Die Sache mit dem Herz und dem Kopf
M
ary lag sicher in ihrem Tragetuch, welches ich mir umgebunden hatte, um mit ihr nach oben in mein Apartment zu fahren. Ich hatte sie nur sieben Tage nicht gesehen, doch es kam mir vor wie eine Ewigkeit.
Deshalb war es für mich auch selbstverständlich, dass ich sie jetzt mit nach oben nahm. Ich hatte mir geschworen, so viel Zeit wie möglich mit meinem kleinen Mädchen zu verbringen und an dieses Vorhaben würde ich mich auch halten.
Schließlich wollte ich ihr eine glückliche und erfüllte Kindheit bescheren. Ach, was: ein glückliches und vollkommenes Leben.
»Da ist ja die kleine Prinzessin«, sagte Dustin sofort, als ich mit Mary hereinkam. Auch er hatte bereits damit gerechnet, dass ich sie mitbrachte, obwohl wir gar nicht darüber geredet hatten. »Darf ich?« Er wartete auf mein Nicken, bevor er die Kleine vorsichtig aus dem Tragetuch befreite, um sie an sich zu drücken. »Meine Güte, kleiner Schatz, du bist ja wirklich schon wieder gewachsen.« Lächelnd betrachtete ich die beiden. Hätte ich Dustin nicht schon im Urlaub meine Liebe gestanden, so wäre
definitiv jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem ich nicht länger an mich halten konnte.
Es war die Art und Weise, wie er mit ihr umging, wie er mich ansah, das Gesamtpaket, das diesen Mann so unglaublich machte.
Ich würde ihn nie wieder gehen lassen.
Ich wollte es nicht.
»Zieh zu mir«, sagte ich, was Dustin überfordert aufblicken ließ.
»Bitte?«, fragte er nach.
Wie bei den drei magischen Worten am Strand hatte ich auch jetzt nicht darüber nachgedacht, es laut auszusprechen. Es war einfach geschehen und ich war verdammt glücklich über den Sieg meines Herzens gegen meinen Verstand.
Normalerweise hätte ich so einen Schritt tausendmal durchüberlegt, doch mit Dustin schien einfach alles anders zu sein. Wir bewegten uns in einem Tempo vorwärts, das ich nicht erklären konnte. Oder vielleicht doch ... schließlich hatte ich jahrelang darauf gewartet, einfach dieser Mann zu sein, der ich jetzt gerade war.
»Zieh zu mir«, wiederholte ich meine Worte. Dieses Mal allerdings mit deutlich mehr Entschlossenheit.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja! Absolut ja! Ich weiß, vielleicht sollten wir uns noch mehr Zeit lassen, aber ich habe so viel Zeit in meinem Leben damit verschwendet, mit mir zu hadern und nicht auf mein Herz zu hören. Da ist es jetzt einfach so weit, genau das Gegenteil zu tun.«
»Okay.«
»War das ein Ja?«, fragte ich, was Dustin auflachen ließ.
»Ich glaube, ja. Also zumindest sagt mein Herz Ja. Mein Verstand protestiert gerade noch.«
Lachend fuhr ich auf ihn zu und küsste ihn zärtlich, während er Mary noch immer auf seinem Arm hielt.
Violet hatte es so unglaublich gut auf den Punkt gebracht.
Damit Mary glücklich wurde, mussten wir glücklich sein.
Damit ich glücklich wurde, musste ich mit mir im Reinen sein.
Mit mir. Mit Dustin. Mit meinen Gefühlen und meinen Wünschen. »Ich kann nicht fassen, dass du das gerade wirklich gefragt hast.« Dustin schüttelte noch immer den Kopf, während ich nur lachend mit den Schultern zuckte.
»Das kann ich auch nicht, aber hey, was soll’s? Das alles zwischen uns ist so oder so verrückt genug. Wieso sollten wir der Verrücktheit nicht damit noch die Krone aufsetzen?«
»Wo du recht hast.«
Am nächsten Morgen lag ich noch im Bett, als Dustin mit dem Tablet in der Hand das Schlafzimmer betrat.
Mary lag auf dem Bett neben mir und strampelte fröhlich vor sich hin, während ich die Zeit genoss. Ich musste später wieder zurück in die Firma, an die ich unfassbar wenige Gedanken verschwendet hatte in der letzten Woche. Es war sogar so weit gekommen, dass ich nicht einmal angerufen hatte. Geschweige denn meine Mails gecheckt.
Ich vertraute darauf, dass Matt und Paul sich bei einer Katastrophe schon von sich aus bei mir gemeldet hätten. Dabei war Vertrauen eigentlich nicht meine Stärke.
Doch mein Privatleben und alles, was momentan darin passierte, war mir schlichtweg um einiges wichtiger.
»Babe, ich bin mir nicht sicher, ob du bereit bist für diesen Tag«, sagte Dustin, was mich fragend die Augenbrauen hochziehen ließ. Seufzend reichte er mir das Tablet, auf dem wir gemeinsam zu sehen waren.
»Liebesurlaub mit einem anderen Mann? Ist er der wahre Grund hinter der Trennung des Traumpaars?«, prangte in riesigen Buchstaben über einem sehr eindeutigen Foto von Dustin und mir. Wir küssten uns. Es waren Paparazzischnappschüsse vom Flughafen in New York.
Waren mir nicht genau diese Gedanken durch den Kopf gegangen bei diesem Kuss und Dustins Berührungen? Der Gedanke, dass es mir scheißegal war, wenn uns jetzt jemand sah?
Dass jemand jetzt ein paar Millionen Menschen waren, daran musste ich mich vielleicht erst noch gewöhnen, doch jetzt war die Katze aus dem Sack.
»Na dann«, sagte ich und zoomte in das Foto, das uns beide zusammen zeigte. »Sie haben uns wirklich gut getroffen.«
»Das ist alles, was dir dazu einfällt? Wieso schockst du mich in den letzten Tagen eigentlich immer wieder?«
»Entschuldige.« Ich lachte auf bei Dustins entsetztem Gesichtsausdruck. »Ich bin gerade einfach nur unendlich froh darüber, dass es raus ist! Ich meine ... ich hatte so oder so nicht mehr vor, mich mit dir zu verstecken. Aber dass es jetzt so schnell geht ... warum nicht. Ich freue mich ehrlich gesagt ein wenig. Auch wenn ich natürlich nicht bereit dafür bin, welche Welle mir jetzt vielleicht entgegenschlägt. Aber hey, früher oder später wäre es so oder so so weit gekommen. Ich habe mich für das Leben mit dir entschieden. Ich habe dich sogar gefragt, ob du hier einziehen möchtest. Wann, wenn nicht jetzt, ist es also Zeit, öffentlich zu diesem Thema zu stehen?«
»Hast du nie Angst, dass es mit uns nicht halten könnte und dass du dir hinterher Vorwürfe machst, all diese Sachen nicht genau durchdacht zu haben?«
»Nein! Niemals. Nicht eine einzige Sekunde. Weil ich weiß, dass du der Richtige für mich bist. Wer, wenn nicht du?
Ich meine, jetzt mal ganz ehrlich, Dustin. Du hast mich aus diesem Schneckenhaus geholt, in das ich mich immer
verkrochen hatte. Du hast mir gezeigt, was es heißt, zu sich selbst zu stehen. Was es heißt, schwul zu sein. Was es heißt, seinen Fetisch auszuleben, gegen jeden Verstand. Ich will keine Sekunde mehr ohne dich verbringen, Dustin.
Ich will mit dir in diesen Club gehen. Deine Freunde kennenlernen und einfach ein normales Leben leben, sofern es denn möglich ist.«
»Ich liebe dich.« Ich konnte Tränen in Dustins Augen schimmern sehen, nachdem er sich zu mir aufs Bett gesetzt hatte, um mich zu küssen. Es war ein sehr emotionaler Moment für uns beide. Schließlich war spätestens jetzt der Grundstein für unsere gemeinsame Zukunft gelegt worden. Wie auch immer diese dann auch aussehen würde.
Das musste die Zeit zeigen.
Ich jedenfalls war bereit für jede einzelne Sekunde mit diesem wunderbaren Mann.
Als ich viel zu spät das Apartment verließ, um Mary zu Violet zu bringen, umarmte mich diese sofort.
»Ich stehe hinter dir. Das habe ich dir gestern versprochen und das gilt auch heute noch nach diesem Artikel. Du weißt, dass ich keine leeren Versprechungen mache.«
»Ja, das weiß ich und ich danke dir dafür.«
»Bist du gewappnet gegen all das, was jetzt vermutlich auf dich zukommen wird?«
»Kann man sich dagegen wappnen? Ich befürchte nicht. Aber hey, das ist okay. Ich weiß ja, dass ich nicht allein dastehe. Mal sehen, wie viele homophobe Geschäftspartner ich habe, die dann heute mit Sicherheit abspringen werden. Aber auf ein Arbeitsverhältnis mit solchen Leuten lege ich so oder so keinen Wert. Das wird mein Unternehmen schon nicht in die Knie treiben und mich auch nicht umbringen. Es ist nur traurig,
dass ich wirklich so lange gebraucht habe, um diese Sachen zu realisieren und zu akzeptieren.«
»Besser spät als nie, oder? Außerdem gibt es doch für alles den richtigen Zeitpunkt. Vielleicht hast du erst einen Mann wie Dustin an deiner Seite gebraucht. Oder eine kleine, süße Tochter, für die du das beste Leben führen möchtest, das du nur führen kannst.«
Lächelnd hauchte ich einen Kuss auf Marys Stirn, bevor ich sie an Violet übergab. Ich war bereit, in den Kampf zu ziehen und mich dieser Welle zu stellen.
Gemeinsam mit Dustin natürlich, der bereits in der Tiefgarage auf mich wartete.
Im Büro waren mir natürlich alle Blicke der Belegschaft sicher. Oder besser gesagt uns, denn ich hatte darauf bestanden, dass Dustin mich bis ins Büro begleitete.
»Guten Morgen, Mister Knight«, begrüßte mich Keyla, freundlich wie jeden Morgen, aber deutlich distanzierter. Meine Behinderung hatte sie schon zuvor ein wenig abgeschreckt, doch diese Sache setzte dem Ganzen noch die Krone auf. Wie viel hätte sie noch vor einigen Monaten für eine Nacht mit mir gegeben. Jetzt lag ihr wahrscheinlich nichts mehr ferner.
Oder aber, sie hatte jetzt endlich verstanden, dass es nie passieren würde. Weder zu dem Zeitpunkt, als meine Scheinfreundin schwanger war, noch jetzt, wo ich einen Partner an meiner Seite hatte.
»Hast du all die Blicke gesehen?«, fragte Dustin, nachdem er die Tür hinter mir geschlossen hatte.
»Ja, absolut. Das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben. Glaubst du, du kommst in deiner Abteilung klar oder soll ich das regeln?«
»Awwww, welch eine fürsorgliche Frage! Aber nein, Babe, du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Ich komme klar. Versprochen.«
»Okay.«
»Du ebenfalls?«
»Ich ebenfalls.« Mit einem sanften Kuss auf meine Lippen verabschiedete Dustin sich, mit dem ich allerdings schon in wenigen Stunden zum Lunch verabredet war.
Die Begrüßung von Paul und Matt erfolgte respektvoll, wie sonst auch, doch ich hatte mir vorgenommen, dieses Thema bei ihnen auf jeden Fall anzuschneiden.
»Also, wie bereits aus der Presse ersichtlich, bin ich schwul und habe einen Lebensgefährten. Irgendwelche Probleme damit?«, eröffnete ich das Morgenmeeting. Ich konnte meine Wortwahl selbst kaum fassen, doch ich musste hier im Büro den Schein des unantastbaren James Knight wahren. Nein, ich musste es nicht, aber ich wollte es.
Zumal dieser Ruf in den letzten Monaten durch meine vermeintliche Erkrankung bereits gelitten haben dürfte.
»Ich habe keinerlei Probleme damit«, versicherte mir Paul kopfschüttelnd, während Matt sich einige Sekunden länger Zeit ließ.
»Also, mir ist es extrem wichtig, dass Sie verstehen, dass ich ebenfalls keinerlei Probleme damit habe. Ich befürchte allerdings, es könnte sich negativ auf etwaige Geschäftspartner auswirken.«
Irgendwie tat mir dieser Kerl leid, der mir in so vielen Aspekten der Denkweise ähnelte.
»Oder es wirkt sich positiv aus, denn die Bewegung hin zu einem offenen und normalen Umgang mit Homosexualität wird doch gerade immer stärker und lauter. Und das überall auf der Welt. Ein schwuler CEO eines solch großen Unternehmens,
vielleicht sollte man das als Marketing nutzen«, widersprach ihm Paul sofort.
»Okay, ich bin eigentlich immer offen für interessante Ansätze. Gerade dann, wenn sie mir eine Menge Geld einspielen könnten, aber in diesem Fall gibt es von mir ein ganz klares Nein. Wir werden mein Privatleben und meine Sexualität nicht für irgendwelche Marketingzwecke benutzen. Diesen Fehler habe ich schon einmal gemacht.«
Damals, vor unzähligen Jahren, war ich als heißester Junggeselle New Yorks gekürt worden, was natürlich das Interesse des weiblichen Geschlechts beinah außer Kontrolle geraten ließ. Das Schlimme daran war allerdings, dass es mich in den Fokus der Öffentlichkeit rückte, aus dem es für mich kein Entkommen zu geben schien.
Außer mit dem Arrangement, welches ich mit Violet traf.
Mit ihr spielte ich das perfekte Traumpaar und bot der Welt alles, was sie sehen wollte. Außer einer Hochzeit, denn so weit war ich garantiert nicht bereit zu gehen und Violet ebenso wenig.
Mit meinem Coming-out stand ich jetzt vielleicht noch eine Weile im Fokus der Klatschblätter, doch dieses Interesse dürfte auch bald verebbt sein, wenn sie feststellten, dass es gar nichts Interessantes zu berichten gab.
Dass zwischen Violet und mir alles klar war, hatten wir mit dem Auftritt nach der Bekanntgabe unserer Trennung wohl zur Genüge sichergestellt.
Ein Auftritt, bei dem auch Dustin und Gerald dabei gewesen waren.
Wir hatten den Klatschblättern bereits den Wind aus den Segeln genommen, noch bevor sie überhaupt anfangen konnten, eine große Story zu generieren. Und das war schlussendlich ein brillanter Schachzug gewesen.
Für kein Geld der Welt würde ich mich jetzt also wieder in genau diesen Sog hereinziehen lassen. Ganz egal, wie
positiv die Auswirkungen vielleicht für das Geschäft auch sein konnten. »Wie sind die Geschäfte während meiner Abwesenheit gelaufen?«, fragte ich, obwohl ich bereits einen sehr guten Überblick hatte. Die beiden waren so schlau gewesen, mir eine komplette Aufstellung über alle Unterschriften, Entscheidungen und Vorschläge zukommen zu lassen, sodass ich mich bereits hatte einlesen knnen. Und ich war wirklich mit allem einverstanden, auch wenn es mich selbst überraschte.
Sie hatten gute Arbeit geleistet. Natürlich zeigte ich ihnen meine hohe Zufriedenheit nicht, sondern ging hart mit ihnen ins Gericht, doch auch diesem Druck hielten sie stand.
Mit Matt und Paul hatte ich wirklich fähige Geschäftsführer in meinem Unternehmen eingestellt. So fähig, dass ich durchaus zwischendurch verreisen konnte. Auch wenn mir dieser Gedanke noch immer so unwirklich vorkam und irgendwie zu schön, um wahr zu sein.
In dieser Mittagspause verließ ich das Gebäude durch den Haupteingang, natürlich mit Dustin an meiner Seite, da ich bereits wusste, dass die Aasgeier garantiert darauf warten würden, irgendein Bild oder ein Statement von mir zu bekommen.
Zu meiner großen Überraschung und unendlichen Freude, erblickte ich auch Violet, die Mary im Kinderwagen bei sich hatte.
Sie wartete ebenfalls draußen und winkte mir strahlend zu, während die Paparazzi ihre Fotos schossen und mich mit Fragen löcherten, die ich allerdings gar nicht wahrnahm.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich und schloss sie in meine Arme, bevor Dustin dasselbe tat. Natürlich klickten die Kameras hinter uns nur so.
»Ich dachte, ich leiste euch an diesem Tag ein wenig Schützenhilfe. Schließlich habe ich auch mit diesen Aasgeiern gerechnet.«
»Du bist unglaublich«, erwiderte ich und umarmte Violet noch einmal, bevor ich nah an den Kinderwagen rollte, um nach Mary zu sehen. Sie schlief friedlich und wirkte wie ein kleiner Engel in ihrem weißen Kleid mit der weißen Mütze.
Erst als wir im Restaurant Platz nahmen, beziehungsweise ich an den freien Platz rollte, wurde mir bewusst, dass ich noch immer keinerlei Gefühl in meinen Beinen hatte. Der Doc hatte bereits klargestellt, dass er nicht wüsste, wie sich all die Injektionen über einen so langen Zeitraum wohl ausgewirkt hatten.
Ob ich je wieder Gefühl zurückerlangen würde?
Ich war bereit für alles, was sich ergab.
Gegen das Gefühl konnte ich jederzeit etwas unternehmen.
»Ihr glaubt gar nicht, wie oft mein Telefon am heutigen Morgen bereits geklingelt hat. Niemand konnte glauben, dass der Artikel der Wahrheit entspricht, aber ich habe es natürlich allen bestätigt. Gibt es schon Rückmeldungen aus der Firma?«, hakte Violet nach, während ich den Kopf schüttelte.
»Nur von Matt und Paul. Für sie scheint es okay zu sein. Was ist mit dir, Dustin? Haben die Kollegen etwas gesagt?«, fragte ich, da wir noch gar keine Zeit hatten, in Ruhe darüber zu sprechen.
»O ja, allerdings. Aber genau so, wie erwartet. Es gab einen ganzen Haufen dummer Sprüche, aber alle waren wirklich nett gemeint und mega witzig.«
»Das ist schön«, sagte ich und drückte kurz seine Hand.
»Ihr zwei seid wirklich süß und ich freue mich so sehr für euch, dass jetzt endlich Klarheit herrscht und das Versteckspiel ein Ende hat. Ich meine, wie lange habe ich die Beziehung zu Gerald geheim gehalten? Wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise so lang wie ihr. Und trotzdem habe ich gelitten und fand es wirklich schwierig. Ich kann mir also vorstellen, wie es für euch sein muss. Zumindest ansatzweise.«
Ich lächelte in mich hinein, denn Violet hatte keine Ahnung, wie lange das zwischen Dustin und mir schon ging, beziehungsweise wie alles angefangen hatte.
Schließlich wusste sie auch nicht, dass ich ganz normal in der Lage war zu laufen.
Theoretisch.
Wenn ich nicht diese eine Spritze zu viel in Kauf genommen hatte, die dieser Fähigkeit für immer ein Ende setzen würde.
Es konnte bei jeder einzelnen Spritze geschehen und das noch immer fehlende Gefühl in meinen Beinen ließ mich verdammt noch mal genau darauf hoffen. Egal, wie krank diese Gedanken auch anmuteten.
Mary begann unruhig in ihrem Kinderwagen zu werden, weshalb Dustin aufstand, sie heraushob, um sie mir dann zu reichen.
»Hallo, kleiner Schatz. Wolltest du deinen Daddy besuchen?«, fragte ich und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn, was sie sofort ruhiger werden ließ. »Ich habe dich auch schon vermisst. Wenn du ein wenig älter bist, dann kannst du Bürotage mit Daddy machen, Schränke ausräumen und Keyla in den Wahnsinn treiben. Hört sich das nicht nach einer ganzen Menge Spaß an?«, flüsterte ich, was Dustin und auch Violet auflachen ließ.
Nach unserem gemeinsamen Essen legte ich Mary in das Tragetuch, welches ich für sie immer benutzte, und fuhr mit ihr behutsam in Richtung Bürogebäude, da Violet beschlossen hatte, noch eine Runde in Ruhe einkaufen zu gehen, wenn sie schon einmal in dieser Ecke der Stadt war.
Etwas, das ich natürlich ausnutzte, um meiner Prinzessin Daddys Reich zu zeigen.
Im Büro waren alle ganz verzückt von meinem kleinen Mädchen und selbst in Rita, dem Drachen vom Empfangstresen,
schienen mütterliche Gefühle auszubrechen, als sie Mary in meinem Arm sah.
Es fühlte sich so gut und so richtig an, sie hier bei mir zu haben. Vielleicht würde sie wirklich irgendwann hier durch die Gänge flitzen und alle um den Verstand bringen.
Ich jedenfalls konnte mir nichts Schöneres vorstellen.
Nachdem auch Dustin wieder an der Arbeit war, nahm ich Mary mit in mein Büro, wo ich sie mit ihrer Wickelunterlage behutsam auf meinen Schreibtisch legte.
»Der Tag, an dem du zum ersten Mal mit deinem Daddy im Büro warst, wird für mich auch immer der Tag bleiben, an dem ich der ganzen Welt endlich die Wahrheit über mich gesagt habe«, erzählte ich ihr, während sie einfach nur dalag.
Satt und sauber. Glücklich und zufrieden. Wie gerne ich sie vor allem Schlechten und allem Negativen in dieser Welt beschützen würde.
Verdammt, ich würde wirklich alles dafür geben, dass es ihr gut ging und sie ein Leben leben konnte, dass mir immer verwehrt geblieben war, doch das lag nicht in meiner Macht.
Vielleicht schaffte ich es wenigstens, sie zu einem weltoffenen, loyalen, respektvollen Menschen zu erziehen. Sie sollte niemals Angst haben, zu ihrer Meinung zu stehen oder zu ihrer sexuellen Orientierung.
Mir war klar, dass ich mir viel vorgenommen hatte, aber hey, sie war ein Baby, mein Baby – ihr Leben, ihre Entwicklung, das alles lag auch in meinen Händen.
Gut, dass ich gemeinsam mit Vi so ein entspanntes Team bildete.
»Ich werde nie zulassen, dass dir etwas passiert«, sagte ich, während mein Blick gedankenverloren auf meine Beine fiel, von denen ich noch immer nichts spüren konnte.
Eigentlich hatte ich eben mit Dustin darüber sprechen wollen, doch dann war Violet überraschend aufgetaucht. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass ich jetzt nur noch so tat, um den Schein aufrecht zu halten, aber da war wirklich noch kein bisschen Gefühl unterhalb meines Bauchnabels. Ich konnte meine Beine nicht spüren, geschweige denn bewegen.
Und es war mir egal.
Es war mir so verdammt egal, dass es mir viele Antworten auf Fragen gab, die ich mir immer nur in meinem Kopf gestellt hatte.
Wenn es jetzt so war, würde ich es nicht nur akzeptieren. Ich würde es nicht nur hinnehmen. Nein, ich würde es lieben.
Mit jeder einzelnen Pore meines Körpers.
Es war schon spät, als Vi wieder in mein Büro kam, doch das Arbeiten mit der Kleinen war rein gar kein Problem gewesen. Selbst das Füttern und Wickeln hatte ich trotz des Rollstuhls problemlos hinbekommen. Und wenn nicht, gab es immer noch Dustin, der nicht länger als drei Minuten bis in mein Büro brauchte.
Wir verließen das Büro gemeinsam, wobei ich meine Familie zum ersten Mal nach Hause brachte. In meinem umgebauten Tesla, der mit drei Erwachsenen, einem Rollstuhl und einem Kinderwagen doch langsam, aber sicher an seine Kapazitätsgrenzen kam.
Violet war damit beschäftigt, Mary aus dem Wagen zu heben, und die Babyschale auf dem Gestell zu befestigen, während Dustin meinen Rollstuhl zusammenbaute und ihn neben die Fahrertür schob, damit ich mich von meinem Sitz aus hineinmanövrieren konnte. Ich spürte seinen prüfenden Blick, woraufhin ich kurz den Kopf schüttelte.
»Gar nichts?«, flüsterte er mir zu, was mich erneut den Kopf schütteln ließ.
Für den Bruchteil einer Sekunde weitete er die Augen, wobei ich mir sicher war, dass es ihn nicht schockieren, sondern sehr freuen würde, wenn dieser Zustand permanent werden würde.
»Hast du was dagegen, wenn Mary heute bei uns übernachtet?«, fragte ich, was Dustin kurz auflachen ließ.
»Soll das ein Scherz sein?«
Ich wusste, dass er sie genauso gerne um sich hatte wie ich. Da auch Vi nichts einzuwenden hatte, nahmen wir Mary in ihrem Tragetuch mit nach oben in mein Apartment. In unser Apartment.
Wir würden schon ganz bald Nägel mit Köpfen machen und den Umzug von Dustin in die Wege leiten.
Der Start in unsere gemeinsame Zukunft. In ein neues Leben. Ein Leben, das ich zwar noch nicht kannte, nachdem ich mich allerdings scheinbar schon immer gesehnt hatte.