2.
Mansur Autowerkstatt stand in leuchtend blauen Lettern an der Hauswand. Das war auch das Einzige, das leuchtete. Als Coralie, eine Tüte Brötchen unter dem Arm, den Hinterhof erreichte, hörte sie schon das Quietschen der Hebebühne. Sie stellte das Fahrrad an die Hauswand und schlenderte, die Hände in den Jeanstaschen vergraben, hinüber in den niedrigen Anbau. Vor über hundert Jahren hatte er einmal als Pferdestall gedient. Zu einer Zeit, in der noch Gaslicht die Nacht erhellte und Kachelöfen in den Wohnungen bullerten. Lange hatte er leer gestanden. Bis sie nach Berlin gezogen waren.
An die Zeit davor konnte sich Coralie kaum noch erinnern. Aber an ein Gefühl: dass alles anders, alles besser gewesen war. Dass es Wiesen gegeben hatte und weite Felder. Wie sie zum ersten Mal in einer Seifenkiste den Hügel hinuntergerast und im Graben gelandet war (daher die kleine Narbe am Knie). Dass ihr Vater lange weg war und ihr immer, wenn er wiederkam, ein neues Auto zum Spielen mitgebracht hatte. An Geldsorgen konnte sie sich nicht erinnern. Die waren danach gekommen …
Danach, als sie das Haus verlassen hatten und in die Stadt ziehen mussten. Ihr Vater kam zunächst zwar jeden Abend heim, aber er war müde und ausgelaugt, und ihre Mutter weinte oft. An ein, zwei Zusammenstöße auf der Straße konnte sie sich erinnern. Fremde Leute, die sie anschrien und ihnen böse Dinge hinterherriefen. Das wurde erst besser, als ihr Vater seinen Job hinschmiss und sich selbstständig machte. Geld hatten sie nach wie vor nicht. Aber er war sein eigener Herr.
Da hatte Coralie schon lange aufgehört, mit Autos zu spielen. Denn Autos waren Unglück. Sie hatten ihnen erst das Haus genommen und dann den Vater, der von morgens früh bis abends spät schuftete. Er brachte die Rostkarren der Nachbarschaft wieder auf Vordermann und schien einen geheimen Pakt mit dem TÜV zu haben, denn alle Autos, die er reparierte, liefen anschließend wieder anstandslos. Am Anfang war Coralie noch oft in der Werkstatt gewesen. Sie hatte diesen Geruch gemocht: Öl, Glut, Feuer, untermalt vom satten Tuckern der Motoren. Doch irgendwann hatte sie mitbekommen, dass sie nur an zweiter Stelle stand. Damals hatte sie noch nicht begriffen, dass ihre Eltern ums Überleben kämpften. Damals hatte sie geglaubt, alles sei wichtiger als sie: die Werkstatt, die Kunden, die Autos. Vor allem die Autos. Coralie hasste Autos.
Am Eingang zur Werkstatt blieb sie stehen. Im Halbdunkel erkannte sie die geschwungenen Formen eines beigefarbenen Karman Ghia.
»Guten Morgen!«, rief sie.
Es duftete nach Kaffee und Schmieröl.
»Gute Morgen!«, dröhnte die Stimme ihres Vaters aus der Unterwelt.
Coralie ging in die Knie und beugte sich hinunter in den Werkschacht. Ihr Vater leuchtete gerade die Unterseite des Wagens ab und schüttelte beim Anblick der Hinterachse bedauernd den Kopf.
»Sieht nicht gut aus«, sagte Coralie. Der Rost hatte sich fast zu den Bremsbacken durchgefressen. »Auswechseln?«
»Non. Mal sehen, was von der Substanz noch zu retten ist. Guten Morgen, ma petite.«
René Mansur drückte ihr die Taschenlampe in die Hand und kletterte aus dem Schacht nach oben. Obwohl es so früh war, blitzten seine Augen hellwach. Er griff nach einem Lappen, um sich die Hände abzuwischen. Ihr fiel auf, dass sie trotz ihrer Turnschuhe eine Winzigkeit größer war als er. Das versetzte ihr einen kleinen Stich. Wie lange würde er sie noch seine Kleine nennen? Sie sahen sich ähnlich. Jedem, der Vater und Tochter nebeneinander sah, fiel das auf. Von ihm hatte sie die kastanienbraunen störrischen Haare geerbt, die Sommersprossen und das kleine, trotzige Kinn. Das Lächeln, hätte ihre Mutter noch hinzugefügt und wäre René dabei durch die struppigen Locken gefahren. Ihr Hugenotten. Immer charmant und nie um eine Ausrede verlegen.
»Wo ist Maman?«, fragte Coralie. Die kleine Eigenheit, französische Kosenamen zu gebrauchen, hatte sie immer gemocht.
»Oben. Wir können gleich frühstücken. Sag ihr, ich bin in fünf Minuten fertig.«
»Aber nicht mit dem da.« Sie wollte auf den Oldtimer deuten, als von der Straße ein untertouriges, bullerndes Geräusch zu ihnen drang. Es wurde lauter. Jemand fuhr gerade mit schätzungsweise 500 auf Schritttempo gedrosselten PS auf ihren Hof. Sie stürmte hinaus und wäre um ein Haar auf der Motorhaube eines feuerroten Ferraris gelandet.
»Matze!«, schrie sie und warf sich dem Mann, der sich unter Ächzen und Stöhnen aus der viel zu niedrigen Sitzschale befreite, an den Hals. »Wo kommst du denn her? Bist du unter die Millionäre gegangen?«
Matze, der beste, älteste und offenbar einzige Freund ihres Vaters, war klein, rund und prall wie ein Medizinball. Die Haare lichteten sich über seiner Stirn. Eigentlich war er das genaue Gegenteil von René, nur das Lächeln der beiden ungleichen Freunde ähnelte sich: Es war offen, herzlich und ehrlich. Mit Matze hatte sie Autofahren gelernt, immer rund um die Abladerampe auf seinem Schrottplatz.
»Coralie«, schnaufte er, nachdem er ihr drei Küsse auf die Wangen geschmatzt und beinahe die Brötchentüte samt Inhalt zerdrückt hatte. »Wenn ich diesen Wagen hätte, hätte ich ihn nicht mehr.«
Sie sah Matze ratlos an.
»Dann säße ich schon längst in der Ardeche auf meinem kleinen Weingut, dass ich mir für das Geld angeschafft hätte.« Er lachte dröhnend. »René! Tut mir leid, dass ich dich so früh störe.«
Die Freunde begrüßten sich mit Handschlag und einer schnellen Umarmung. Während René um den Wagen herumging, immer noch den Lappen in der Hand, erklärte ihm Matze, was es damit auf sich hatte.
»Runtergeheizt bis aufs Gestell. Ist ja nicht mehr der Jüngste. Kannst du ihn mal durchchecken?«
»Dafür habe ich das Gerät nicht.«
»Einfach nur durchsehen. Dann kann er wieder für ein Jahr in die Garage. Wofür nennt man dich denn The Car Whisperer?« Er zwinkerte Coralie zu. »Meine Ersatzteile, dein Können, mein lieber René, und wir rocken das Blech! – Gehört einem Bekannten von mir. Ist das ein Schätzchen? Oder?«
Coralie hob bewundernd die Augenbrauen, weil man das von ihr erwartete. So war das in einer Familie von hugenottischen Autoschraubern. Als sie sechs war und man sie nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt hatte, hatte sie »Frostschutzmittel« geantwortet. Das war rosa. Manchmal glaubte sie, René wäre ein Sohn statt einer Tochter lieber gewesen. Einer, mit dem er fachsimpeln konnte und der den Wagenheber nicht fallen ließ, weil es Zeit war für Tanzstunden.
Mit einem Seufzen wandte sie sich ab und ging über den Hof ins Haus. Sie bewohnten den ersten Stock des grauen Mehrfamilienhauses. Frischer Kaffeeduft stieg ihr in die Nase, als sie die Wohnungstür öffnete.
Ihre Mutter Marion deckte in Frotteebademantel, Pantoffeln und einem um die feuchten Haare geschlungenen Handtuch den Tisch. An anderen Frauen hätte dieser Look vielleicht etwas asselig ausgesehen. Das weiße Handtuch war schon leicht grau und die Pantoffeln hatten auch schon bessere Tage gesehen. Doch Marion konnte sogar einen Werkstattoverall tragen und damit aussehen wie Taylor Swift – okay, eine etwa fünfundvierzigjährige Taylor Swift vielleicht. Zumindest aber wie jemand, der selbst nach zwanzig Jahren Ehe immer noch ein verliebtes Lächeln ins Gesicht ihres Mannes zaubern konnte. Glücklicherweise hatte sich das in den letzten Jahren etwas gelegt. Coralie erinnerte sich noch daran, wie peinlich es ihr gewesen war, dass ihre Eltern die Einzigen gewesen waren, die auf Klassenkonferenzen Hand in Hand erschienen.
»Guten Morgen, chérie!« Marion holte eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank. Sie hatte winzige Fältchen um die Augen, wenn sie lächelte. »Wie war die Tour?«
»Anstrengend. Ich will ins Bett.« Sie nahm ihrer Mutter die Tüte ab und trank einen großen Schluck, bevor sie sie auf den Tisch stellte. Marion nahm das stirnrunzelnd zur Kenntnis.
»Was ist? Außer mir trinkt sie doch keiner.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und legte theatralisch die Arme auf den Tisch und den Kopf gleich dazu.
Ihre Mutter seufzte. »Noch zwei Wochen, dann sind Ferien. Jetzt iss erst mal was und trink einen Kaffee, dann sieht die Welt ganz anders aus.«
Coralie richtete sich auf, nahm ein Brötchen aus der Tüte und sah aus dem Fenster. René und Matze standen immer noch neben dem Ferrari und fachsimpelten. Die Bande aus dem dritten Stock – Jacob, Benjamin und Sascha – stürmte gerade johlend auf den Hof. Matze hatte alle Mühe, die sechs-, acht- und elfjährigen Jungen davon abzuhalten, das Auto zu entern.
René lächelte sein Glückslächeln. Klar. Autos. Da hatte er Zeit. Da ließ er andere Aufträge auch mal sausen, wenn so ein Megakracher in seinem Hof stand. Aber wenn Coralie von Khaled und dem Workshop in London anfing, war alles anders. Kein Geld. Das Totschlagargument. Erst die Werkstatt, dann noch einmal die Werkstatt und dann erst mal ganz lange nichts.
»Ein Frühstück verändert nicht die Welt«, sagte sie.
»Die Welt nicht, aber die Sicht darauf.« Marion stellte sich neben sie und reichte ihr eine Tasse. »Wir sind gesund. Wir haben Arbeit. Und in vier Wochen hast du das Geld für diesen Wunder-Workshop zusammen. Ich habe mir mein erstes Fahrrad auch mit Zeitungsaustragen verdient. Und dein Vater hat eine ganze Gang dazu gebracht, alten Damen die Einkaufstüten für fünfzig Pfennige nach Hause zu tragen.«
»Danke. Ja. Ich kenne die Heldendramen.« Coralie nahm die Tasse und trank einen Schluck.
»Wir können dir nicht mehr geben als das, was wir haben. Immerhin ist es die Hälfte der Kosten, die du für London ausgeben musst.«
»Ist schon gut.«
»Und auch diese dreihundert Euro müssen wir irgendwie aufbringen. Das ist nicht einfach. Für uns alle nicht.«
Coralie versuchte ein Lächeln. Es sah weder charmant noch französisch aus. »Ich weiß. Trotzdem bin ich todmüde. Ist das okay?«
Ihre Mutter nickte. »Es ist immer gut, für seine Ziele zu kämpfen.«
Ja, dachte Coralie. Aber die wenigsten Helden müssen anschließend noch zur Schule.
Laura wartete an der Bushaltestelle. Wenn Coralie ihre beste Freundin in einem Wort beschreiben sollte, würde ihr Spitzmaus einfallen. Eine süße Spitzmaus. Laura hatte kleine dunkle Augen und eine winzige Nase. Sie zwirbelte ihre glatten schwarzen Haare zu einem Dutzend kleiner Zöpfe, die ihr wie Pinsel vom Kopf standen. Alles an Laura war zierlich. Nur ihre Schultasche nicht. Die war riesig, weil Laura zusätzlich zu ihren Schulsachen ein halbes Atelier mit sich herumschleppte. Blöcke, Stifte und – Mangas. Laura liebte Mangas. Vor ein paar Jahren hatte sie mit dem Zeichnen angefangen. Mittlerweile hatte sie schon eine kleine Fangemeinde im Netz.
»Caisha sollte doch nicht den Irreversibler nehmen.« Das war es, was aus Lauras Mund kam, wenn andere Leute »Guten Morgen« sagten. »Ein normales Raumschiff täte es doch auch!«
Der Irreversibler war – darauf war Coralie wirklich stolz – ihre Erfindung: eine Art Lichtgeschwindigkeitsrakete, die nur einen klitzekleinen Fehler hatte: Sie gewann ihre Energie aus sich selbst, war also nur einmal zu gebrauchen. Coralie hatte den Entwurf und die Konstruktion geliefert, nachdem Laura fast verzweifelt war. Seitdem stand sie ihrer Freundin in technischen Fragen mit Rat und Tat zur Seite – mochten die auch noch so absurd sein (»Wie fängt man eigentlich die Kügelchen wieder ein, die beim Pinkeln im Weltraum verloren gehen?« »Was, wenn du beim superluminaren Tunneln zu schnell zurückkommst und dir selbst gegenüberstehst?«)
Die Kriegerin Caisha hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Laura. Coralie liebte Lauras Mangas! Meistens drehten sie sich um Caishas geheime Aufträge in entfernten Galaxien und die anschließende überstürzte Flucht in Überlichtgeschwindigkeit vor bösen Häschern und um einen geheimnisvollen Unbekannten, in dem sie manchmal Jimi aus der Nebenklasse zu erkennen glaubte. Zumindest trugen beide, Jimi und der rätselhafte dunkle Held aus Lauras Mangas, schulterlange schwarze Locken.
»Hast du Mathe?«, fragte Coralie.
Irreversibel waren in ihrer Welt die schwarzen Löcher, die sich bei Infinitesimalrechnung auftaten.
»Klar. Ich geb’s dir in der großen Pause. Die Schlagzeilen von heute?«
»Krise in Griechenland. Krise in Afghanistan. Krise in meinem Portemonnaie.«
»Die Sonne und ihr Planetensystem gehen heute ins Kino.« Laura wies mit einem Kopfnicken auf die kichernden Mädchen, die sich neben den Stufen zum Eingang zusammengefunden hatten und jeden Neuankömmling in ihrer Mitte herzten, küssten und umarmten. »Ihr Vater stiftet mal wieder Freikarten für die ganze Klasse.«
Die »Sonne« war Marie. Marie strahlte ununterbrochen, selbst wenn ihr der Lehrer die nächste versemmelte Klassenarbeit übergab. Sie war groß, dünn und blond. Ihrem Vater gehörten eine Reihe Muliplex-Kinos, weshalb sie sich um Fragen wie Beliebtheit oder Verabredungen nie den Kopf zerbrechen musste. Auch jetzt war sie wieder umringt von einer Schar ihrer Fans. Durch das Kichern und Gackern hörte Coralie Maries hohes, aufgeregtes Zwitschern.
»Natürlich kommt Casper auch. Er spielt schließlich die Hauptrolle. Es ist so – uuuuh!« Die anderen Mädchen fielen ein. Uuuuh, so hoch wie möglich herausgequiekt, war das neue »cool«.
»Wir dürfen an den roten Teppich, hat mein Vater gesagt. Nicht alle, leider.« Maries Blick bekam etwas Mitleidiges, als er auf Laura und Coralie fiel, die gezwungenermaßen direkt hinter der Clique die Treppen zur Schule hochstiegen. »Steht ihr auf Casper Kendall?«
»Meinst du mich?«, fragte Laura und sah irritiert zu Boden. »Hier liegt keiner.«
Marie verdrehte die Augen.
Coralie prustete los. Casper Kendall war im letzten Jahr bis ins Finale der X-Factor-Show gekommen und hatte danach in zwei Filmen mitgespielt, die »High School Flirt Desaster« oder so ähnlich hießen und bei allen über achtzehn ratloses Kopfschütteln auslösten. Damit – mit den Filmen, nicht dem Kopfschütteln – hatte er im Sturm nicht nur Maries Olymp bestiegen. Casper Kendall grinste von Zeitschriftentiteln, T-Shirts, Frozen-Yoghurt-Bechern und Schulmäppchen. Er war allgegenwärtig. Im Teenager-Universum nahm er die Rolle des Sonnengottes ein, neben dem es bekanntlich keine weiteren Götter geben durfte.
Weder Coralie noch Laura waren Teil dieses Universums. Sie hörten Seeed und Die Toten Hosen, und wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, auch die zahllosen Boygroups auf angesagten Radiostationen. Der Hype um Casper Kendall aber lief ohne sie ab.
»Schon gut. Vergiss es einfach.« Maries Stimme bekam immer einen leicht schrillen Ton, wenn andere nicht begriffen, wie ihr Planetensystem aufgebaut war.
Laura zog Coralie am Arm in die Klasse. Sie waren spät dran. In letzter Sekunde erreichten sie ihre Plätze.
»Weck mich, wenn es vorüber ist«, sagte Coralie zu ihrer Freundin.