24.
Laura saß vor einem kalten Tee in der Cafeteria des Krankenhauses.
»Seine Familie ist bei ihm. Sie grüßen dich herzlich und bedanken sich immer wieder, dass wir bei ihm waren, als es passiert ist.«
Laura war blass. Jaspers Schicksal hatte sie sichtlich mitgenommen.
»Ich dachte, du wärst noch am Lausitz-Ring? Oder in London? Was ist eigentlich los, und warum bist du überall, nur nicht da, wo du eigentlich sein solltest?«
Coralie ließ ihre Tasche fallen und setzte sich Laura gegenüber. »Ich bin genau da, wo ich sein sollte. Bei dir und in Jaspers Nähe. Er braucht jemand, der ihm schonend beibringt, wie Jasmin reagiert hat.« Sie zeigte Laura die SMS.
Fassungslos schüttelte ihre Freundin den Kopf. »Wie eiskalt kann man eigentlich sein?«
»Keine Ahnung. Dabei habe ich wirklich geglaubt …«
»Was?«
Coralie gab eine kurze Zusammenfassung dessen, was in London passiert war. Laura holte ihren Teebeutel aus dem Becher und legte ihn auf der Serviette ab.
»Verstehe. Du hast geglaubt, ein kleines Lied, ein hochherziger Verzicht würde einen anderen Menschen aus ihr machen. Wie doof kann man sein?«
»Nein! … Ja. Irgendwie schon.«
»Und David?«
»David ist gestorben.«
Laura holte ihr Smartphone aus der Tasche und wischte ein paar Mal über das Display. »Komisch. Davon steht hier gar nichts. Er hat den zweiten Platz gemacht und ist vom Team Chestnut in die Formel Masters aufgenommen. So ein Glückspilz.« Sie steckte das Handy wieder weg und musterte Coralie mit strengem Blick. »Was ist passiert?«
»Sein Vater ist uns über den Weg ge-, gerollt, muss man ja wohl sagen. Er hat Gift und Galle gespuckt, als er uns zusammen gesehen hat. Und David stand dabei und glaubte ihm auch noch jedes Wort.«
»Echt?«
»Er hat uns so beleidigt. Thomas Rumer behauptet, mein Vater wäre schuld, dass er im Rollstuhl sitzt. Wahrscheinlich glaubt er das mittlerweile wirklich.«
»Weil alles andere ein Schuldeingeständnis wäre. Wie lange ist das her?«
»Zehn Jahre.«
Die Tür zur Cafeteria wurde geöffnet. Eine Frau mittleren Alters mit rot geweinten Augen trat ein und kam auf sie zu.
Laura stand auf. »Frau König? Ist was passiert?«
»Nein, er schläft. Immer noch. Wir hoffen so sehr, dass er irgendwann aufwacht.« Sie reichte Coralie die Hand. »Sie sind Lauras Freundin, nicht wahr? Ich wollte mich für Ihre Hilfe bedanken. Ohne Sie …«
»Schon gut«, murmelte Coralie. Der Anblick und die Verfassung der Frau, die offenbar Jaspers Mutter war, schockierte sie.
»Wenn Sie möchten, Sie können gerne zu ihm. Jederzeit. Sein Zustand ist stabil. Aber …«
Sie fing an zu weinen. Laura half ihr, sich zu setzen.
»Ich weiß«, sagte Coralie. »Ich weiß und es tut mir so unendlich leid.«
Frau König holte ein Papiertuch aus ihrer Tasche und wischte sich damit über die Augen. »Dieses Mädchen, von dem er erzählt hat. Diese Jasmin … Sie haben nichts von ihr gehört?«
»Nein«, sagte Coralie. Sie konnte der Frau unmöglich sagen, dass Jasmin wohl gerade die Abendmaschine von London nach Paris bestiegen hatte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Nein, danke. Ich wollte nur einen Kaffee trinken, bevor ich wieder zu ihm gehe.«
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Laura. »Wir sehen mal nach ihm.«
»Danke«, flüsterte die Frau.
Sie sank auf dem Stuhl zusammen. Das Bild grub sich tief in Coralies Herz und begleitete sie hinauf in den dritten Stock bis zur Intensivstation.
Jasper war bleich. Sogar im Schlaf sahen seine Züge angestrengt aus. Er trug einen dicken Kopfverband und eine Atemmaske. Das Piepsen und Keuchen der Maschinen um ihn herum verstärkten den unwirklichen Eindruck. Coralies Herz zog sich zusammen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das war, wenn man nie wieder sehen konnte. Und noch weniger, dass Jasper vielleicht nie wieder aufwachen würde.
Schweigend saßen sie nebeneinander. Mit den grünen Kitteln und den Haarnetzen und Überschuhen aus blauem Plastik sahen sie aus wie Komparsen einer Krankenhaus-Soap. Nur dass das hier bitterer Ernst war. Ab und zu huschte eine Krankenschwester herein, kontrollierte die Apparate und nickte ihnen freundlich zu. Später kam Frau König, und obwohl es eigentlich nicht erlaubt war, zu dritt bei dem Patienten zu wachen, durften sie bleiben.
»Er hatte immer nur seine Musik im Kopf«, flüsterte Frau König. Vielleicht hatte sie Angst, Jasper aufzuwecken. Obwohl sie das alles so sehr wünschten. »Er war viel allein. Ich wusste gar nicht, dass er zwei so nette Freundinnen hat.«
Laura und Coralie wechselten einen schnellen Blick und schwiegen. Sie wollten der Frau das Herz nicht noch schwerer machen. Wie sollten sie in so einer Situation erzählen, dass auch sie den blassen Jungen so gut wie gar nicht kannten? Dass es Zufall war, dass sie ausgerechnet in diesem schrecklichen Moment bei ihm gewesen waren?
Irgendwann ging Coralie hinaus und rief ihre Eltern an, um ihnen zu sagen, dass sie die Nacht im Krankenhaus bleiben würde. Ihr Vater nahm das Gespräch in der Werkstatt an.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Wo bist du denn? Du klingst so merkwürdig.«
»Ich … ähm, ich bin bei einem Typ im Krankenhaus. Er wurde operiert und es sieht nicht gut aus.«
»Das tut mir sehr leid. Sollte ich den jungen Mann kennen?«
»Nein, ich kenne ihn selbst kaum. Aber er ist quasi vor unseren Augen an der S-Bahn zusammengebrochen. Und da mussten wir uns doch kümmern.«
»Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt, sagt der Talmud.«
Coralie lächelte. »Ich würde das nicht so hoch hängen. Es ist einfach selbstverständlich.«
»Dafür liebe ich dich, meine Tochter.«
»Und ich dich dafür, dass du mir das beigebracht hast.«
Sie beendete das Gespräch und dachte, egal, was schiefgelaufen ist, ich habe Eltern, die mich mehr gelehrt haben als Lügen, Betrügen und andere für eigene Zwecke zu benutzen.
Der Klang hoher Absätze auf hartem Linoleum näherte sich von den Fahrstühlen. Und dann zerschnitt eine hohe Stimme die monotone Geräuschkulisse der Intensivstation.
»Er heißt Jasper. Jasper! Und ich muss zu ihm!«
»Einen Moment, bitte«, erwiderte eine Schwester. »Sie können hier nicht einfach auftauchen und alles durcheinanderbringen!«
»Jasmin?« Coralie blieb der Mund offen stehen.
Jasmin hatte sich die Haare zu einem Beehive zusammengesteckt, einen bleischweren Lidstrich aufgelegt und trug Absätze, mit denen man trockenen Fußes Gebirgsbäche überqueren konnte.
»Hi! Coralie! Wo liegt er?«
Sie schob die Schwester zur Seite, die sich das aber nicht gefallen ließ und ihr folgte.
»Moment. Erst einmal muss ich die Angehörigen fragen, ob Sie zu ihm dürfen. Und außerdem müssen Sie einen Kittel anziehen und eine Haube.«
»Jaja, schon gut.« Jasmin hatte Coralie erreicht und verzichtete auf falsche Begrüßungsküsse. »Ist er da drin?«
Die Schwester stellte sich vor die Tür. »Ich werde mit der Mutter reden. Sie ziehen das bitte an und warten.« Sie reichte Jasmin ihr neues Outfit.
»Ich soll dieses Haardings tragen? Du siehst absolut gruftig aus damit.«
»Geht nicht anders«, antwortete Coralie. »Wie kommt’s? Ich dachte, du wärst in Paris.«
»Hab ich doch geschrieben.«
»Hast du nicht.«
»Ich werde wahnsinnig, hab ich geschrieben. Hab ich das geschrieben? Ja oder nein?«
»Äh, ja, aber …«
»Ich soll das Angebot von Khaled ausschlagen, nur um einem wildfremden Typen, der mich mal in zugedröhntem Zustand angesungen hat wie der Hund den Mond, die Hand am Krankenbett zu halten? Ich? Ja? Tja. Und hier bin ich.« Sie setzte den Haarschutz auf. »Wie sehe ich aus?«
»Scheiße.«
»Danke, beste Feindin. Wie geht es ihm?«
»Nicht gut. Gar nicht gut.« Coralie half ihr in den Kittel.
Zuletzt streifte Jasmin die blauen Überzieher über ihre High Heels. »Im Ernst.« Jasmin spähte durch das Fenster. »Wird er wieder aufwachen?«
»Wir wissen es nicht. Die Mutter ist fix und fertig. Und wir, ehrlich gesagt, auch.«
Ein Hauch von Mitleid senkte sich auf Jasmins Gesicht. »Kann ich verstehen. Das ist aber auch ein blöder Moment. Du weißt noch gar nicht, was passiert ist. Ich war ja die Letzte. Und in dem Moment kam kein Geringerer als Mousse X zu den Auditions. Er schreibt die Tracks zu Khaleds neuer Show und hat Jaspers Song mitgekriegt. Natürlich hat er den Text nicht verstanden. Aber ich hab die Geschichte erzählt. Ein bisschen ausgeschmückt. Alle hatten Tränen in den Augen.« Sie spähte wieder durch das Fenster. »Credibility. Das ist die Währung heutzutage.«
»Hast du mich nicht vor Kurzem noch zusammengefaltet, ich würde einen auf Mitgefühl machen und mir dadurch Punkte sichern?«
»Ja, hab ich. Ist ja auch eine todsichere Sache.«
Coralie schüttelte den Kopf. »Du bist unglaublich.«
»Von mir lernen heißt siegen lernen.«
Coralie verkniff sich den Hinweis, dass mit diesem Spruch schon ganze Weltreiche baden gegangen waren.
»Jedenfalls, er will den Song produzieren.«
»Bist du deshalb hier?«
Jasmin trat weg von der Tür, weil sie sich öffnete und Frau König, Laura und die Schwester herauskamen. Jaspers Mutter war sichtlich verwirrt. Da hatte ihr Sohn also keine Freunde und dann drängten sich gleich drei Mädchen um sein Bett.
»Sie sind …?«
Jasmin zauberte ihr zuckersüßestes Lächeln auf die Lippen. »Ich bin Jasmin. Ihr Sohn hat ein Lied für mich geschrieben.«
»Sie sind das?« Frau König schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.
Ratlos drehte Jasmin sich zu Coralie um. »Was hat sie?«, flüsterte sie.
»Ich … Ich bin so verwirrt.« Frau König fasste sich wieder. »Er hat von Ihnen gesprochen. Und das hat er vorher noch nie getan. Sie müssen etwas ganz Besonderes sein. Sie bedeuten meinem Sohn viel.«
»Darf ich ihn sehen?«
»Natürlich. Natürlich! Jederzeit!«
Mit hoch erhobenem Kopf stolzierte Jasmin an der Schwester vorbei. Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, klebten Coralie und Laura an der Fensterscheibe.
Sie sahen, wie Jasmin stehen blieb. Wahrscheinlich wusste sie nicht, dass sie beobachtet wurde.
»Warum geht sie denn nicht zu ihm?«, flüsterte Laura.
Langsam, ganz langsam ging Jasmin auf das Bett zu. Sie betrachtete Jaspers Gesicht, dann setzte sie sich auf den Stuhl und griff nach seiner Hand. Und da geschah etwas Unglaubliches.
»Er hat sich bewegt!« Coralie traute ihren Augen nicht. »Er wird wach!«
Sie sah sich nach Frau König und der Schwester um, doch die waren gerade am Ende des Ganges verschwunden.
»Also wenn sie jetzt irgendeine Scheiße erzählt …«, knurrte Coralie.
»Macht sie nicht.« Laura musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um alles zu sehen. »Guck mal, er lächelt.«
Vorsichtig hob Jasper die Hand. Jasmin ergriff sie und führte sie an ihre Wange. Es war eine tastende, unendlich zärtliche Berührung. Zwei Fremde, die es wagten und sich vertrauten. Zwei Blinde, die sich in dieser kostbaren Sekunde erkannten. Plötzlich hatte Coralie einen Kloß im Hals.
»Sie weint.«
»Gib mir dein Handy, ich mach ein Foto«, kommentierte Laura trocken. Dann sahen sich beide an, nickten sich zu und verließen ihren Beobachtungsposten.
»Ich glaube, wir können ihn mit ihr allein lassen.«
»Wird was aus den beiden?«, fragte Laura auf dem Weg zum Fahrstuhl.
Coralie dachte nach. »In London hatte ich einen Moment lang das Gefühl, da ist ein bisschen was unter der Oberfläche bei ihr. Vielleicht haben sie eine Chance. Oder sagen wir mal so: Wenn Jaspers Song von Mousse X gecovert wird, steigt sie beträchtlich.«
»Mousse X?«
Auf dem Weg zur U-Bahn brachte Coralie Laura auf den letzten Stand.
»Wow.« Laura schüttelte den Kopf. »Weißt du eigentlich, wie viel in den letzten Wochen passiert ist? David Rumer. Casper Kendall. Mousse X. Auf einmal sind das keine großen Unbekannten mehr, sondern Leute, mit denen wir irgendwie was zu tun haben.«
»Ja«, antwortete Coralie. »Und irgendwie auch nicht, wenn du mal genau nachdenkst. Kennst du das Bacon-Prinzip?«
»Bacon wie Schinken? Nein. Aber ich könnte durchaus was zu essen vertragen.«
»Kevin Bacon, der Schauspieler. Irgendjemand hat mal ausgerechnet, dass wir alle einen kennen, der einen kennt, der einen kennt, und der kennt Kevin Bacon. Oder den Papst. So genau weiß ich das nicht mehr.«
»Cool. Wenn wir das in der Schule erzählen, glaubt es uns keiner.«
»Ist vielleicht besser so.«
»Und … David? Was ist jetzt mit ihm?«
Coralie zuckte mit den Schultern. »David wer? Beckham? Coulthart? Wie gesagt, um drei Ecken herum …«
»Schon gut. Ich fand’s trotzdem aufregend. Schade, dass jetzt alles vorbei ist.«
»Ja, schade«, antwortete Coralie. »Alles auf Anfang.«