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18.

Laura kam zur zweiten Stunde und wachte erst kurz vor der großen Pause auf. Aber an regulären Unterricht war an diesem Tag sowieso nicht mehr zu denken. Sie hatten einen Film über Urwaldschweine angesehen – warum ausgerechnet darüber, erschloss sich niemandem so recht. Und so hatte Laura fast unbemerkt hineinschlüpfen und weiterschlafen können.

Zeitgleich mit dem Klingeln sprangen sie auf und rannten in die Mädchentoilette. Dort schlossen sie sich in einer Kabine ein, nicht ohne sich vorher zu überzeugen, dass von Jimis kleiner Schwester weit und breit nichts zu sehen war.

»Zeig schon!«

Laura kramte in ihrer Tasche und zog die Karte hervor. Sie hatte sie in ihren Deutschordner gelegt, weshalb sie den Transport zwischen Krümeln und angebissenen Äpfeln einigermaßen heil überstanden hatte.

»Ich hab noch geübt, während du mit deinem Dad gesprochen hast. Was kam da eigentlich bei raus?«

»Nichts«, sagte Coralie und griff nach der Karte. »Wow! Saubere Arbeit. Du solltest dir überlegen, ob du nicht ins kriminelle Fach wechseln willst.«

Über Casper Kendalls strahlendes Gesicht waren mit Schwung zwei Zeilen geworfen: Kiss you all over und We will see again.

Coralie runzelte die Stirn. »Fehlt da nicht ein Wort?«

»Wo?«

»Na hier. ›We will see again‹. Wir werden noch mal sehen?«

»Ist doch egal. Das klingt sogar echter. So nach: Lass uns lieber noch mal drüber schlafen, und zwar am besten getrennt. Wer glaubt denn im Ernst, Casper würde sich mit so einer hässlichen Zahnspange verabreden?«

»Meint ihr mich?«

Laura schlug die Hand vor den Mund. Coralie hielt den Atem an. Nach einem Moment der Stille, die nur von der Klospülung nebenan unterbrochen wurde, wurde ungeduldig an ihre Tür geklopft.

»Seid ihr da drin? Ich hab euch gehört. Gerade heute Morgen habe ich mit Jimi …«

Laura entriegelte in Sekundenschnelle und stieß die Tür auf. Mel konnte gerade noch ausweichen.

»Du kleine Bestie. Was hast du mit Jimi gerade noch heute Morgen?«

»Über dich geredet.«

»Und was?«

Mel klimperte mit den Wimpern und streckte auffordernd die Hand aus. »Wir hatten einen Deal.«

»Erst sagst du mir, was du ihm gesagt hast.«

»Meine Güte, okay. Ich hab gesagt, dass ich es nicht mehr mache. Ihm dauernd die Liebesbriefchen hinterhertragen, die ihm schmachtende Elftklässlerinnen schreiben.«

»Ich hab noch nie … Und würde auch nicht im Traum …!«, rief Laura. »Du hast versprochen, dass du die Klappe hältst!«

»Wenn ich mein Autogramm kriege.«

Laura drehte sich zu Coralie um. Coralie hob die Autogrammkarte hoch, zeigte sie Mel, die übers ganze Gesicht zu strahlen begann, und schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt: Auch mir steht’s bis hier, schmachtenden Neuntklässlerinnen ihre Autogramme hinterherzutragen. Für Mel, kiss you all over. We will see again, forever yours. Casper. Wie schade. Ich spül das jetzt mal ins Klo.«

Sie warf so schnell die Tür zu, dass Laura und Mel zu spät kamen und nur noch wütend dagegen hämmern konnten.

»Bist du verrückt?«, schrie Laura.

»Hast du sie noch alle?«, heulte Mel.

»Ihr spinnt, alle beide. Wenn ich nicht sofort höre: Coralie, wir versprechen hoch und heilig, vernünftig zu sein, dann mache ich Ernst.«

»Nein!«, jammerte es aus zwei Kehlen.

»Also?«

Mel trat gegen die Tür, sodass sie im Rahmen zitterte. »Ich weiß gar nicht, was das soll! Ich wollte nur ein Autogramm, ja?«

»Und du hast Laura erpresst. So einen Scheiß unterstütze ich nicht. Verstanden?«

»Hallo?«, fragte Laura. »Ich bin das Opfer! Könnten wir die Sache mal langsam klarmachen, bevor die Pause rum ist?«

»Erst, wenn Mel schwört, dass sie aufhört mit ’der Erpresserei.«

»Ich schwör’s!«, brüllte Mel. Sie musste außer sich sein vor Aufregung.

Coralie fächelte sich mit der Karte Luft zu. »Schummelt sie auch nicht? So gekreuzte Finger und all das?«

»Nein«, knirschte Laura. »Sie hat schon kapiert, dass wir jederzeit den Spieß umdrehen und erzählen können, wie verrückt sie nach Casper ist.«

»Ihr seid das Letzte!«

»Und zum Beweis haben wir das Autogramm«, fuhr Coralie fort. »Patt. Also? Willst du das Ding oder nicht?«

»Ich will!«

»Ein bisschen freundlicher, bitte«, fuhr Coralie genüsslich fort. »So wie in der Kirche. Ja, ich will. Und ich gelobe, meinen vorlauten Mund zu halten und meine Stimme allenfalls zum Lobe Lauras und Coralies zu erheben. Klar?«

Stille.

Coralie legte das Ohr an die Tür. »Was ist? Heult sie?«

»Fast«, sagte Laura.

»Ich gelobe«, murmelte Mel.

Coralie öffnete die Tür. Jimis kleine Schwester stand da mit gesenktem Kopf.

»Hier.« Coralie reichte ihr Caspers Grüße.

Zögernd sah die Kleine hoch und griff danach. Als sie das Bild betrachtete und die Sätze las, strahlte sie. »Oh Mann! Ihr seid die Besten! Wenn ich das den anderen zeige!«

»Hm, ja.« Coralie beschloss, die Strenge noch ein bisschen weiterzuspielen. »Also von mir aus kannst du Jimi ruhig gegen seine Verehrerinnen abschirmen. Aber mach bei Laura ab und zu eine Ausnahme. Die ist es nämlich wert.«

»Nein!« Erschrocken fuhr Laura herum. »Was sagst du denn da?«

»Keine Sorge.« Mel grinste schon wieder. »Er wird immer ganz rot, wenn er dich auf dem Schulhof sieht. Soll ich mal was arrangieren? Kostet aber ne Cola.«

»Raus!«, brüllten Coralie und Laura wie aus einem Mund.

Mel fegte zur Tür und verschwand.

»Gerettet«, stöhnte Laura auf und wankte zum Waschbecken. »Vorerst.

Die Pausenklingel läutete die letzte Stunde vor den Ferien ein. Vor dem Klassenzimmer gerieten sie mitten in die Uuuuh-Sisters, die sich um Marie scharten. Der blieb das Lachen aber im Hals stecken, als sie die beiden Neuankömmlinge bemerkte.

»Wahnsinn! Und er hat dir zugelächelt?«, fragte eine Verehrerin aus der Parallelklasse.

»Ja«, antwortete Marie zerstreut und wollte schnell durch die Tür.

»Erzähl von der Party«, sagte eine andere und ließ einen vielsagenden Blick über Coralie und Laura streifen. »Auf die kam ja nicht jede. Stimmt’s?«

Marie wurde rot. »Nein.«

Laura reckte sich, um an Coralies Ohr zu kommen. »Marie war gar nicht da. Erinnerst du dich? Sie hatte noch nicht mal ein Bändchen fürs Premierenkino.« Sie streckte den anderen ihr Handgelenk entgegen, an dem sie immer noch den billigen Plastikstreifen trug. »Komisch, wir waren da. Hab dich gar nicht gesehen.«

Um sie herum wurde es still. Alle Augen ruhten auf Marie. Die wurde noch röter und sah zu Boden.

»Aber ich«, sagte Coralie.

Überrascht hob Marie den Kopf.

»Sie stand die ganze Zeit mit ihrem Vater bei den Typen von Casper. Erinnerst du dich nicht mehr, Laura?«

Ihre Freundin starrte sie mit offenem Mund an. Dann auf einmal schluckte sie. »Klar. Jetzt erinnere ich mich. Stimmt. Dein Vater sollte nach L.A., glaube ich, um die nächsten Chestnut-Produktionen anzusehen.«

»Das dürfen nur ganz wenige Kinobesitzer«, fabulierte Coralie munter weiter. »Aber vielleicht nimmt er ja seine Tochter und zwei ihrer allerliebsten, besten Freundinnen mit?«

Sie klimperte Marie übertrieben an. Und die lächelte. Unsicher zwar, aber sie lächelte. Das Mädchen aus der Parallelklasse hob seine Tasche auf.

»Das hättest du auch gleich sagen können.«

»Ich glaube, das darf sie gar nicht. Alles, was die da abkaspern, ist ja immer hochgeheim. Stimmt’s?«

Marie nickte zögernd. »Stimmt.«

Coralie und Laura gingen gemeinsam in den Klassenraum zu ihren Plätzen. Als Marie und ihre Planeten außer Hörweite waren, rutschte Laura ein Stück näher an ihre Freundin heran.

»Warum hast du das gemacht? Sie gibt an wie eine Tüte Mücken. Vielleicht wäre es ganz gut gewesen, wenn man sie mal von ihrem Podest geholt hätte.«

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass sie keine Freunde hat?«

Laura drehte sich kurz zu dem Mädchen um. »Sie ist doch ständig umgeben von dieser gackernden, albernen Horde«, antwortete sie in völliger Verkennung der Tatsache, dass sie die halbe Nacht mit nichts anderem als Gackern, Herumalbern und dem Anbeten von Caspers Konterfei verbracht hatte.

»Das sind keine Freunde. Das sind Leute, die Kino-Freikarten wollen. Marie macht das mit, weil sie Angst hat, ganz allein dazustehen, wenn sie mal Nein sagt.«

»Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Weil du immer an Jimi denkst.«

»Ist nicht wahr!«

»Ruhe!« Frau Krispall, die Klassenlehrerin, kam mit ihrer berühmten blauen Mappe ins Zimmer. Sie legte sie auf dem Tisch ab und betrachtete die Klasse mit strengem Blick.

Die nächste halbe Stunde verging damit, dass jeder Einzelne nach vorne geholt, gelobt oder sanft getadelt wurde und sich dann mit seinem Zeugnis wieder in die Bank verziehen durfte.

»Coralie Mansur.« Frau Krispall hielt das Blatt hoch. »Was möchtest du eigentlich nach dem Abitur studieren?«

»Ich weiß es noch nicht.« Zögernd stand Coralie auf und ging nach vorne. »Ich will erst eine Tanzausbildung machen.«

»Tanzen. Bist du dir da sicher?«

»Ja«, antwortete Coralie mit fester Stimme.

Frau Krispall seufzte. »Wie schade. Mathematik und Physik sind deine Stärken. Naturwissenschaften. Computer. Elektronik. Jahrgang für Jahrgang versuche ich, Mädchen davon zu überzeugen, auch mal über einen technischen Beruf nachzudenken. Du bist so begabt.«

Ja und?, hätte Coralie am liebsten gefragt. Ich will aber nicht.

»Hier. Hervorragend. Wenn du so weitermachst, könntest du direkt an die TU. Denk wenigstens noch einmal darüber nach.«

»Mach ich.«

Coralie nahm ihr Zeugnis und ging zurück zu ihrem Platz.

»Laura?«

Mit einem Seufzen erhob sich ihre Freundin und ging nach vorne. Frau Krispall musterte sie mit einem rätselhaften Blick.

»In allen Fächern ausreichende, allerhöchstens befriedigende Noten. Bis auf Kunst. Eine glatte Eins. Was ist denn dein Berufswunsch?«

»Ich will nach Japan gehen und Mangas zeichnen.«

»Mangas?«

»Comics. Spezielle Comics. Japanische eben.«

Die Klasse kicherte. Es gab niemanden, der einen so ausgefallenen Berufswusch hatte. Und keine, der man das Erreichen ihres Zieles mehr zutraute als Laura.

»Ich gehe nach dem Abi nach Kyoto. An die Seika University.«

»Kannst du denn japanisch?«, fragte Frau Krispell erstaunt. »Ich denke, deine Familie kommt aus Korea.«

»もㄥレぽ㒱ㄥヨホ㗟㐈㑂ㄥぽチ«, antwortete Laura, hob die aneinandergelegten Handflächen und verbeugte sich leicht.

»Nun denn, streng dich an, dass es was wird mit dem Abi.«

»Hai. Sayonara

»Sayonara«, wiederholte Frau Krispell verblüfft.

»Ich wusste gar nicht, dass du nach Kyoto willst.« Coralie und Laura gingen gemeinsam zum Bus. »Wie willst du das machen?«

»Es gibt Stipendien. Ich hab vor ein paar Wochen mal ein paar Zeichnungen aus Spaß hingeschickt. Erinnerst du dich? Und sie haben gesagt, ich soll mich auf jeden Fall im nächsten Jahr melden.«

»Warum hast du mir davon nichts gesagt?«

Laura spielte mit Lala herum. »Du hattest nur das Tanzen im Kopf. Da wollte ich nicht mit meinem Kram dazwischenkommen.«

»Dein Kram? Aber das ist dein Leben! Das ist eine Wahnsinnsentscheidung! Du hättest mit mir darüber reden können.«

»Nein, konnte ich nicht. Immer, wenn ich mit meinen Mangas angefangen habe, hast du mich abgewürgt.«

»Das stimmt nicht!«

»Doch. Khaled hier, Wanda da. Moves und Dances und Choreos und Schritte … Ich versteh ja, wie wichtig es dir ist. Und ich wollte es für mich behalten, bis ich eine Antwort gekriegt hätte.«

»Aber …« Coralie spürte immer noch den Stich, den ihr Lauras Offenbarung in der letzten Unterrichtsstunde versetzt hatte. »Dann hättest du mich unterbrechen sollen.«

»Das ging nicht, und wenn man es mit Gewalt machen muss, ist es irgendwie blöd.«

»Ja.« Coralie war enttäuscht. Von Laura, von sich, und dann wieder von Laura, die sie mit der Nase auf ihren Tunnelblick gestoßen hatte. »Klar, ist blöd.«

»Ich wollte es dir sagen!«

»Wann?«

»Irgendwann. Nach London. Wenn du mal wieder klar im Kopf bist und auch an andere Dinge denken kannst als an deinen Battle gegen Jasmin und David und deinen Tanz-Tick.«

»Tanz-Tick?«

»Ich meine das nicht so. Ich weiß nur nicht, wohin du eigentlich willst.«

»In den Workshop von Khaled.« Der Stich tat jetzt richtig weh. »Dahin will ich. Ich dachte, du wüsstest, was er mir bedeutet.«

»Klar. Weiß ich doch. Ich weiß nur nicht, warum. Du tanzt toll. Du bist wirklich erste Klasse. Wahnsinn. Und trotzdem …«

»Trotzdem was?« Coralie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Was wollte Laura ihr sagen?

»Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, du machst es nicht für dich selbst. Du willst irgendwas beweisen. Aber ich weiß nicht, was.«

Der Bus bog um die Ecke. Er blieb mit gesetztem Blinker auf der Kreuzung stehen und wartete darauf, dass er zu ihnen abbiegen konnte.

»Ich tanze, seit ich ein kleines Kind bin«, sagte sie mit rauer Stimme. »Es hat nie was anderes gegeben.«

»Das Quad-Fahren, kaum als du neun warst? Die Modellautos, die du noch vor Jahren zusammengebaut hast? Die Fahrräder der ganzen Nachbarschaft, die du repariert hast? Du warst nie eine Tutu-Tussi. Das Tanzen ist großartig. Wirklich. Aber ist es wirklich das, was du dir mit ganzem Herzen ersehnst?«

»Ja. Natürlich.«

»Okay. Dann lass uns nicht mehr weiter darüber reden.«

Der Bus fuhr an und hielt an der Haltestelle. Die Türen öffneten sich.

Laura stieg ein und sah sich nach Coralie um. »Willst du nicht mitfahren?«

Coralie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will noch ein paar Schritte gehen. Tschüss.«

»Aber –«

»Tschüss!«

Sie drehte sich um und lief los. Sie wollte nicht, dass Laura sah, wie sie sich fühlte. Die beste, einzige Freundin, die sie hatte, glaubte nicht an sie. Das war bitter. Das war so ziemlich das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte.

»Coco!«

Sie lief schneller. Rannte los. Fegte um die nächste Ecke und verlangsamte erst ihre Schritte, als der Bus auf der Hauptstraße schon längst vorbeigefahren war.

Noch zwei Wochen. Dann wäre sie in London. Und dann würde sie alle, die an ihr zweifelten, eines Besseren belehren.