19.
Es waren lange zwei Wochen. Dazu verschlechterte sich auch noch das Wetter, es wurde kühl und windig. Wenige Tage vor Coralies Abreise fing es an zu regnen und hörte nicht mehr auf. Nein, es regnete nicht, es schüttete wie aus Kübeln. Coralie hatte zwar eine Plane über dem Anhänger, aber die Zeitungen wurden trotzdem nass. Fluchend stopfte sie sie in die Briefkästen und Röhren. Seit dem letzten Schultag hatte sie nichts mehr von Laura gehört.
Halt, das stimmte nicht. Laura rief gefühlte dreißig Mal am Tag an, aber nie ging Coralie an ihr Handy. Sie wollte nicht mit ihr reden. Der Schmerz und der Vertrauensverlust saßen einfach zu tief. Was war schiefgelaufen? Die beste Freundin behielt ihre Zukunftspläne für sich und hielt die von Coralie für … für was? Eingeredete Träumerei?
Dafür schufte ich nicht seit Wochen, dachte sie grimmig. Dafür stehe ich nicht jeden Morgen um drei Uhr auf. Dafür laufe ich nicht in tropfnassen Chucks durch die Pfützen. Sie steckte die nächste Zeitung mit so einer Wut in den Kasten, dass die Titelseite als aufgeweichtes Papierknäuel draußen hängen blieb. Egal. Sollten die Leute froh sein, bei diesem Wetter überhaupt was zum Lesen zu haben. Als sie in den Tannenweg einbog, stand Asta mit einem Schirm vor dem Gartentor und schüttelte den Kopf.
Also wieder keine Nachricht von David. Das war ja klar. Eigentlich wartete sie nur noch auf Davids Einladung, um sie ihm theatralisch vor die Füße zu werfen.
Nach allem, was René ihr erzählt hatte, wollte Coralie mit den Rumers am liebsten gar nichts mehr zu tun haben. Aber sie hatte ein Versprechen gegeben … wenn er mit seinem Vater reden würde. Sie steckte die nächste Zeitung in den Kasten und zog die Kapuze ihrer Regenjacke noch tiefer ins Gesicht. Warum ließ sie sich ständig von anderen Leuten in die Zwickmühle bringen? Das Autogramm von Casper – damit Laura sich vor Jimi nicht unendlich blamierte. Ihr braves Pfötchen-Geben bei Davids Sponsoren – damit die nicht absprangen und ihm noch eine Chance gaben. Und sie? Wer dachte an sie?
Das hätte sie David natürlich gerne persönlich gesagt. Mit ganz großem Auftritt und die Einladung vor die Füße pfeffern – wenn sie sie denn gehabt hätte. Das war vielleicht die größte Niederlage. Erst händeringend um Hilfe gebeten werden – und dann vergessen.
Dabei waren sie immerhin eine halbe Stunde … Noch so eine ungeklärte Frage! Ein Paar gewesen? Zu viel. Bekannte? Zu wenig. Beziehungsstatus: Es ist kompliziert bzw. es gibt keinen. Zu diesem Schluss schien wohl auch David gekommen zu sein. Merde.
Coralie warf zwei Exemplare für die Rumers über das Garagentor. Sie hörte, wie sie auf den Boden klatschten. Im selben Moment tat es ihr leid. Nicht wegen der Hausbewohner. Solche dämlichen Aktionen wurden vom Lohn abgezogen.
»Guten Morgen!«, rief Asta und eilte über das Kopfsteinpflaster auf sie zu. Dabei hob sie den Kimono an, um den Saum wenigstens halbwegs trocken zu halten. »Kind, komm rein. Der Tee ist schon fertig. Nur fünf Minuten, die müssen doch bei so einem Wetter drin sein!«
Coralie stellte das Rad ab. Zum einen, weil gegen Astas Entschlossenheit keine Entschuldigung half, zum anderen, weil sie wirklich eine Pause brauchte. Sie fühlte sich schlapp und ausgelaugt. Hoffentlich wurde sie nicht krank.
Der Tee roch zumindest so, als würde er jede Art von Infekten schon beim Inhalieren heilen.
»Salbei, Minze, Kamille, Fenchel …« Asta goss ein und schob den Teller mit den unvermeidlichen Haferkeksen über den Tisch.
Coralie schüttelte den Kopf. »Danke. Ich hab schon gefrühstückt.«
»So siehst du aber nicht aus. Ganz dünn bist du geworden. Kommt das vom Tanzen oder hast du Kummer?«
»Nein, nein. Halt. Abschiedskummer vielleicht.«
Asta setzte die Kanne ab, aus der sie sich eben nachgeschenkt hatte. Stille breitete sich aus. In dieser Stille stand, wohl nur für sie beide sichtbar, ein riesengroßes Fragezeichen. Jeden Morgen hatte Coralie gefragt, ob es Nachricht von David gab. Jeden Morgen die gleiche Antwort: Nein.
»Am Freitag ist meine Vertretung zu Ende. Die vier Wochen sind rum. Ich war doch nur die Aushilfe.«
Coralie schenkte der alten Dame ein Lächeln, das irgendwie entschuldigend wirken sollte. Sie hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. So, als ob sie vor der Zeit die Segel strich. Dabei kamen ihr diese vier Wochen vor wie die längsten ihres Lebens.
Asta nahm sich gedankenverloren drei Stück Zucker. »Das hatte ich ganz vergessen«, sagte sie. »Dann kommt ja Frau Wörner wieder. Und alles ist wieder beim Alten.« Sie rührte in ihrer Tasse herum. »Nicht, dass ich das begrüßen würde. Sie trinkt Kaffee und ist nur bedingt unterhaltsam.«
Es klang, als sei beides eine schlimme, charakterliche Schwäche. Aber Coralie wusste, was Asta meinte.
»Ich komme dich besuchen. Wenn ich darf.«
»Aber natürlich, mein Kind. Jederzeit. Wann geht es denn nach London?«
»Noch am gleichen Tag.« Coralie strahlte. »Der Flug ist schon gebucht. Ich komme vormittags an und am Nachmittag habe ich meinen Termin.«
»Und du wirst sie alle, alle überzeugen.«
Coralie seufzte. Genau das war der wunde Punkt. Seit Lauras Andeutungen war es, als ob ihr Selbstvertrauen einen ziemlichen Knacks bekommen hätte.
»Oder?« Asta schenkte ihr einen besorgten Blick. »Was ist los?«
»Ich weiß nicht. Kennst du das? Jemand, der einem unheimlich wichtig ist, glaubt nicht an einen. Das ist, als würde man einem Luftballon die Luft rauslassen. Und dann liegt das schlappe Ding auf dem Fußboden und man denkt: Was? Ist das alles?«
»Oh. Eine Sinnkrise.«
»Ich weiß, ich will es machen und ich werde es auch tun. Ich habe so dafür gekämpft, ich gebe nicht auf den letzten Metern auf. Aber mir fehlt die Unterstützung. Der Glaube. Das Vertrauen. Das hat Laura mir gegeben. Bis …«
»Bis was?«
»Sie denkt, das mit dem Tanzen ist nur ein Tick. Aber sie selbst weiß natürlich genau, was sie machen will. Mangazeichnen studieren, in Kyoto. Das ist doch genauso verrückt.«
Kopfschüttelnd hob Asta die Tasse an den Mund und trank einen Schluck. »Mangos zeichnen? In der Tat, davon habe ich noch nie gehört.«
»Mangas. Das ist eine besondere Art von Comics.«
»Ach so. Ja, wenn sie das unbedingt will. Was ist dagegen einzuwenden?«
»Nichts. Nur … Sie glaubt eben nicht, dass ich auch etwas unbedingt will.«
Asta schenkte ihr einen langen, rätselhaften Blick. Zu ihrem Entsetzen merkte Coralie, dass sie rot wurde.
»Ich meine das Tanzen«, presste sie heraus. »Sonst nichts.«
»Ich hatte auch nichts anderes angenommen, meine Liebe.«
Coralie hatte das Gefühl, mit diesem Gespräch nicht weiterzukommen. »Danke für den Tee, Asta. Wir sehen uns ja bestimmt noch. Ich muss jetzt weiter.« Sie stand auf.
»David …«, sagte Asta. Coralie setzte sich wieder. »Was ist da zwischen euch beiden?«
»Nichts.«
»Und trotzdem hast du mich gefragt, ob er etwas für dich abgegeben hat. Einen Liebesbrief vielleicht? Sollte ich den Postillon d’amour spielen?«
»Nein! Bewahre!
Der Tag begann gut. Lauter Themen, die sie am liebsten auf einen Zettel geschrieben und anschließend verbrannt hätte.
»Er wollte, dass ich auf den Lausitz-Ring komme. Zu diesem Experience Day, bei dem sein Hauptsponsor die letzten Kandidaten für den Challenge Cup sucht. Als seine brave, solide, nette, blöde Begleitung. Hätte er mich wenigstens als Boxenluder gecastet.«
»Boxenluder? Was ist das?«
»Nichts, Asta. Vergiss es. Ich habe mich überreden lassen, bei seinem Sponsor einen auf braves Mädchen zu machen. Das hat er in diesem Moment gebraucht und danach durfte der Lückenbüßer wieder abdampfen.«
»Das tut mir leid. So kenne ich ihn gar nicht.«
»Aber ich«, knirschte Coralie. »Den Lausitz-Ring kann er vergessen. Keine zehn Pferde bringen mich dahin.«
»Den Lausitz-Ring?« Asta zog scharf die Luft ein und griff sich ans Herz. »Was ist mit dem Lausitz-Ring?«
»Da sollte ich hinkommen und allen was von geordneten Verhältnissen vorspielen. Fahrerlager, Boxengasse und was weiß ich noch. Ihn anfeuern. Tut ja wohl sonst keiner. Aus gutem Grund.« Sie sprang auf. »Ich muss weiter, Asta.«
»Nein! Warte. Das ist doch … Moment.« Sie ging zu ihrer Anrichte und wühlte zwischen alten Zeitungen, Supermarktprospekten und Rechnungen herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Einen Umschlag, der aussah wie Werbung für Autorennen.
»Ich dachte, das sei ein Versehen. Manchmal landet was von den Rumers bei mir, und ich wollte es eigentlich zurückgeben, aber dann habe ich es vergessen.«
»Was?«, fragte Coralie und hielt den Atem an.
»Das.«
Asta reichte ihr den Umschlag. Coralie riss ihn auf. Heraus fiel eine Eintrittskarte, ein »Access all areas«-Ausweis und ein Schreiben des Veranstalters, der sich wahnsinnig freute, sie, Coralie Mansur, auf dem Lausitz-Ring zu begrüßen.
»Meine Einladung!«
»Ja. Offensichtlich. Es tut mir leid.«
Coralie ließ den Brief sinken. »Ich kann nicht hin.«
»Liebes, glaube mir: Wenn David will, dass du dabei bist, musst du ihm sehr viel bedeuten. Du bist die Erste, der er das erlaubt. Mehr noch: die Erste, die er wirklich und wahrhaftig an sich heranlässt an einem solchen Tag. Bitte glaube mir das.«
»Ich kann nicht!«
»Aber warum denn nicht? Redest du dir immer noch ein, nur ein Aushängeschild zu sein? Das ist nicht wahr. Auf so etwas würde David sich nie und nimmer einlassen. Ich habe doch bemerkt, wie er dich angesehen hat. Neulich, auf dem Fest.«
»Das ist unwichtig –«
»Nein!« Asta hob die Stimme, und zum ersten Mal bekam Coralie eine Vorstellung davon, welche Power diese Frau einmal gehabt haben musste. »Es ist nicht unwichtig! Und weißt du, warum? Weil ich David mag. Ich gebe zu, ich habe ein gewisses Defizit in verwandtschaftlichen Beziehungen. Und jetzt zu erklären, er wäre wie ein Sohn für mich, führte zu weit. Vor über zehn Jahren, als Thomas Rumer aus der Klinik entlassen wurde, stand David hier in meinem Garten. Er war sechs, höchstens sieben Jahre alt.« Asta trat ans Fenster und sah hinaus. »Er hatte den Arm voller Modellautos. Das war seine ganz große Leidenschaft. Diese kleinen Flitzer, mein Gott.« Sie schüttelte den Kopf. »Er legte sie vor mir auf den Boden und sagte: ›Asta, das ist alles, was ich habe. Ich schenke sie dir, wenn du uns nicht aus dem Haus wirfst.‹«
»Welches Haus?«, fragte Coralie.
»Das, in dem die Rumers bis heute leben. Es gehört mir. Mein Mann hat es damals gebaut. Er hat nie verstanden, was der Unterschied zwischen einem Haus und einem Zuhause ist.« Asta drehte sich zu ihr um. »Das war einmal ein sehr großes Grundstück. Wir haben es geteilt und nebenan diese Hochsicherheitsvilla gebaut, in der ich mich nie wohl gefühlt habe. Als mein Mann starb, ging ich hierher zurück und habe das Gebäude nebenan vermietet. Für die Rumers war es ideal. Sie brauchten nach dem Unglück einen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten. Doch dann gab es Zweifel am Ablauf des Unglücks. Die Versicherung zahlte nicht. Die Rechnungen fürs Krankenhaus, den Umbau, all das … David hatte Angst, auch noch den letzten Halt zu verlieren. Er wollte seine ganzen Schätze opfern. Das war der Moment, in dem der kleine Bengel zum ersten Mal mein Herz gebrochen hat.«
»Heißt das … die Rumers sind gar keine Millionäre?«
»Für ein paar Monate sah es sehr schlecht aus.« Asta kam zurück an den Tisch und schenkte sich noch etwas Tee ein. »Dann gestand einer von Rumers Mechanikern die Schuld für den Unfall. Die Versicherung zahlte. Es dauerte, aber sie zahlte.«
»Einer … von Rumers Mechanikern …«
»René Mansur. Dein Vater.«
Coralie glaubte, der Fußboden würde wanken und die Wände tanzten Tango. Ihr war schwindelig. »Du wusstest es? Die ganze Zeit?«
»Ich wusste es in dem Moment, in dem ich in eurer Werkstatt stand.«
»Er war es nicht.«
Asta streichelte sanft über Coralies Schulter. »Das würde jede Tochter sagen.«
»Er war es nicht! Er war an diesem Tag nicht an seinem Platz! Rumer hat das Signal von jemand anderem bekommen oder sich getäuscht! Es war sein Fehler. Sein gottverdammter Fehler, dass er nicht auf den Lollipop-Mann gewartet hat!«
»Diesen Fehler wird er sich Zeit seines Lebens nicht verzeihen. Er hat seine Gesundheit, seine Lebensfreude und nicht zuletzt eine Freundschaft zerstört.«
»Aber er ist selber schuld daran!«, schrie Coralie. Tränen traten ihr in die Augen. »Mein Vater hat die Schuld von jemand anderem auf sich genommen. Er hätte auch den Mund halten können! Dann würden wir immer noch in unserem Haus leben, ich hätte nicht umziehen und alles aufgeben müssen, wir hätten nicht ewig diese Geldsorgen gehabt und nicht ewig …« Sie schluchzte. »Nicht ewig dieses Getuschel hinter dem Rücken. Wofür? Damit Thomas Rumer in seinem eigenen Gefängnis sitzt und nicht weiß, wohin mit seinem Geld?«
Asta seufzte. »Ich hatte gehofft, ihr beide wärt ein Neuanfang.«
»Wir beide? Damit meinst du doch nicht David und mich, oder?«
»Doch. Ich hatte gehofft, dass die Väter sich über die Kinder wieder näher kommen und die Dinge klären könnten. Das war mein Plan.«
»Dein Plan?« Das wurde ja immer besser. War sie, Coralie, eigentlich für jeden nur noch eine Spielfigur auf einem Schachbrett?
»Ihr beide passt so wunderbar zusammen. Da ist so viel Leben, so viel Leidenschaft, wenn ihr aufeinandertrefft!«
»Asta, du verwechselst da was. Das ist die reine Wut.«
Die alte Dame lächelte. Fast sah es so aus, als ob sie sich vor Vergnügen die Hände reiben würde. In letzter Sekunde hielt sie sich zurück. »Auch ein Gefühl«, sagte sie. »Auch ein Gefühl.«
»Und du hast mir die ganze Zeit nichts davon gesagt.«
Das Lächeln machte ungespielter Verblüffung Platz. »Hätte ich das tun sollen? Ich wollte doch, dass ihr euch so unbelastet wie möglich kennenlernt.«
»So unbelastet wie möglich? Asta! Ich lasse mich von nichts und niemandem verkuppeln. Und erst recht nicht mit dem Sohn des Mannes, der unser Leben zerstört hat!«
»Aber das ist doch genau das gleiche Problem wie nebenan!«
»Ja!«, rief Coralie. Sie wollte nicht laut werden, aber sie hatte das Gefühl, gleich zu zerspringen. »Aber nebenan ist man sehr weich gefallen, nicht wahr? Nebenan sind Leute, die Zeitungen austragen, Idioten. Nebenan hat man für Leute wie mich den Dienstboteneingang. Das, Asta, ist der Unterschied.«
Sie ging zur Tür und riss sie auf.
»Coralie!«
Langsam drehte sie sich noch einmal um. Asta hielt ihr die Unterlagen entgegen.
Coralie schüttelte den Kopf. »Niemals. Niemals wird eine Mansur den Rumers noch mal aus der Scheiße helfen.«
Asta sah auf die Einladung. »Natürlich, mein Kind. Natürlich. Falls du es dir anders überlegst –«
»Nein.«
»… lasse ich alles auf deinen Namen hinterlegen.«
»Vergiss es. Vergiss all deine schönen Pläne. Wenn das Schicksal uns eines gelehrt hat, dann: Nein zu sagen. Danke für den Tee, Asta. Es war schön, morgens bei dir zu sein. Ich werde es vermissen.«
Sie ging. Erst als sie die Gartenpforte hinter sich geschlossen hatte, kam ihr in den Sinn, dass ihre letzten Worte wie ein Abschied für immer geklungen hatten.