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5.

»Eine komische Familie.« Coralie lief neben Laura den Gang zum Chemieraum hinunter. »Der Vater sitzt im Rollstuhl, und der Sohn nietet alles um, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ich hoffe wirklich, dass das eine nicht mit dem anderen zusammenhängt.«

»Rumer«, wiederholte Laura den Namen, den Coralie ihr gerade gesagt hatte. »Irgendwas war da. – Sag mal, meinst du, ich kann Caisha und den Irreversibler einreichen?«

Laura wollte bei einem Manga-Wettbewerb irgendwo in Kyoto mitmachen, schaffte es aber nicht. Immer, wenn sie eine Geschichte zusammenhatte, befielen sie Zweifel, und sie begann noch einmal von vorne. Coralie hatte das Drama schon mehrere Male miterlebt.

»Klar. Die Story ist großartig. Kriegen sich Caisha und Jimi eigentlich?«

»Jimi?«, japste Laura entsetzt.

»Sorry, ist mir nur so rausgerutscht. Keine Ahnung, wie ich darauf komme. Also, kriegen sich Caisha und der große, geheimnisvolle, umwerfend coole Unbekannte noch?«

Laura blieb stehen. Die Schüler um sie herum eilten in den Raum und achteten nicht auf die beiden Mädchen.

»Das ist es ja.« Vorsichtig sah Laura über die Schulter. Bei dem allgemeinen Lärmpegel konnte sie niemand belauschen. »Jedesmal fangen meine Figuren an, irgendwie zu leben und nicht das zu tun, was ich will.«

»Wie meinst du das?«

Ihre Freundin hob in einer Geste gelinder Verzweiflung die Schultern. »Es ist wie verhext. Ich will, dass sie sich küssen. Stattdessen haut sie ihm eine runter.«

»Moment. Du musst doch nur aufschreiben, was sie tun!«

»Das reicht nicht. Sie fangen richtig an zu leben in meinem Kopf. Und irgendwie wollen sie nicht zusammenkommen. Sie findet, er ist ein Loser. Und er findet, sie ist eine Zicke.«

»Kann es sein, dass die beiden einfach nur einen beschissenen Start hatten? Schließlich war er als blinder Passagier im Raumschiff und hat ihr heimlich die gesamten Vorräte weggegessen, unter anderem auch noch die letzte Packung Sour-Cream-Chips. Und da versteht Caisha keinen Spaß, wie wir alle wissen. Nimm Haferkekse.«

»Was?«

»Selbst gebackene Haferkekse, die Caishas Mutter in ihrer fürsorglichen Art vor dem Start ins Raumschiff geschmuggelt hat und die das Letzte sind, was noch zum Essen übrig bleibt. Ich wette, dein geheimnisvoller Unbekannter läuft Amok.«

»Sag mal …« Laura musterte sie mit einem rätselhaften Blick. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Nichts. Ich will dir nur helfen. Schließlich soll ja auch ein Manga in sich logisch sein. Bau Haferkekse und Kräutertee ein und du hast die Lizenz zum Töten. Dann musst du nur noch den Anfang umschreiben.«

»Nur«, stöhnte Laura. »Das habe ich bereits gefühlte dreihundert Mal getan. Außerdem sollen sie sich ja nicht gegenseitig umbringen.«

»Nicht?«

Der Flur leerte sich. In letzter Sekunde huschten die beiden Mädchen ins Klassenzimmer und auf ihre Plätze.

»Du solltest mal wieder ausschlafen«, sagte Laura. »Ich kenne keinen Manga, in dem Haferkekse vorkommen. Wie sieht er denn aus?«

»Wer?«

»Der Typ, der dich so auf die Palme gebracht hat.«

Coralie überlegte einen Moment. Im Grunde genommen sah David Rumer besser aus, als die Polizei erlaubte. »Schwer zu sagen. Er trägt seine Sonnenbrille sogar noch in der Garage.«

»Auch eine Antwort.« Laura grinste.

Diese letzten Schultage fielen Coralie unendlich schwer. Sie konnte sich nicht erinnern, den Beginn der Sommerferien sehnlicher herbeigewünscht zu haben. Jeden Nachmittag kam sie nur für eine kurze Mahlzeit nach Hause – ihre Mutter kochte immer für die gesamte Werkstatt – und verschwand danach in Richtung Tanzschule.

Und immer noch gab es einen kleinen Stich im Herzen, immer noch einen übermütigen Moment der Freude, wenn sie den neongrünen Schriftzug an der Fassade des modernen mehrgeschossigen Bürohauses am Kurfürstendamm sah. Die »Dance Factory« nahm die gesamte obere Etage ein. Als die Fahrstuhltüren zur Seite glitten und den Blick auf die hellen Flure und die verglasten Studios freigaben, als sie auf dem Weg zu den Umkleideräumen lachende Grußworte aufschnappte und den Geruch von Bohnerwachs, Puder und Schweiß einatmete, als Wanda ihr entgegenkam, den Daumen hochhielt und »London!« entgegenrief, wusste sie, hier war sie richtig.

Coralie hatte Stage Dance erst spät für sich entdeckt. Bis dahin hatte sie sich mehr oder weniger begeistert durchs klassische Ballett gekämpft, Seite an Seite mit den Töchtern ehrgeiziger Mütter und verbissenen kleinen Superstars, die später an die staatliche Ballettschule wechselten. Eigentlich war Ballett ihre Flucht aus der realen Welt gewesen. Das genaue Gegenteil von Schweißbrennern, Diesel und Schmieröl. Nie hätte sie geglaubt, dass Tanzen zur Leidenschaft werden könnte – bis Wanda aufgetaucht war.

Wandas Klasse war anfangs nur ein Zusatzangebot der Schule gewesen. Schon nach den ersten Stunden war Coralie klar gewesen, dass sie genau das wollte: Tanzen, wie Wanda es ihr zeigte. Kein Plié, kein Pas de deux. Sie wollte laute Musik und verrückte Choreografien. Wut, Ärger, Freude, Angst – all das, was sie nie richtig zeigen konnte – wollte sie einfach aus sich herauslassen. Tanzen bis zum Umfallen, zu lauter, rockiger Musik, die letzten Kraftreserven mobilisieren. Sich selbst vergessen, verlieren und wiederfinden.

Als Wanda anfing, richtig mit ihr zu arbeiten, fühlte Coralie zum ersten Mal, wie es sein könnte, auf einer großen Bühne zu stehen. Ein Instrument zu sein für die Musik, sich diesem einzigartigen Gefühl hinzugeben, wenn alles eins war. Zwei harte Jahre lagen hinter ihr. Jahre, in denen sie begriffen hatte, was tanzen bedeutete und dass sie besser werden wollte. Die Dance Factory war gut, doch sie reichte nicht aus für Coralies Ehrgeiz.

»Du musst nach London«, hatte Wanda ihr eines Tages gesagt. »Bewirb dich für einen Workshop bei Khaled. Er sucht sich immer mal wieder den Nachwuchs für seine Company bei diesen Workshops aus.«

Seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie ihren Eltern nicht von Khaled und London vorgeschwärmt hatte. Die Einwände, die mit »Schule« und »Das ist doch nichts fürs Leben« begannen, wischte sie zur Seite. Für sie gab es nur ein Ziel: einen Platz bei Khaled zu ergattern. Was dann kam, stand sowieso noch nicht zur Debatte.

Auch an diesem Nachmittag nahm Coralie die Aufwärmübungen mehr als ernst. Nach einer halben Stunde Arbeit an der Stange war sie schweißgebadet. Aber sie fühlte ihren Körper, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Es war ein bisschen wie unter Strom und ganz nah am Feuer. Irgendwann kam der Moment, in dem man alles vergaß: Anstrengung, Schmerzen, Müdigkeit, sogar die Zeit. Dann begann der Flow, von dem sie sich davontragen ließ.

Die Master Class, in die sie sich mittlerweile hochgearbeitet hatte, begann in fünf Minuten. Coralie sah im Spiegel, dass Wanda, das Handtuch um die Schultern und eine Flasche Wasser in der Hand, auf sie zukam. Aber sie lächelte nicht, wie sie das sonst tat. Im Gegenteil. Ihr schmales, dunkles Gesicht war ernst, die großen braunen Augen ruhten mit einem schwer zu bestimmenden Ausdruck auf ihrer Meisterschülerin.

»Ist was?«

Coralie drehte sich um. Im gleichen Raum übte noch ein halbes Dutzend anderer Schüler. Spagatsprünge, Pirouetten, komplizierte Schrittfolgen.

»Komm mal mit. Ich muss mit dir reden.«

Etwas in Coralies Bauch krampfte sich zusammen. Wenn jemand »mit ihr reden« wollte, dann hatte das selten mit dem Wetter zu tun.

Sie folgte Wanda in die Umkleideräume. Zwei kichernde Zehnjährige kämpften sich gerade aus ihren Tutus, streng bewacht von ihren russischen Kindermädchen.

»Coralie …« Wanda setzte sich auf eine Bank. »Ich habe grade mit Khaled telefoniert. Er hat dein Video gesehen.«

»Und?« Ihr Herz begann, wie verrückt zu klopfen. Wanda hatte mit ihr geübt. Monatelang. Oft noch spät am Abend, wenn alle anderen schon gegangen waren. Zum Schluss war sie der Meinung gewesen, mit diesem Video könnte Coralie sich direkt bei Madonna bewerben – und würde auf der Stelle genommen. Sie ließ sich neben Wanda auf die Bank fallen. »Habe ich meinen Platz?«

»Theoretisch ja. Aber … Xavier … Also, es wurde noch jemand vorgeschlagen. Eine Jasmin Karner aus Berlin. Kennst du sie?«

»Nein«, flüsterte Coralie. »Was … Wer ist Xavier?«

»Alle ehemaligen Mitglieder von Khaleds Company können ihm begabte, junge Tänzer vorschlagen. Xavier arbeitet für Mikk MIC

Mikk MIC – Emm Äi Si ausgesprochen – war eine andere Tanzschule. Mikk hieß eigentlich Karsten Möckel und wäre wohl auf immer und ewig im dunklen Orkus der Links-zwo-drei-Tanzschulen verschwunden, wenn er nicht vor Jahren einmal einen Gastauftritt in einer Casting-Show gehabt hätte. Abgesehen davon, dass er in dieser Show mit noch nie zuvor da gewesener Inkompetenz die Fähigkeiten der Bewerber kritisiert hatte, war es ihm auch noch gelungen, seiner Schule den Stempel »Hier tanzen die Stars« aufzudrücken – eine dreiste Lüge, denn kein Star hatte jemals den abgeranzten roten Teppich betreten, der zu seinen Räumen führte. Die Lehrer wechselten häufig bei ihm, und es war ein Wunder, dass es jemanden aus Khaleds Company dorthin verschlagen haben sollte.

»Xavier und ich … Also, wir hatten schon früher ein paar Probleme miteinander.« Wanda scharrte mit ihren Füßen über den Boden. Coralie würde plötzlich bewusst, wie wenig sie eigentlich von ihr wusste. Tatsächlich hatten sie sich immer nur über das Tanzen, neue Videos, ausgefallene Shows und Wandas Zeit bei Khaled unterhalten. Dass es da Probleme mit einem Xavier gehabt haben sollte, war Coralie neu. Und dass diese Probleme plötzlich zu ihren eigenen wurden, noch neuer.

»Klär mich auf.«

»Ich bin damals freiwillig aus Khaleds Company ausgeschieden. Irgendwann muss man wissen, wann es Zeit ist, Schluss zu machen. Mitte dreißig jedenfalls ist so ein Alter, in dem man über Alternativen nachdenken sollte. Das Rumreisen, die Hotels, jeden Tag eine andere Stadt … Und dann werden die Verletzungen schwerer, ein Bänderriss heilt nicht mehr so schnell … Der Körper sagt dir, was er braucht, und jeder Tänzer sollte sehr genau hinhören. Ich wollte immer was Eigenes auf die Beine stellen. Und eines Tages werde ich auch meine eigene Schule haben, das weiß ich.« Wanda lächelte. Coralie hatte nie darüber nachgedacht, wie alt ihre Trainerin war. Zum ersten Mal fiel ihr der feine Kranz von Fältchen um Wandas Augen auf. Tanzen war ein Knochenjob. Aber womöglich war das Schlimmste dabei, dass die eigene Uhr schneller tickte als die von anderen.

Wanda wurde ernst. »Xavier hingegen ist von Khaled rausgeschmissen worden. Das hatte Gründe. Aber über die will ich hier nicht reden. Jedenfalls glaube ich, er will sich bei Khaled wieder einschmeicheln. Das geht am besten mit eigenen Schülern. Ich bin so stolz auf dich, Coralie. Wenn Khaled dich sieht, wird er wissen, was für eine großartige Arbeit wir geleistet haben.«

Und er wird Wanda vielleicht beim Aufbau ihrer Schule helfen und einen Workshop bei ihr abhalten, dachte Coralie. Das ist ihr sehnlichster Wunsch, und ich würde mich so für sie freuen, wenn es klappt. Aber …

»Was ist, wenn er diese Jasmin sieht?«

»Dann wird er Xavier vielleicht noch eine Chance geben, zurückzukehren und als Second Coach zu arbeiten.«

Coralie sprang auf und begann, nervös auf und ab zu tigern. »Was genau heißt das jetzt für mich? Ich bin raus?«

»Nein! Es bedeutet nur, dass du um deinen Platz kämpfen musst. Du und Jasmin, ihr müsst nach London und gegeneinander antreten.«

Coralie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und zwei völlig fremde Menschen miteinander reden zu hören. Das konnte doch nicht wahr sein. Seit Monaten hatte sie die Zusage aus London. Hatte unendliche Diskussionen mit ihren Eltern hinter sich gebracht. Stand seit dieser Woche jeden Morgen um drei auf und trug Zeitungen aus, um sich das Geld zusammenzusparen. Und jetzt das.

»Das kann er doch nicht machen.«

Khaled, Gott des Tanzes, Vishnu der Musik-Videos, Schamane der Stage Shows, hatte sie offenbar gerade aus seinem Workshop geschmissen.

»Doch. Leider. Ihr beiden seid die Einzigen aus Deutschland, die sich um den Platz bewerben. Die anderen kommen aus New York, aus Paris oder Las Vegas und haben schon Bühnenerfahrung. Es geht hier um die Wild Card, und die hättest du gehabt. Wenn Xavier nicht plötzlich aus der Versenkung aufgetaucht wäre und das unglaubliche Glück gehabt hatte, tatsächlich eine Begabung in seinem Kurs zu entdecken.«

»Hast du sie gesehen? Ist sie wirklich so gut?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur sagen, was Khaled mir erzählt hat. Er will, dass ihr beide gegeneinander antretet. Ich vermute, dass er auch ein bisschen Professionalität aus euch herausholen will. Du hast so gut wie keine Bühnenerfahrung.«

»Ich war immerhin mal der Schwarze Schwan!«

»In einer Kinderballett-Aufführung. Ich habe gehofft, dass es nicht dazu kommt. Aber ab und zu …«

Fassungslos starrte Coralie ihre Trainerin an. »Du hast gewusst, dass so was passieren kann?«

»Die Wild Card wird nicht verlost. Sie geht nach Leistung. Und die will Khaled sehen. Nicht mehr. Ich wusste nicht, dass Xavier …«

»Ich auch nicht! Ich habe geglaubt, alles wäre klar und ich fliege nach London!«

»Das wirst du auch.«

»Und am nächsten Tag wieder zurück?«

»Nur, wenn diese Jasmin besser ist.«

»So eine …«

Coralie fehlten die Worte. Ihr Traum war gerade wie eine Seifenblase zerplatzt. Dabei hatte Wanda es ihr versprochen. Der Platz war so gut wie sicher gewesen. Aber gerade begann sie zu begreifen, dass »so gut wie« eben doch nicht sicher war.

»Und was nun?« Ihr war danach zumute, entweder laut loszuheulen oder einen der Umkleideschränke zu zertrümmern.

Wanda stand auf. »Für mich ist es genauso eine Enttäuschung. Und für dich wird es nicht die letzte sein, wenn du wirklich auf die Bühne willst. Beiß die Zähne zusammen und kämpfe. Ich lasse dir jetzt noch genau eine Minute. Und danach will ich dich im Übungsraum sehen.«

Wanda ging. Die beiden Mädchen hatten sich fertig umgezogen und wurden von ihren Kindermädchen rausgeführt. Coralie sah das wie durch einen Schleier. Die Tränen steckten in ihrer Kehle fest. Irgendwann, das wusste sie, würde sie weinen. Aber nicht jetzt. Wenn sie damit anfing, würde sie nicht mehr aufhören können. Sie ging zum Spiegel über dem Waschbecken und starrte sich an. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen, ihre Augen brannten. Schnell drehte sie den Hahn auf und ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Dann beugte sie sich hinunter und schöpfte es sich ins Gesicht, wieder und wieder. Als sie kein Gefühl mehr auf den Wangen hatte, richtete sie sich auf und tastete nach ihrem Handtuch. Die Flecken waren verschwunden. Sie sah frisch aus. Nur wer genau hinsah, würde in ihren Augen etwas erkennen, was dort nicht hingehörte. Ungeweinte Tränen.