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Die Sache mit dem Glücklichsein
A ls ich am Montag ins Büro zurückkehrte, waren mir natürlich die neugierigen Blicke aller Mitarbeiter gesichert.
Der große James Knight, über den man normalerweise nur ganz wenig bis gar nichts erfuhr, hatte quasi einen Seelenstriptease für die Presse hingelegt ... und somit auch für seine Mitarbeiter.
Ich ignorierte die Blicke. Nachfragen gab es so oder so keine, denn das würde sich niemand trauen.
Alle wichtigen Menschen, mit denen ich sprechen musste, hatten sich bereits bei mir gemeldet, weshalb ich heute niemandem mehr Rede und Antwort stehen würde.
Für den Nachmittag hatte ich Matt und Paul in mein Büro bestellt, um ihnen mitzuteilen, dass ich bald für eine Woche im Urlaub sein würde. Ein absolut erstes Mal, denn ich war noch nie von der Firma entfernt gewesen. Schon gar nicht in einem anderen Land und ohne dauerhafte telefonische Erreichbarkeit.
»Und bevor jetzt wieder irgendwelche Nachfragen kommen, ja, es bedeutet, dass ihr eigenständig Unterschriften leisten dürft. Ich werde auch in Zukunft hier in der Firma etwas kürzertreten. Das ist allerdings eine Absprache, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht ist. Haben wir uns da verstanden?«
Beide nickten, wobei ich die Freude in ihren Gesichtern sehen konnte. Sie hatten wahrscheinlich nur auf diesen Tag gewartet. »Gut. In dieser Woche läuft noch alles normal. Ab Montag bin ich dann nicht da. Ich werde die Leitungsmitarbeiter der verschiedenen Abteilungen entsprechend informieren.«
Mit diesen Worten entließ ich sie zurück in ihre Büros, während ich den Rollstuhl umdrehte und nachdenklich aus dem Fenster blickte.
Tag für Tag, Jahr für Jahr war dieser Ausblick alles gewesen, was ich kannte. Morgens am besten im Dunkeln zur Arbeit und abends im Dunkeln zurück. Vom Auto in die Tiefgarage.
Kein Privatleben.
Kein Spaß.
Kein wirkliches Leben.
Und jetzt? Jetzt war zu Hause ein zuckersüßes kleines Mädchen, das nur darauf wartete, dass Daddy zurückkehrte.
Ich würde sie in der nächsten Woche garantiert fürchterlich vermissen, doch die Auszeit mit Dustin war genau das, was ich jetzt brauchte.
Es gab uns die Chance, dass wir uns wirklich kennenlernten. Fernab von dem Trubel der Stadt, von der Firma, von den Menschen um uns herum.
Ich rieb nachdenklich über meine Beine, in die dank des Docs noch immer kein Gefühl zurückgekehrt war. Erst heute Morgen hatte er mir eine neue Dosis gespritzt, denn ich wollte dieses Gefühl einfach noch nicht wieder gehen lassen.
Außerdem hatte die Betreuung mit Mary noch tausendmal besser gepasst, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Ich war gewappnet für dieses Leben im Rollstuhl und bis auf Weiteres würde ich dafür sorgen, dass der Doc mich genau in diese Situation versetzte.
Tag für Tag.
Ganz egal, mit welchen Konsequenzen.
»Bereit, Feierabend zu machen?«, erklang Dustins Stimme und ließ mich lächeln. Wir hatten verabredet, dass er mich abholte, da ich heute meinen behindertengerechten Tesla in Empfang nehmen konnte, um auch endlich wieder Auto fahren zu können. Etwas, wonach ich mich vielleicht als einziges sehnte. Bis heute.
Es war nicht das erste Mal, dass ich realisierte, wie wenig Angst ich vor dem Thema Rollstuhl hatte, weil ich mir verdammt noch mal alles leisten konnte, damit mein Leben weiterhin einfach verlief.
Ein behindertengerechtes Zuhause – ich ließ die Handwerker anrücken.
Ein behindertengerechtes Bett für Mary – ich ließ die Schreiner bauen.
Ein behindertengerechter Wagen – ich ließ das Autohaus spuren.
Wenn ich ein normaler Kerl wäre, so wie Dustin, mit einem kleinen Apartment und einem niedrigen Gehalt, würde das alles wahrscheinlich ganz anders aussehen.
Ich hatte immer hart gearbeitet für meinen Erfolg. Ich hatte viel riskiert und Gott sei Dank im finanziellen Bereich nie verloren. Anders als im Privaten.
Dort holte ich jetzt alles auf und das nicht Schritt für Schritt, sondern in rasanter Geschwindigkeit.
»Weißt du eigentlich, dass sich dein Coming-out wahrscheinlich bald ganz von allein erledigt hat oder ist das vielleicht sogar dein Plan?«, fragte Dustin, als unser behindertengerechtes Taxi vor dem Autohaus anhielt, wohin uns natürlich wieder Fotografen gefolgt waren.
Die Belagerung erschien mir mittlerweile noch schlimmer als gedacht. Sie folgten mir auf Schritt und Tritt, wenn man es in meinem Zustand denn so nennen konnte.
»Lassen wir die Frage doch einfach mal unbeantwortet«, erwiderte ich grinsend, während ich den Rollstuhl in Richtung Eingang manövrierte. Dort erwartete uns bereits der Chef persönlich, mit meinem neuen tiefschwarzen Tesla, dem es an nichts fehlte.
Ich setzte mich allein in den Wagen, wobei für mich bereits feststand, dass ich über kurz oder lang noch ein weiteres Auto hinzukaufen würde, bei dem ich im Rollstuhl sitzen bleiben konnte.
Falls ich wirklich einmal allein unterwegs war, wollte ich nicht erst den ganzen Rollstuhl auseinanderbauen müssen, so wie es bei diesem Wagen der Fall war.
Ich würde das gleich heute Abend in Auftrag geben.
Da war sie wieder, die Sache mit der Leichtigkeit.
Der Verkäufer erklärte mir die Features des Wagens, den ich per Handsteuerung bedienen konnte. Es war wirklich super einfach, sodass ich mir auch durchaus zutraute, direkt damit nach Hause zu fahren, was ich schlussendlich auch tat.
»Du siehst verdammt sexy hinter dem Steuer dieses Wagens aus.«
Grinsend wackelte ich mit den Augenbrauen bei Dustins Worten, der mir lachend auf die Schulter boxte.
Erst jetzt sah ich, dass er seine Hand auf meine Beine gelegt hatte und diese drückte.
Ich liebte es, wenn er das tat und ich es nur beiläufig mitbekam.
Genau diese Momente machten mich an.
Ich fuhr den Wagen bis in die Tiefgarage des Apartmentkomplexes, wobei Dustin mir nicht dabei half, den Rollstuhl aus dem Auto zu heben und ihn wieder zusammenzusetzen. Stattdessen stand er davor und schaute mir ganz genau zu.
Ich gönnte ihm diesen Anblick und mir diesen Moment der Hilflosigkeit.
Erst als ich sicher im Rollstuhl angekommen war, näherte er sich mir wieder und schob mich zum Fahrstuhl.
»Was würdest du eigentlich tun, wäre ich jetzt nicht hier, um den Button zu drücken?«
»Einen anderen schönen Mann fragen, ob er mir behilflich sein könnte«, erwiderte ich zwinkernd, da es für mich wirklich keine Chance gegeben hätte, den Knopf zu drücken, so weit oben, wie er sich befand.
Wir hatten keine großen Pläne für den Abend gemacht, doch das mussten wir auch gar nicht, weil ich direkt Mary abholte, die ich den ganzen Tag über wirklich vermisst hatte.
Sie wurde so schnell groß, obwohl es wahrscheinlich lächerlich war, das jetzt zu behaupten. Schließlich war sie noch ein richtig kleines Bündel Leben.
»Hey, ihr zwei. Kommt rein«, sagte Violet direkt, nachdem sie uns die Tür geöffnet hatte, und trat einen Schritt zur Seite, damit ich hereinrollen konnte. »Nicht besser?« Sie blickte auf den Rollstuhl, während ich nur eine abwinkende Handbewegung machte.
»Er spürt nichts«, klärte Dustin sie stattdessen auf. »Vom Bauchnabel abwärts.«
»Gar nichts?«
»Gar nichts, aber hören und sprechen kann ich noch.« Die beiden redeten über mich, als wäre ich gar nicht dabei.
»Dustin, würde es dir was ausmachen, Mary schon mal mit nach oben zu nehmen?«, fragte Violet, was mich überraschte. Sie schien also noch etwas mit mir besprechen zu wollen.
Gleichzeitig freute es mich allerdings auch, denn sie schien Dustin zu vertrauen. Und genau das war mir wichtig.
»Nichts lieber als das.« Lächelnd nahm er die Kleine aus ihrem Laufstall, wobei ich sie auch erst begrüßte, bevor die beiden hochgingen.
»Du hast schon wieder diesen viel zu ernsten Blick drauf. Will ich es wissen?«, fragte ich, was Violet mit einem Schulterzucken quittierte. Also war es wirklich ernst.
Ich rollte hinter ihr her ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die große weiße Designercouch fallen ließ und mich mit äußerst ernstem Gesichtsausdruck anblickte.
»Ich habe das Gefühl, dass ich dir keine gute Freundin bin. Ich meine ... du machst so viel durch und ich kann einfach nichts tun. Wobei ich mich heute frage, ob ich dir je meine Hilfe wirklich angeboten habe. Weißt du, was ich meine?«
»Ich glaube nicht, nein«, gab ich ehrlich zu, denn sie sprach für mich in Rätseln.
»Also du zum ersten Mal im Rollstuhl saßest, habe ich mich scheiße verhalten. Und das weiß ich. Statt das mit dir durchzuziehen, habe ich mich eingeigelt, es mit mir ausgemacht und dich hängen lassen.«
»Du hast mich doch nicht hängen lassen! Hör auf, dir das einzureden, Vi. Du hast mich niemals hängen lassen. Die Situation ist schwierig und in meinen Augen war deine Reaktion vollkommen in Ordnung.«
»Das war sie nicht! Ich hätte dir helfen sollen.«
»Du kannst mir aber nicht helfen. Das kann niemand.«
»Du nimmst diese ganze Situation so unfassbar locker. Ganz so, als wäre es für dich gar kein Problem, dass du vom Bauch abwärts nichts mehr spürst.«
»Es ist für mich kein Problem, weil ich mich mit der Situation angefreundet habe. Was bleibt mir denn auch anderes übrig? So ist es jetzt nun mal. Ich bin einfach froh und dankbar, dass ich so gut klarkomme und Dustin an meiner Seite habe, der mit dieser ganzen Situation einfach unfassbar gut umgeht.«
»Er ist wahrhaftig ein Schatz, das ist mir auch schon aufgefallen. Und ich bin so unendlich froh darüber, dass du ihn gefunden hast.«
»Das bin ich auch.«
»Trotzdem fühle ich mich verdammt mies, weil ich nicht mehr für dich da bin.«
»Ich melde mich, wenn ich etwas brauche. Versprochen.«
»Wie machst du das nur, James? Du wirkst nach außen hin immer so cool, so abgebrüht, so unverwundbar. Selbst jetzt, wo dir das geschehen ist. Wenn ich nicht wüsste, dass du anders bist, würde ich fast glauben, dass dich diese Situation glücklich macht. Auch wenn sich das jetzt wahrscheinlich vollkommen irre anhört.«
Ich verzog keine Miene bei Violets Worten. Oder zumindest versuchte ich es.
Sie kannte mich viel besser, als es mir manchmal lieb war.
»Das kommt dir vielleicht so vor, weil ich niemals in meinem Leben so glücklich war wie jetzt. Mit Dustin an meiner Seite, mit dir als meiner Freundin und mit diesem unglaublichen Geschenk, das du mir gemacht hast. Wie könnte ich nicht glücklich sein? Ich bin der glücklichste Mistkerl der Welt. Auch oder trotz dieser Scheiße.«
»Du bist unglaublich, James Knight. Und ich bin verdammt froh, dich in meinem Leben zu haben. Für immer.«
»Komm her«, sagte ich und zog Violet zu mir, als sie bei mir angekommen war. Wir umarmten uns lange und intensiv, mit so viel Liebe, wie zwei Menschen füreinander empfinden konnten. Aber auf rein platonische Art und Weise.
Was war nur aus uns geworden?
Den zwei wildfremden Menschen, die sich kein Wort zu sagen hatten am Anfang.
Aus der Frau, die von mir eingeschüchtert war und nichts von mir wissen wollte.
Aus dem Mann, der so voll war mit Hass auf sein Leben, dass er sich unter der Arbeit begrub.
Es war ein weiter und steiniger Weg gewesen, die Hauptsache war jetzt nur, dass wir das Ziel erreicht hatten.
Oder zumindest kurz davorstanden.
Als Vi mich wieder ansah, konnte ich die Tränen in ihren Augen sehen, die sie sich sofort abwischte.
»Hey, ich dachte, deine Emotionalität endet nach der Schwangerschaft wieder«, sagte ich augenzwinkernd.
»Ja, das habe ich auch gedacht. Aber dann sehe ich Mary, sehe euch zusammen, sehe all das hier und schwups bin ich sofort wieder nah am Wasser gebaut. Ich bin einfach so glücklich und so dankbar, weißt du? Auch wenn ich mir nie zu träumen gewagt hätte, das einmal zu sagen, als ich ganz am Anfang mit dem Vertrag in der Hand hier hereinspaziert bin.«
»Wer von uns hätte das schon gedacht? Umso schöner ist es ja, wie es gekommen ist.«
»Jetzt geh, bevor ich noch wirklich losschluchze!« Sie schubste mich mit dem Rollstuhl ein Stück zurück und wischte sich die Tränen noch ein weiteres Mal weg.
Sie hatte recht mit alldem, was sie gerade gesagt hatte.
Was für ein Scheißglück wir doch in so vielerlei Hinsicht hatten.
Wir mussten es nur sehen.