22.
London!
London! London! London! Am liebsten hätte Coralie nur dieses eine Wort in die Welt gebrüllt, als sie endlich am Bahnhof Kings Cross angekommen war und von einer Rolltreppe nach oben, ans Licht der Stadt, getragen wurde. Die Luft roch so anders. Irgendwie dichter, salziger. Und sofort war alles da, was sie so oft im Fernsehen oder auf Bildern gesehen hatte: Doppeldeckerbusse bogen um die Ecke, der Verkehr wälzte sich über die Kreuzung, und Menschenmassen waren unterwegs. Coralie hatte im Internet ein kleines Hostel in Bahnhofsnähe gefunden, und als sie ihre Tasche im Zimmer abgestellt hatte, gab es kein Halten mehr.
Bis zu ihrem ersten Termin am Nachmittag hatte sie noch zwei Stunden Zeit. Das reichte, um zum Brick Lane Market zu fahren – aber leider nicht, um in alle Secondhandläden, in alle Pubs, auf alle Flohmärkte zu gehen, die sich in den engen Gassen drängten. Viel zu brav war sie angezogen. Die London Girls waren entweder völlig crazy oder absolut hip, genau konnte Coralie sich nicht entscheiden. Doc Martens zu Spitzenkleidchen, knallbunte Perücken zu durchlöcherten Strumpfhosen, Klamotten wie aus der Altkleidersammlung, aber irgendwie mutig und spannend kombiniert. Mit ihrer Jeans und dem T-Shirt fühlte sie sich hoffnungslos underdressed.
Das änderte sich, als sie in Spitalfields ankam und vor dem Backsteinhaus in der Hewett Street stand. Sie hatte Lampenfieber. Ihre Hände waren nass. Ihr Herz klopfte. Sie hatte das Gefühl, auf der Stelle umkehren zu müssen. Aber da wurde die Haustür aufgestoßen und ein Pulk lachender Leute kam ihr entgegen. Tänzer, das sah Coralie auf den ersten Blick.
»The auditions?«, fragte einer, ein Mann mit ebenholzfarbener Haut und Dreadlocks, die er in sämtlichen Regenbogenfarben coloriert hatte.
»Yes.«
»Third yard, second floor. Good luck!« Er lächelte ihr aufmunternd zu und hielt ihr die Tür auf.
Es gab also kein Zurück. Sie ging durch Mauerbögen, vorbei an kleinen Designerbüros und Catering-Firmen, bis sie in den dritten Hof kam. Aus einem offenen Fenster im zweiten Stock klang lauter Hip Hop, untermalt von Kommandos und rhythmischem Klatschen.
Coralie sah noch einmal auf ihren Zettel und verglich die Zeit. Noch länger Trödeln war nicht drin. Sie stieg die Treppe hoch und hatte am Ende das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Die Tür wurde durch einen Summer geöffnet. Coralie betrat einen Flur, von dem links und rechts Umkleideräume abgingen, aus denen Stimmen und Gelächter hinausdrangen. Er endete in einem riesigen weißen Loft, in dem gerade eine Truppe Tänzer übte.
Khaleds Company. Coralie ließ die Tasche sinken und vergaß völlig, weshalb sie hier war. Es war unglaublich, was diese Leute gerade machten. Sie wirbelten durcheinander, dass es aussah wie eine Kampfsportszene aus Matrix. In der Mitte bewegte sich, wie in Zeitlupe, ein Paar in inniger Umarmung. Ein klassischer Pas de deux, ausgeführt auf höchstem künstlerischen Niveau. In einer Ecke stand, zusammen mit vier anderen, etwas älteren Leuten – Khaled.
Coralie schluckte. Er war sehr konzentriert, gab Kommandos, ließ ständig abbrechen und fast jede Sequenz mehrfach wiederholen. Das schaffe ich nicht, dachte sie. Davon bin ich doch meilenweit entfernt. Es war, als hätte sie auf den letzten Metern der Mut verlassen. Wie hatte sie sich jemals einbilden können, mit dem bisschen, was sie bei Wanda gelernt hatte, eines Tages in dieser Company mittanzen zu können?
Die Musik brach ab. Die Tänzer und Tänzerinnen schlenderten an die Wände mit den großen Spiegeln, wo sie ihre Taschen hingestellt hatten.
Khaled sah zu Coralie und nickte ihr zu. »Are you from Germany?«
»Yes«, piepste sie und räusperte sich. »Yes, Sir!«
Khaled grinste und schlenderte auf sie zu. »Ich bin Khaled«, sagte er und reichte ihr zur Begrüßung die Hand.
»Ich weiß«, antwortete sie. »Also, ich dachte es mir schon fast. Ähm …«
»Die anderen sind schon beim Aufwärmen. In einer Stunde geht es los. Du kommst von Wanda?«
»Ja.«
»Sie hat mir gesagt, dass es Probleme mit der Choreografie gab.«
Probleme? Was für Probleme? Jasmin hat sie mir geklaut und ich stehe da mit einem Lied aus der U-Bahn, dazu noch auf deutsch, und improvisiere.
Bis in die Nacht hatte sie geübt und dafür sogar ausnahmsweise die Schlüssel zum Probenraum bekommen. Es war so leicht gewesen. Fast zu leicht und das rächte sich. In diesem Moment konnte Coralie sich an keinen einzigen Move mehr erinnern.
»Nö«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung.
Es war die einzig richtige Antwort gewesen, denn Khaled sah nicht so aus, als ob er sich mit den Sorgen seiner Workshopteilnehmer länger als nötig herumschlagen wollte. Er nickte ihr zu, klatschte in die Hände und rief, dass es nun Zeit wäre, den Saal zu räumen.
Coralie ging zurück, bis sie den Umkleideraum für die Tänzerinnen fand. Drinnen herrschte ein heilloses Durcheinander und ein babylonisches Sprachgewirr. Es gab keinen freien Spind mehr, sodass sie schließlich froh war, ihre Tasche unter eine Bank schieben zu können. In fliegender Hast streifte sie ihre Klamotten ab und schlüpfte in ihren Tanzdress.
»Auch hier?«
Coralie fuhr herum. Vor ihr stand Jasmin. Bildschön, entspannt, lässig. Sie trug hautenge türkisfarbene Leggins – und sie war das einzige, das wirklich einzige Mädchen, das sie auch tragen konnte. Von Laura vielleicht abgesehen.
»Was dagegen?«
»Nein. Ich mag es, wenn ich Publikum habe.«
Eine junge Frau – Coralie erkannte in ihr eine der Trainer, die eben noch mit Khaled zusammengestanden hatten, erschien in der Tür.
»Come on!«, rief sie und erklärte, dass sie sich jetzt im Loft warmtanzen konnten.
Coralie schnappte ihre Wasserflasche und ihr Smartphone und folgte ihr.
»My name is Sarah«, stellte die Trainerin sich vor und trat in die Mitte des Raumes.
Jeder bekam ein paar Minuten Zeit, seinen Song vorzustellen und ein paar Moves zu zeigen. Während Coralie an der Stange ihre Dehnübungen machte, beobachtete sie mit steigender Aufregung, was die anderen im Gepäck hatten. Bei einigen war gleich klar, dass sie nicht viel weiterkommen würden. Bei anderen aber fühlte Coralie sich ziemlich schlecht. Am schlimmsten war es, als Jasmin an die Reihe kam. Es war nicht einfach, die Musik zu hören, mit der Coralie monatelang ins Bett gegangen und wieder aufgewacht war. Noch schlimmer war, Jasmin zuzusehen, wie sie sich dazu bewegte.
Die anderen hörten mit ihren Aufwärmübungen auf. Alle Augen richteten sich auf Jasmin. Es war klar, dass hier die erste Favoritin tanzte.
»Great!«, lobte Sara und sah auf ihr Klemmbrett. »Du bist Jasmin?«
Jasmin nickte. Sie lief zu ihrer Tasche und holte ein Handtuch heraus, das sie sich um die Schulter legte.
»Du startest nachher auf dem vierzehnten Platz. Warum hast du dieses Lied ausgesucht?«
Jasmin strahlte, als wäre sie auf einem Casting für Zahnpasta, Joghurt-Schokolade und Abnehm-Suppen, und das alles auch noch gleichzeitig. »Weil es heiß ist, einfach das, was gerade läuft. Ich arbeite immer mit der neuesten Musik. Die meiste ziehe ich mir noch aus dem Netz, bevor sie veröffentlicht wird.«
»Das habe ich nicht gehört«, tadelte Sarah. »Coralie?«
Coralie trat in die Mitte. Jasmin machte ihr Platz wie eine Raubkatze, die ihrem zukünftigen Opfer noch ein paar Minuten Zeit zum Spielen lässt.
»Was hast du uns mitgebracht?«
Coralie verkabelte ihr Telefon mit der Anlage. »Ein Lied, das ich in der S-Bahn aufgenommen habe. Eine Art subway in Berlin.«
»Wow!« Sarah war tatsächlich beeindruckt. »Etwas Neues?«
»Nein. Eigentlich etwas ganz ganz Altes. Ein Liebeslied. Der Sänger heißt Jasper. Er hat es für ein Mädchen geschrieben, das er nur ein einziges Mal gesehen hat. Seitdem sitzt er jeden Morgen dort und wartet auf sie. Im Moment liegt er im Krankenhaus. Ich weiß nicht, was er hat. Aber er hat mir dieses Lied für diesen Tag geschenkt.«
Die ersten Takte klangen aus den Boxen. Schlagartig veränderte sich die Stimmung im Raum, fast so wie in der S-Bahn-Unterführung. Die Leute hörten zu. Coralie atmete tief durch, wartete auf Jaspers erste Worte, hob die Arme …
»Stop!«
Khaled erschien in der Tür. »Sorry, we need the room! Just ten minutes!«
Coralie brach ab und sah sich ratlos um.
»Zehn Minuten Pause«, sagte Sarah. »Khaled braucht noch einmal den Raum.«
Alle gingen zurück in die Umkleidekabine.
»Was ist das denn für eine Scheiße?«, zischte Jasmin. »Machst du jetzt einen auf Casting Show? Dieses Lied ist für meine krebskranke Mama! Und diesen Song habe ich geschrieben, während ich auf den Babystrich ging? Diese Rühr- und Tränen-Nummer?«
»Du bist so unglaublich zynisch«, erwiderte Coralie. »Bist du schon so weit weg von allem Menschlichen?«
»Nein.« Jasmin kam noch einen Schritt näher. Die anderen interessierten sich nicht dafür, was die beiden Girls aus Germany miteinander zu besprechen hatten. »Aber ich will durch Leistung überzeugen und nicht durch irgendwelche Tränendrüsen-Märchen.«
Coralies Handy vibrierte. Eine SMS von Laura.
»Du bist nicht gerade bekannt für deine Moral«, gab Coralie zurück und wandte sich ab, um die Nachricht zu lesen. Sie begriff sie nicht und las sie noch mal. Dann erst verstand sie. Es war ein Gefühl, als ob jemand einen Baseballschläger in ihre Kniekehlen gerammt hätte. Sie taumelte zur Bank und setzte sich.
»Was ist?« Jasmin folgte ihr. »Neue Märchen?«
»Jasper …«, flüsterte Coralie. »Er wird gerade operiert. Oh mein Gott. Seine Mutter ist bei ihm. Sie hat mit mir gesprochen. Er hat einen Gehirntumor. Er wusste das. Und er war bis zum letzten Tag … am Bahnhof.«
Jasmin verschränkte die Arme. In ihren Augen blitzte für einen Moment Verwirrung auf.
»Stimmt das? Oder verarschst du mich? Ist das jetzt die Fortsetzung deiner Rühr-Geschichte, damit auch der Letzte da drin zum Taschentuch greift?« Ihre Stimme veränderte sich, wurde piepsig-gehässig. »Ich tanze heute für Jasper, damit er seine OP schafft, und wenn ihr mich nicht weiterlasst, ist das so böse wie kleine Katzen treten!«
Noch eine SMS. Coralies Hände zitterten, als sie sie öffnete. Tränen traten in ihre Augen, die Buchstaben verschwammen. Sie wischte sie weg und las, was Laura ihr noch aus der Intensivstation mitteilte. Dann sah sie hoch zu Jasmin.
»Die OP ist gefährlich. Keiner weiß, ob er sie überlebt. Bevor er in letzter Sekunde in den OP geschoben wurde, hat er dem Lied noch einen Titel gegeben. Eine Art Widmung.«
»Oh, da sind wir aber gespannt. Etwa: Für alle, die jetzt noch nicht heulen?«
»Für Jasmin.«
Jasmin legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Oh Mann, das ist echt der Hammer. Das ist unglaublich! Für mich? Vielen Dank! Das wird die Jury um den Verstand bringen. Jasmin, das Mädchen aus der U-Bahn …«
Sie brach ab. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Coralie konnte sehen, wie der Hochmut, die Verachtung, die Gehässigkeit, wie all diese Empfindungen von Jasmins Gesicht verschwanden. Es war fast so, als ob das Schicksal einen Waschlappen genommen hätte und damit eine Schicht nach der anderen darunter freilegen würde. Verwirrung. Erstaunen kam jetzt. Dann Ungläubigkeit. Erschrecken. Erkenntnis.
Jasmin wankte. Sie wurde totenbleich, und für einen Moment befürchtete Coralie, sie würde in Ohnmacht fallen.
Coralie sprang auf. »Setz dich. Setz dich hin. Willst du einen Schluck Wasser?«
Jasmin schüttelte den Kopf wie in Trance. »Was ist das? Was für ein Spiel spielst du mit mir? Willst du mich so ausknocken? Dann gratuliere ich dir. Ich habe selten das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Euch ist das gelungen. Dir und … Jasper.«
Coralie setzte sich neben sie. »Sag das nicht. Er kämpft gerade um sein Leben.«
»Das ist nicht wahr.« Jasmin flüsterte. »Das ist nicht wahr!«
»Du hast ihn gekannt?«
Jasmin drehte blitzschnell den Kopf weg. »Nein! Ich … Ich bin mal jemandem begegnet. Frühmorgens. Aber … das kann er unmöglich sein.«
»Das war er.«
»Unmöglich! Es war doch gar nichts. So bedeutungslos. Ich war völlig dicht. Zugedröhnt. Wusste gar nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich hab in die Bahn gekotzt, glaube ich … Sonst hat David mich immer abgeholt, wenn ich so zu war. Hat mir den Kopf gewaschen und mich nach Hause gebracht, fahren konnte ich ja nicht mehr. Da ist er klasse. Er lässt einen nie in der Scheiße sitzen. Nie.«
Jasmin zog die Nase hoch. Coralie griff in ihre Tasche und reichte ihr ein Tempo. Es tat ihr weh, Davids Namen zu hören.
»Aber in der Nacht, da war er nicht da. Er war in irgendeinem Trainingslager oder so. Ich weiß gar nicht, wie ich den Weg geschafft habe. Ich musste mich hinsetzen, und da … Da saß einer und spielte Gitarre und sang grässliche Lieder. So ein Schluffi. Ein komischer Typ. Der kannte mich doch gar nicht. Der hat mich doch gar nicht richtig angesehen.«
Sie brach ab. Coralie stellte den Lautsprecher ihres Smartphones an. Noch einmal erklang Jaspers Stimme.
»Sie ist der schönste Mensch, den ich je gesehen habe. Nicht nur von außen, auch von innen. Sie zeigt es nicht vielen. Sie muss oft verletzt worden sein. Sie trägt einen Panzer aus Eitelkeit und schönem Schein. Aber … aber darunter schimmert es, und ihre Seele ist, wie wenn die Morgensonne das Wasser küsst.«
Jasmin schüttelte den Kopf. »Was? Was sagt er da?«
»Wie wenn die Morgensonne das Wasser küsst.« Coralie sagte das leise und wunderte sich, dass sie diesen Moment, in dem Jasmin mit einem Mal so verwundbar schien, nicht ausnutzte. Dass sie sich nicht lustig machte über sie. Den Spieß einfach mal umdrehte. Du bist nicht so, dachte sie. Und dieser Gedanke machte sie trotz allem Unglück auf einmal leicht und froh. Du bist vielleicht manchmal zickig und hast deinen eigenen Kopf, aber wenn es hart auf hart kommt, dann bist du so, wie du gerne sein möchtest. Es war nur ein schneller Moment der Erkenntnis, ein kurzer Nebengedanke. Aber das war auch ein Geschenk von Jasper und sie war dankbar dafür.
Und dann schluchzte Jasmin. Schluchzte, als würde etwas in ihr zusammenbrechen, als fiele gerade ein Panzer nach dem anderen scheppernd zu Boden. Die anderen Mädchen sahen sich nach ihnen um, doch Coralie nickte ihnen beruhigend zu.
»So hat er mich gesehen?«, fragte Jasmin unter Tränen.
»Ja. So hat er dich gesehen.«
»Oh mein Gott. Und jetzt … jetzt ist er … Ich war nie wieder da, weil ich doch eigentlich … Ich fahre doch … so gut wie nie … Ich fahre mit dem Auto oder dem Taxi oder David holt mich … Das hab ich nicht gewusst. Das hab ich nicht gewusst!«
Coralie wischte sich über die Augen. »Ich beneide dich.«
»Was? Warum denn? Das da …« Jasmin deutete auf das Smartphone. »Das ist das Schlimmste, was ich je gehört habe! Wie soll ich denn nach so was noch ans Tanzen denken! Warum hast du mir das vorgespielt? Was tust du?«
»Ich beneide dich. Wirklich. Ein Mensch hat dich geliebt. So tief. So innig. Er hat nicht darauf geachtet, woher du kommst und wer du bist, nur darauf, was du bist. Du warst an diesem Morgen du selbst. Einsam. Schutzsuchend. Und er hat dich angenommen, ohne zu fragen. Ich wünschte, ich dürfte so was mal erleben.«
Langsam drehte Jasmin sich zu ihr um. Ihre Augen waren rot vor Tränen, die Nase verquollen. Haarsträhnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht.
»Das ist ein Geschenk. Das ist Jaspers Geschenk an dich. Und meins.« Sie reichte ihr das Handy. Jasmin sah ratlos darauf hinab.
»Was soll ich damit?«
»Es ist dein Lied, nicht meins. Du bist so viel besser als ich. Du würdest morden, um auf der Bühne zu stehen. Du hast das Tanzen im Blut. Du gehörst da hin. Nicht ich.«
Jasmin schüttelte wieder den Kopf, als würde sie das alles nicht begreifen.
Coralie drückte ihr das Handy in die schlaffe Hand. »Nimm es!«
»Das … Das kann ich nicht. Ich hab dich damals beklaut. Ich hab deine Choreo heimlich aufgenommen und mit Xavier eingeübt. Es ist Betrug.« Sie wollte ihr das Handy zurückreichen.
Aber Coralie nahm es nicht an. »Das verzeihe ich dir auch nicht. Wenigstens nicht so schnell. Aber wenn Jaspers unerfüllte Liebe einen Sinn gehabt haben soll, dann den, das wir das sein sollen, was wir sind. Du bist eine egoistische Schlampe, aber du bist so unglaublich begabt. Viel begabter als ich.«
»Nein! Du bist … also … na ja, auch nicht schlecht. Der Workshop würde dich ein ganzes Stück weiterbringen.«
Coralie musste lächeln. »Also, wenn wir jetzt sogar schon anfangen, uns gegenseitig Komplimente zu machen, sollten wir diese Unterhaltung wirklich abbrechen.«
Jasmin nickte. »Das sollten wir. Ich will das Lied hören. Gibt es irgendwo noch einen Probenraum?«
Sie fragten Sarah und bekamen tatsächlich den Schlüssel zu einem Raum eine Etage höher. »Aber in zwei Stunden seid ihr dran, verstanden?« Die Trainerin musterte sie streng. »Ich hab euch jetzt auf die letzten Plätze gelegt. Khaled wartet nicht.«
»Klar«, sagte Coralie schnell.
Während sie die Stufen hocheilten, wunderte sie sich immer noch. Was hatte Jasper nur mit ihr und Jasmin angestellt?
»Spiel es mir vor!«
Coralie legte das Handy auf den Boden. Durch den Hall in dem leeren Raum klang die Musik tatsächlich gar nicht so schlecht. Die Gitarrenklänge perlten von den Wänden, und trotz der Hintergrundgeräusche war es fast so, als wäre die Aufnahme in einem Studio eingespielt.
»Trägst dein Lächeln wie ne Rüstung
Brauchst für Jeans nen Waffenschein
Schießt mit Blicken wie ne Guzzi
Doch zu Haus bist du allein.«
Coralie tanzte die ersten Schritte, und es machte ihr gar nichts aus, dass Jasmin zusah und sie korrigierte.
»Jump and dive, ja. Aber doch zu Haus bist du allein – das will ich sehen. Wie ist das, wenn plötzlich alles von dir abfällt und keiner mehr hinsieht? Was passiert dann?«
Jasmin kam zu ihr, tanzte ein paar Schritte. Angespannt, fast überspannt, um dann aus dem Glissade ins Plié auf den Boden zu sinken wie eine Marionette, deren Fäden jemand durchschnitten hatte.
»Stehst vorm Spiegel, schminkst dein Lächeln ab
Ziehst es aus so wie ein Kleid
Lässt die Luft raus, wirfst die Maske weg
Und kriegst Angst vor dem, was bleibt.«
Coralie trat zurück und beobachtete Jasmin. Es war unglaublich. Sie war sogar noch besser, wenn sie keine Moves kopierte, sondern tief aus sich heraus improvisierte und tanzte. Als das Lied zu Ende war, tauchte sie aus der Musik auf wie aus einem Traum.
Coralie hob die Hände und klatschte. »Unfassbar.«
Unsicher sah Jasmin sie an. »Echt?«
»Echt.«
»Ich kann das gar nicht beurteilen. Deshalb hab ich mir einfach gesagt, werde besser, besser, besser und noch besser. Vielleicht bist du dann eines Tages gut.«
»Wenn du das tanzt, wird Khaled dich auf seinen Schulten im Hurragalopp in die Company tragen.«
Jasmin ging in die Ecke und hob das Handy auf. »Dass du das mal sagst …«
»Ja. Ich wundere mich selbst. – Danke. Ich schick es dir als Datei. Gib mir deine Nummer.«
Es war, als ob sich wieder eine Mauer zwischen ihnen aufbauen würde. Vielleicht, weil die eine jetzt eine Etage tiefer direkt in ein neues Leben gehen würde. Und die andere kampflos aufgegeben hatte. Sie streamte das Lied auf Jasmins Handy.
»Heißt das eigentlich – du steigst aus?«
»Ja.«
»Aber du bist doch auch gut!«
»Gut, ja. Aber nicht umwerfend. Nicht sensationell.«
Ihr Handy vibrierte. Eine neue Nachricht von Laura. Entsetzt sahen sich die Mädchen an.
»Bitte«, flüsterte Coralie. »Bitte bitte nicht.«
Er hat überlebt. Hoffen und beten.
In Jasmins Augen glitzerten Tränen. »Ich werde ihn besuchen und mich bei ihm bedanken.«
»Das wird ihm helfen, denke ich.«
»Und du? Was machst du jetzt? Fährst du noch zum Lausitz-Ring? David hat mir erzählt, dass du kommen wolltest.«
»Ach ja?« Coralie versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu klingen. Dass ausgerechnet die Frau, die ihr noch vor Kurzem am liebsten die Augen ausgekratzt hätte, sie an ein Date mit David erinnerte – ein vermurkstes Date zwar, eins, das eigentlich schon im Eimer war, noch bevor es überhaupt stattgefunden hatte … aber egal.
»Ist jetzt wohl zu spät.«
»Warum?«
»Weil in diesen Minuten gerade die Qualifikation läuft.« Coralie nahm ihre Tasche. »Ich wollte sowieso nicht hin.«
»Aber warum denn nicht? David hat noch nie ein Mädchen gefragt, ob es ihn begleiten kann. Sogar ich musste mich ihm regelrecht aufdrängen. Und du weißt, wie sehr mir so was widerstrebt.«Jasmin grinste sie an. Sie schlossen den Raum ab und machten sich auf den Weg hinunter ins Loft. »Magst du keine Autorennen?«
»Doch. Klar.« Sie wollte nicht auf der Treppe erklären, warum ihr im Moment der Sinn nach allem, nur nicht nach hochgetunten Boliden stand. Vor der Tür zu Khaleds Räumen blieben sie stehen.
»Hör zu«, sagte Jasmin. »Wir werden nie Freundinnen. Aber ich danke dir. Für das Lied und dafür, dass du nicht gegen mich antrittst und unterliegst. – Stopp!« Coralie hatte empört unterbrechen wollen, doch Jasmin hob die Hand. »Aber der Mensch hat nicht nur Freunde, sondern auch Feinde. Ich bin ein guter Feind. Einer, der dir die Wahrheit sagt. Einer, der dir das Messer nicht von hinten zwischen die Rippen rammt. Einer, der dich vor falschen und schlechten Freunden warnt. Ein guter Feind. Das kann ich sein.«
Coralie hatte noch nie eine derartige Feindschaftsanfrage bekommen. »Ähm, ja. Also, du meinst, ich weiß, was ich an dir habe?«
»Exakt.«
Sie standen sich gegenüber und einen Moment lang breitete sich Schweigen aus.
»Viel Glück«, sagte Coralie.
»Danke. Dir auch.«
»Bei was?«
»Bei David. Aber das brauchst du ja eigentlich nicht mehr. Das hast du ja schon.«