jimi erzählt und er ist tatsächlich in dich verschossen?«
Laura riss die Augen auf. »Nie. Niemals! Das wäre … Uuuuuh!«
»Pst!«, zischte Coralie. Sie öffnete so leise wie möglich die Tür und lauschte hinaus. Alles war ruhig. »Komm. Wir gehen runter.«
»Danke!«, flüsterte Laura. Sie raffte ihre Sachen zusammen und folgte Coralie in den Flur. Mit dem Schlüssel für die Werkstatt schlichen sie hinunter und über den Hof. Vor dem Tor betete Coralie, dass ihr Vater die Zargen geölt hatte. Hatte er nicht. Das rostige verzogene Eisen quietschte und machte einen Höllenlärm. Sie wagte nicht, Licht zu machen. Was, wenn Marion und René aufwachten und glaubten, Einbrecher wären in Mansurs Werkstatt eingedrungen, um … Ratlos kniff sie die Augen zusammen und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Um wertlose Schrottkarren zu stehlen?
Hinter ihr fiel ein Wagenheber scheppernd zu Boden.
»Entschuldigung!« Laura versuchte, das Teil aufzuheben, und ließ es gleich noch mal hinfallen.
»Machst du das mit Absicht?«, fragte Coralie ebenso leise wie wütend.
»Natürlich nicht! Aber hier ist alles so vollgestellt … Mach doch Licht. Das fällt weniger auf, als wenn wir hier sämtliche Blechkanister umwerfen.«
Mit einem Seufzen tastete Coralie nach dem Schalter. Das Neonlicht flackerte auf und tauchte die Werkstatt in gleißende Helligkeit. Keine gute Idee, aber jetzt war es sowieso zu spät. »Komm.« Sie schlängelte sich an zwei rostigen Karossen vorbei, an denen René gerade schraubte.
Am Ende des Raums lag das Büro. Neben der Tür war ein Fenster eingelassen, durch das man in die Werkstatt sehen konnte. Drinnen befanden sich ein Schreibtisch, dahinter die Regale mit den Auftrags- und Rechnungsordnern, ein Stahlschrank, der immer offen stand, das Telefon, ein altersschwacher Computer mit einem museumsreifen Monitor, der merkwürdige Geräusche machte, sobald er warmgelaufen war, und – der Kopierer. Es war ein einfaches Modell, mit dem man auch Scannen, Drucken und Faxen konnte.
Coralie schaltete das Gerät ein und wartete darauf, dass es betriebsbereit wurde. Dann kümmerte sie sich um die alte Filterkaffeemaschine. Ins Bett würde sie in dieser Nacht sowieso nicht mehr kommen. Mit der Glaskanne ging sie zum Waschbecken neben der Tür.
»Mensch. All die alten Siegerkränze.«
Laura deutete auf die Trophäen. Sie hingen ziemlich nachlässig an der Wand über dem Fenster. Völlig verstaubt und vertrocknet. Coralie hatte sie nie richtig wahrgenommen – vielleicht weil ihr Vater sie so unwichtig nahm.
»Grand Prix Monte Carlo.« Laura legte den Kopf schief, um die Schrift auf der Schleife erkennen zu können. »Wow. Thomas Rumer 2001. Dein Dad kennt Rumer?«
Die Kanne fiel auf den Boden und zersprang mit einem lauten Knall. Wasser spritzte hoch, Coralie sprang einen Schritt zurück. René und … Rumer?
»Sag mal …« Laura kam zu ihr und betrachtete die Bescherung. »War dein Vater mal bei der Formel 1?«
Coralie wollte gerade den Mund aufmachen, um zu antworten, da hörte sie hinter ihrem Rücken ein Geräusch.
»Ja.«
Beide Mädchen fuhren erschrocken herum. Am Eingang zur Werkstatt stand René. Er trug seinen Pyjama und die drahtigen Locken standen von seinem Kopf ab, als hätte er gerade den Finger in die Steckdose gesteckt. Sein Aufzug aber war nicht das Schlimmste. Das war der Gesichtsausdruck, mit dem er sie ansah. Coralie bemerkte die Eisenstange, die er in der Hand hielt. Vorsichtig stellte er sie an der Wand ab.
»Habt ihr ein Glück. Ich dachte, jemand ist eingebrochen. Was wird das?«
»Wir … ähm … müssen eine Kopie machen. Für die Schule. Ehrlich.«
»Und das fällt euch jetzt ein? Um zwei Uhr morgens? Wo wart ihr überhaupt solange?«
Laura sah unsicher von Vater zu Tochter. »Also, ich … Ich kümmere mich mal …« Sie schlüpfte ins Büro.
Coralie hörte, wie der Drucker startete und eine Kopie ausgespuckt wurde. »Es tut mir leid. Wir wollten niemanden wecken. Auf der Premierenparty ist es ein bisschen später geworden.«
»Premierenparty«, schnaubte René. Er ging auf das Auto zur Rechten zu und hob kurz die Abdeckplane. Nicht, dass er geglaubt hätte, die Karre wäre nicht mehr da. Einfach nur, um seinem Besuch wenigstens den Anschein von Kontrolle zu geben. »Ich dachte, für dich gibt es nur Tanzen. Und jetzt treibst du dich die Nächte auf irgendwelchen Parties herum.«
»Das tue ich nicht! Einmal. Es war eine Ausnahme.«
»Wir haben eine Menge auf uns genommen, damit du deinen Weg gehen kannst. Manche Dinge schafft man nur als Familie. Und da müssen alle an einem Strang ziehen.«
»Ja. Kenne ich. Du hörst dich schon an, als wärst du einer der Rumers.«
Ihr Vater ließ die Plane fallen. »Woher kennst du diese Leute?«
Coralie sah sich nach Laura um, aber die war gleichzeitig verschwunden und still geworden. Wahrscheinlich stand sie mit angehaltenem Atem hinter der Tür und wartete auf einen günstigen Moment zur Flucht. »Vom Zeitungsaustragen.«
»Ah ja. Und da kommt der Multimillionär mal eben so mit der Schülerin ins Gespräch und erzählt was von Familie. Ja? Rumer. Ausgerechnet der.«
»Ich kenne seinen Sohn.«
»David? Die große Hoffnung des Rennsports? Das ist ja noch schlimmer. Ist da was zwischen euch?«
»Nein!«
René gab dem Rollbrett, das unschuldig vor dem linken Auto stand, einen Tritt. Scheppernd fiel es in den Montageschacht.
Laura erschien wieder auf der Bildfläche. In der Hand die Kopie der Autogrammkarte und der Filzstift. Wenn ihr Gespür sagte, dies wäre der günstigste Moment, dann konnte Coralie sich auf was gefasst machen. »Tschüss, ich geh dann mal.«
»Das wirst du nicht.« René wies drohend auf die Tür. »Du wirst bei Coralie schlafen. Um diese Uhrzeit lasse ich dich nicht mehr auf die Straße.«
»Okay. Kein Problem. Gute Nacht dann, allerseits.«
Laura schlüpfte zur Tür hinaus. Coralie hörte noch ihre schnellen Schritte über den Hof. Ihre Freundin war aus dem Schneider. Aber sie nicht. Ein Blick ins Gesicht ihres Vaters bestätigte ihr, dass er wohl vorhatte, noch die eine oder andere Grundsatzdiskussion aufzumachen.
»Paps, ich bin müde. Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Komm mit.« Er ging aufs Büro zu und schob im Vorübergehen die Scherben der Kanne zur Seite.
»Ich kaufe eine neue«, sagte Coralie schnell, aber René schüttelte nur unwillig den Kopf. Er ging zum Stahlschrank und holte zwei Flaschen Malzbier heraus, von denen er eine an Coralie weiterreichte. Malzbier. Unentschlossen sah sie aufs Etikett. Es war eine Ewigkeit her, seit sie das getrunken hatte. Eigentlich immer nur in der Werkstatt, und dann auch nur in den wenigen Momenten, in denen ihr Vater mal Zeit für sie gehabt hatte.
»Setz dich.« Er wies mit dem Kopf auf den schiefen, wackeligen Stuhl, einen ausrangierten Bürosessel, der aussah, als sei er von einem Sperrmülllader heruntergefallen.
Vorsichtig nahm sie Platz. René ging hinter den Schreibtisch. Mit einer schnellen Bewegung schlug er der Flasche den Kronkorken ab. Coralie reichte ihm ihre Flasche, mit der er das Gleiche machte. Eine kleine Weile tranken sie schweigend. Malzbier um zwei Uhr morgens. Wie magisch angezogen wanderte Coralies Blick zu dem verstaubten Pokal. Im Halbschatten konnte man die Buchstaben der Gravur kaum erkennen. Ausgerechnet Laura hatte sie darauf aufmerksam gemacht.
»Wie lange steht er schon da?«
»Zwölf Jahre. Rumer hat ihn mir nach seinem Sieg geschenkt. Ich hatte die Zeit für den Boxenstopp von 3,2 auf 2,7 Sekunden runtergedrückt. Das war’s. Damit hat er die Kiste heimgefahren.«
»Ihr wart Freunde?«
»Freunde.« René trank wieder einen Schluck und stellte dann die Flasche ab. »So was gibt’s im Rennsport nicht. Das sind Legenden aus der guten alten Zeit. Heute geht es um den Sieg. Um Millionen. Wer keine Leistung bringt, fliegt. Das kann verdammt schnell gehen.«
»Warum hast du nie was davon erzählt?«
»Du warst noch sehr klein damals, als es passiert ist. Kannst du dich überhaupt noch an die Zeit erinnern?«
»Nur an ein paar diffuse Heldensagen«, erwiderte sie mit einem matten Lächeln. »Aber ehrlich gesagt, habe ich über die nie weiter nachgedacht.«
»Ich war wochen-, oft monatelang weg. Die Formel 1 ist der Tod für Beziehungen und Familie. Alles dreht sich nur um das eine: den Bruchteil der Sekunde. Alles spielt eine Rolle. Jede Schraubendrehung. Fünfzig Leute kümmern sich um zwei Wagen. Drei Mechaniker für jeden einzelnen Reifen. Einer allein für die Airbox. Vier für die Flügel. Und der Lollipop-Mann. Der hebt das Schild, sobald der Wechsel vorbei ist. Alle springen zurück. Der Fahrer gibt Gas. Wroammm!«
René griff wieder zur Flasche, spielte an dem Etikett. Das Malzbier war ungekühlt und viel zu süß. Sie tranken es nicht, weil sie Durst hatten. Es war ein altes, beinahe vergessenes Ritual. Solange die Flasche nicht leer ist, reden wir miteinander.
»Damals haben wir noch auf dem Land gewohnt«, sagte sie.
René nickte. »Wir hatten ein Haus, und wir träumten davon, es eines Tages auch abgezahlt zu haben. Als Mechaniker in der Formel 1 verdient man zwar besser als in einer x-beliebigen Werkstatt. Aber reich wird man nicht. Es ist der Idealismus, der die Leute an die Boliden treibt. Es ist – und jetzt lach mich nicht aus – eine so eingeschworene Gemeinschaft, ein so eingespieltes Team, dass der Boxenstopp mich manchmal tatsächlich an eine einstudierte Choreografie erinnert hat.«
Coralie grinste. »Also hab ich’s doch von dir geerbt.«
Auch René lächelte, doch er wurde schnell wieder ernst. »Ich habe Jahre gebraucht, bis ich an den Wagen durfte. Angefangen habe ich als Lastwagenfahrer. Dann durfte ich den Boden der Boxen anmalen.«
»Warum denn das?«
»Nur auf frischem Hellgrau siehst du, welche Flüssigkeit der Wagen verliert. Das verkürzt die Diagnosezeit enorm.«
»Ach so.«
»Dann kam ich an die Reifen. Das ist der Ritterschlag. Nur die Allerbesten dürfen das. Und wir waren die Besten. Rumer gewann dreimal in Folge. Wir waren ganz weit oben. Er war drauf und dran, Schumacher vom Podest zu holen. Bis …«
René schwieg. Trank dann drei große Schlucke. Seine Flasche war fast leer.
»Bis er den Unfall hatte?«
»Ja.«
Und in diesem Moment verstand Coralie, worum es eigentlich ging. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Oh Hammer! Und ein Mechaniker war daran schuld. Warst du das?«
Ängstlich sah sie ihn an. Bitte, dachte sie, bitte lass es nicht meinen Vater gewesen sein. Wie absurd: All die Jahre hatte es bei den Mansurs kaum ein anderes Thema als Autos und Rennsport gegeben. Aber dass der eigene Vater bei der Formel 1 gewesen war, dass er für Thomas Rumer in der Box war – das hatte er niemals erzählt. Es war ein Tabu. Coralies Herz zog sich zusammen, denn sie ahnte, nein, sie wusste den Grund.
René dachte nach. Langsam streckte er seine Hand aus und zog die unterste Schublade heraus. Er wühlte etwas darin herum und brachte dann ein paar uralte Zeitungen zum Vorschein. Kommentarlos warf er sie auf den Tisch.
Zögernd, fast ängstlich fasste Coralie eine an und drehte sie zu sich herum. Die Schlagzeile sprang ihr entgegen, schrie geradezu empört.
»Rumer auf Intensivstation. Mechaniker betrunken.« Sie sah hoch zu René. Der wich ihrem Blick aus. Sie nahm die nächste Zeitung. »Formel-1-Crash: Fahrfehler oder menschliches Versagen?«
»Das ist ja furchtbar …«, murmelte sie. René presste die Lippen zusammen. Es tat ihr weh, ihn so zu sehen. Die alten Wunden, sie waren nicht verheilt. Im Gegenteil.
»Rumer für immer gelähmt! Mechaniker Schuld am Crash?«
Sie schob die Zeitungen zurück. Niemand rührte sich. Es war, als ob die Zeit für einen kurzen Moment den Atem angehalten hätte.
Schließlich holte René tief Luft. »Ich war in Untersuchungshaft. Es gab einen Prozess. Ich wurde freigesprochen. Aber Rumer gibt mir bis heute die Schuld.«
»Was ist passiert?«
»Ich will mich nicht rausreden und auch nichts entschuldigen. Aber diese Rennzeiten sind mörderisch. Du arbeitest rund um die Uhr. Manchmal kriegst du nur eine Stunde Schlaf. Ich war nicht betrunken. Ich hatte ein Bier intus und das wurde eben nach ein paar Stunden im Blutwert noch festgestellt. Ich habe das Zeichen nicht gegeben.«
»Welches Zeichen?«
»Das Zeichen für den Lollipop-Mann.«
Coralie überflog die Artikel. Von einem Lollipop-Mann war nirgendwo die Rede. Alle hatten sich auf den Mechaniker René M. gestürzt. Sie sah ein Foto ihres Vaters: Jung war er, mit wilden halblangen Locken und einem dicken schwarzen Balken vorm Gesicht.
»Wir hatten die Positionen getauscht, weil einer unserer Mechaniker ausgefallen war. Das wusste Rumer nicht. Er sah, wie einer das Zeichen gab – an der Position, die ich normalerweise hatte. Zu früh, und das führte zu dem Unfall.«
»Warum konntest du denn deine Unschuld nicht beweisen?«
»Weil es keiner mehr gewesen sein wollte. Niemand hat gesagt: Ich war’s. Bei einem Boxenstopp richtest du alle Aufmerksamkeit für ein paar Sekunden auf die Handgriffe, die wichtig sind. Da schaust du dich nicht um und registrierst, wer wo steht. Hinterher wollte es keiner gewesen sein und Rumers Aussage blieb hängen. Er glaubte, mich vorne gesehen zu haben. Ich war aber hinten. Doch plötzlich konnte sich keiner mehr daran erinnern. So ist das mit der Freundschaft und der Kameradschaft im Big Business. Sie hatten mich ausgedeutet und ich hatte 0,1 Promille im Blut.«
»Das heißt, der wahre Schuldige läuft immer noch frei rum?«
»Der wahre Schuldige ist Rumer selbst. Um eine Zehntelsekunde zu sparen, hat er nicht auf das Signal des Lollipop-Mannes gewartet. Er ist gleich losgefahren. Aber das wurde natürlich unter den Teppich gekehrt von ihm.«
René trank den letzten Schluck und stellte die Flasche etwas lauter ab, als es nötig gewesen wäre. Die Sprechstunde war beendet.
Für ihn, aber nicht für Coralie. »Habt ihr je darüber gesprochen?«
»Nein. Sein Leben war zerstört. Was hätte es genutzt? Ich hätte so oder so nie wieder in der Formel 1 arbeiten können. Die Leute haben mit Fingern auf uns gezeigt. Die Presse war außer Rand und Band. Daran hatte Rumer keine Schuld.«
»Aber er hätte doch alles richtigstellen können!«
»Hat er aber nicht. Was willst du jemandem sagen, der für sein Unglück einen Sündenbock braucht, damit es für ihn erträglich wird?«
»Er hat auch dein Leben zerstört.«
René sah sie an. Und mit einem Mal spielte ein kleines, fast zärtliches Lächeln um seine Lippen. »Nein. Das ist ihm nicht gelungen. Denn ich hatte eine Familie, die zu mir hielt. Auch in den härtesten Zeiten. Als unser Haus zwangsversteigert wurde. Als die Schulden uns fast den Hals abgedreht haben. Als wir wegziehen und ganz neu anfangen mussten – Marion war immer an meiner Seite. Ich weiß nicht, womit ich diese wunderbare Frau, deine Mutter, verdient habe.«
Coralie schluckte. So vieles wurde ihr jetzt erst klar.
»Und dich, Coralie. Wie viel Mut und Stärke wir dir abverlangt haben, alles hinter dir zu lassen und noch mal ganz neu anzufangen. Ein Kind warst du, gerade mal in die Schule gekommen. Du hattest erste Freundschaften geknüpft. Und dann – Hals über Kopf weg. Denkst du, wir haben nicht bemerkt, wie schwer es dir gefallen ist? Wie oft du nachts geweint hast? Wie lange es gedauert hat, bis du wieder Anschluss gefunden hast? Und glaubst du nicht, es war bitter für uns, dir noch nicht mal ein neues Fahrrad kaufen zu können?«
»Ich«, flüsterte Coralie, »ich hab geglaubt, ihr hättet nicht bemerkt, wie es mir ging.«
René stand auf und kam um den Schreibtisch herum auf sie zu. Er zog sie hoch, nahm sie in die Arme und strubbelte ihr durch die Haare. »Das haben wir, Chouchou, das haben wir. Und ich bin stolz auf das, was wir gemeinsam erreicht haben. Aber den Namen Rumer will ich nie wieder in unserem Haus hören.«
Coralie suchte nach Worten. »Und … David?«
»David?« Er hielt sie auf Armeslänge von sich weg und musterte ihr Gesicht. »Ist da etwas? Sag die Wahrheit.«
»Da ist nichts.«
»Halte dich fern von ihm, das ist alles, was ich dazu sagen kann. Lass dir von diesen Leuten nicht den Kopf verdrehen. Ich bin einmal auf einen Rumer hereingefallen. Ich habe alles gegeben. Alles geopfert. Doch als es darum ging, mir mit einem einzigen Satz den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, da war ich für ihn auf einmal weniger als ein Nichts. Denk daran. Denk immer daran, was die Rumers uns angetan haben.«