Die Sache mit den Risiken und Nebenwirkungen
»
G
uten Morgen, schöner Mann«, weckte Dustin mich am nächsten Morgen mit einem sanften Kuss, was mir direkt ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Es war so wunderschön, abends mit ihm einzuschlafen und morgens neben ihm aufzuwachen.
»Mary!«, entfuhr es mir sofort.
»Du hast geschlafen wie ein Stein in der letzten Nacht. Ich habe sie versorgt. Mach dir keine Gedanken.«
»O Gott, wie konnte ich sie denn bitte nicht hören?«, fragte ich kopfschüttelnd.
»Vielleicht brauchte dein Körper einfach mal ein bisschen Ruhe. Apropos, spürst du heute etwas?« Ich versuchte, meine Beine zu bewegen, und klopfte mit meinen Händen auf die tauben Oberschenkel.
Da war einfach nichts.
»Nichts«, erwiderte ich, was Dustin kurz ungläubig den Kopf schütteln ließ.
»Hast du den Doc schon angerufen?«
»Nein. Ich meine ... was soll er machen? Ich wusste, was für ein Risiko ich eingehe.«
»Aber ...«
»Was? Willst du mir jetzt sagen, dass es doch ganz schrecklich wäre, wenn ich für immer auf den Rollstuhl angewiesen bin?« Ich zog Dustin zu mir, um ihn leidenschaftlich zu küssen.
»Du weißt, wie ich darüber denke. Ich will nur, dass es dir gut geht.«
»Das tut es. So gut wie noch nie in meinem Leben. Wer braucht schon Beine, um glücklich zu sein? Ich jedenfalls brauchte erst kein Gefühl mehr in ihnen, um wirklich etwas zu spüren.«
»Schön gesagt, Mister Knight.«
»Ja, manchmal überlege ich auch, Poet zu werden. Ich habe oft Angst, meine wahre Berufung verpasst zu haben.«
»Deine wahre Berufung ist es, Marys Vater und der Mann an meiner Seite zu sein.«
»Oh, das hast du jetzt schön gesagt, Mister Porter.«
Wir lachten beide auf, bevor ich Dustin noch einmal küsste.
Die Arbeit wartete auf uns, auch wenn mir jetzt noch tausend Dinge durch den Kopf gingen, die ich lieber tun würde.
Doch mit dem Katheter, dem Verdauungsmanagement, dem Duschen und Anziehen, sowie der Versorgung von Mary war unser Morgen so oder so nie lang genug.
In der Firma war es mittlerweile normal, dass ich nicht mehr um Punkt sieben Uhr hinter meinem Schreibtisch saß.
Etwas, das noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wäre. Damals war ich immer der Erste und der Letzte in der Firma gewesen, doch diese Zeiten waren Gesichte. Vor allem oder gerade, weil ich gelernt hatte, dass es auch ohne mich wirklich gut funktionierte.
In der Woche Urlaub hatte es keine Katastrophen gegeben und die Firma schrieb noch immer schwarze Zahlen. Phänomenal gute schwarze Zahlen sogar.
Wenn es so weiterging und mein Vermögen weiter so rasant wuchs, würde ich schon bald ziemlich weit oben auf der Forbes-Liste stehen.
Hauptsache Mary war für ihr Leben versorgt, damit sie sich niemals Gedanken um Geld machen musste. Sie sollte ihr Leben genießen und nur den Beruf ausüben, der sie wirklich erfüllte.
An diesem Tag stand mir im Büro das erste Meeting mit wichtigen Klienten bevor, nachdem alles über mein Privatleben an die Öffentlichkeit gelangt und dort breitgetreten worden war.
Ich musste mich dafür wappnen, dass sie es ansprechen würden oder sonst irgendwelche Kritik vorbrachten, doch nichts dergleichen geschah.
Vielleicht hatte ich die ganze Sache mit meinem Privatleben doch überbewertet, oder Pauls Theorie stimmte.
Ein schwuler, kranker CEO, der eine Firma leitete. Vielleicht war es auch gut für das Image der anderen Firmen.
Ich machte mir nicht die Mühe, es verstehen zu wollen. Die Firma stand stabiler da wie eh und je, und ich war endlich glücklich.
Das war doch schließlich alles, worauf es ankam.
Nachdem volle drei Tage nichts geschehen war, spürte ich am vierten Tag plötzlich ein leichtes Kribbeln in meinem rechten Fuß, während ich am Schreibtisch saß und mich mit einigen Bilanzen auseinandersetzte.
Ich ließ sofort den Stift aus der Hand fallen und fasste an meinen Oberschenkel, der allerdings noch immer keine Reize an mein Gehirn weiterleitete.
Ob ich überhaupt bereit war dafür, dass Gefühl in meine Beine zurückkehrte? Vielleicht sollte ich sofort den Doc anrufen, um es überhaupt nicht so weit kommen zu lassen.
Es dauerte weitere vier Tage, bis ich es wagte, mit Dustins Hilfe auf den Rollator gestützt aus meinem Rollstuhl aufzustehen.
Doch meine Beine versagten mir den Dienst.
Ich landete sofort wieder in meinem rollenden Gefährt. Und so blieb es. Egal wie oft ich es versuchte.
Erst nach über zwei Wochen ließ ich mich von Dustin breitschlagen, den Doc aufzusuchen, der einen Bluterguss mit Schwellungen feststellte, die auf meine Nervenbahnen drückten. Ob sie dadurch beschädigt würden und wenn ja, ob es sich um einen langfristigen Schaden handelte, stand in den Sternen.
Eine Diagnose, die wahrscheinlich für jeden anderen Menschen eine Welt hätte zusammenbrechen lassen.
Außer für Dustin und mich.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich in meinem Leben schon einmal so erleichtert und glücklich zugleich gefühlt zu haben.
»Geht es dir gut?«, hakte Dustin nach und kniete sich vor mich, nachdem wir die Praxis des Docs verlassen hatten, in der ich heute zum ersten Mal gewesen war.
Normalerweise kam er zu mir nach Hause, um mich in diesen Rollstuhl zu spritzen, doch das war jetzt anscheinend nicht mehr nötig.
Vielleicht sogar nie mehr.
»Ich bin so unglaublich glücklich und erleichtert. Das ist total krank, oder?«
»Hör auf, das überhaupt zu denken! Es ist nicht krank! Es ist einfach das Leben, für das wir uns entschieden haben. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Leben, das uns glücklich macht. Oder etwa nicht?«
»Ja! Ja, ja, ja! Es macht mich glücklich und trotzdem macht es mir Gedanken.«
»Das sollte es nicht. Nicht mehr. Nicht jetzt, wo die Würfel gefallen sind. Bist du bereit für dieses Leben?«
»Ja!«
»Bist du glücklich mit diesem Leben?«
»Ja!«
»Dann lass es uns einfach genießen. Wie hast du noch so schön gesagt? Den Kopf ausschalten, das Herz einschalten und einfach die wilde Fahrt genießen? Gefühle, Emotionen, das alles fragt nicht danach, was für uns in Ordnung ist. Wenn du die Wahl gehabt hättest, ein Mann zu sein, der auf Frauen steht, keine devoten Fetisch-Fantasien hat und ein stinknormales Leben lebt, wahrscheinlich wäre das dein Weg gewesen. Weil er einfach ist und der Norm entspricht. Doch darum geht es nicht. Für keinen von uns. Richtig?«
»Richtig. Danke. Diese Worte habe ich gebraucht.«
»Und ich dieses Lächeln auf deinen Lippen. Ich liebe dich, James. So, wie du bist. So, wie du warst, und so, wie du sein wirst. Hauptsache wir sind auf dieser Reise zusammen, okay? Wir alle. Mary, du und ich. Denn ihr seid es, die mein Leben vollkommen machen.«
»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich und schmiegte mich an Dustins starke Schultern, da er sich vor mir hingehockt hatte.
Ich war bereit für dieses Leben, das mich glücklich machte.
»Dann lass uns nach Hause fahren und einfach damit weitermachen, glücklich zu sein. Wie klingt das für dich?«
»Nach dem besten Plan, den wir je hatten.«
»Wir haben einen Plan? Bis jetzt kommt mir das alles eher wie eine Achterbahnfahrt vor, die mal rückwärts, mal aufwärts und mal abwärts verläuft.«
Ich lachte auf bei Dustins Worten und zuckte unschuldig mit den Schultern.
»Ach was. Das gehört doch dazu, oder etwa nicht?«
»Anscheinend ja. Ich meine, hey, vor ein paar Monaten war ich noch der alleinstehende Kerl, der sich seine Träume über eine Agentur erfüllen ließ. Jetzt ziehe ich mit meinem Traummann und der süßesten kleinen Maus der Welt zusammen. Vermutlich hätte ich diesen Plan niemals geschmiedet, weil ich ihn für absolut unrealistisch gehalten hätte.«
»Ich werde heute mit Vi reden und ihr erklären, dass es wohl kein Zurück mehr aus diesem Rollstuhl geben wird. Sie sollte es wissen.«
»Okay. Soll ich dich begleiten?«
»Nein. Bespaß du lieber die Maus in dieser Zeit.«
»Nichts lieber als das.« Ich zog Dustin noch einmal an mich, um ihn zu küssen, bevor wir zurück nach Hause fuhren. Also war es ein verdammt schlauer Schachzug gewesen, hier alles behindertengerecht umbauen zu lassen.
Ich würde vermutlich nicht mehr aus diesem Rollstuhl aufstehen ...
»Was sagt der Arzt?«, fragte Violet sofort, als sie die Tür öffnete.
»Hättest du was dagegen, wenn Dustin auf die Kleine aufpasst, damit wir reden können?« Vi schüttelte sofort den Kopf, während sie mich ernst anblickte. Sie wusste wahrscheinlich auch schon, dass es keine guten Nachrichten waren, die ich für sie bereithielt.
»Dann werde ich mal ins Prinzessinnenzimmer abtauchen«, sagte Dustin und schob sich an uns vorbei, während wir zum Wohnzimmer gingen. In der letzten Woche war Violet nach oben gekommen, während Dustin und ich wieder einmal probiert
hatten, mich aus diesem Rollstuhl zu bekommen. Natürlich ohne Erfolg.
Ich konnte in meinen Beinen noch immer nichts spüren, auch wenn es zwischendurch den Anschein gemacht hatte, als würde etwas zurückkehren.
»Es ist so wie erwartet, nur dass die Aussicht darauf, dass ich je wieder aus diesem Dingen aufstehen werde, recht gering sind.«
»O Gott. Das tut mir so leid.« Violets Augen füllten sich direkt mit Tränen, während ich nur den Kopf schüttelte.
»Das muss es wirklich nicht. Ich wusste, dass es so kommen würde. Dustin ebenfalls. Wir kommen doch gut zurecht und sind glücklich, deshalb werde ich nicht darüber ausrasten, dass es so gekommen ist.«
Violet nickte und holte zitternd Luft. Ihr fiel es schwerer als mir, doch das hatte ich bereits geahnt. Mir war es nur wichtig, dass sie wusste, wie die Zukunft aussah. Eine Zukunft, die wir dank Mary immer gemeinsam verbringen würden.
»Bist du dir sicher, dass du auf Dauer alles schaffen wirst? Die Firma, dein Privatleben, Mary ...« Violet hatte schon oft versucht, dieses Thema anzuschneiden. Damals, als ich noch für meine Arbeit lebte und eigentlich nur dort war statt zu Hause.
»Nein. Und das weiß ich. Seit meinem Urlaub haben Matt und Paul mehr Rechte in der Firma und ich werde mich schrittweise immer weiter zurückziehen. Mein Fokus liegt auf Mary und Dustin. Ich habe lange genug gearbeitet wie ein Tier. Jetzt ist es Zeit, die Prioritäten anders zu legen. Und machen wir uns nichts vor, in diesem Zustand dauern manche Dinge auch einfach länger und ich bin nicht mehr so belastbar. Das muss ich mir selbst eingestehen, auch wenn es mir schwerfällt.«
»Ich bin froh, dass du so denkst und ich dich nicht erst zwingen muss, es einzusehen.«
Ich musste auflachen bei ihren Worten. Diese Art hatte ich schon immer so sehr an ihr geliebt. Sie hatte noch nie Scheu davor besessen, mich so zu behandeln, wie es ihr passte, während mir alle anderen nur nach dem Mund redeten.
»Wisch deine Tränen ab und lass uns einfach glücklich sein, okay? Es gibt keinen Grund zu trauern. Ich komme klar«, versprach ich ihr und schob meinen Rollstuhl näher zur Couch, damit ich sie umarmen konnte. »Übrigens habe ich Dustin gefragt, ob er hier einziehen möchte.«
»Bei mir?«, fragte Violet gespielt erschrocken, musste dann aber selbst auflachen. So gefiel sie mir schon deutlich besser. Lächelnd legte sie mir eine Hand auf die Wange und sah mir dabei tief in die Augen. »Das sind wunderbare Neuigkeiten, James, und ich freue mich wirklich von ganzem Herzen für dich und mit dir. Dustin hat dich verändert, diese Krankheit hat dich verändert. Mary hat dich verändert. Aber das alles nur zum Guten.
Ich habe dieses Potenzial ja schon immer hinter diesen hohen Mauern vermutet und ich liebe es einfach, dass du jetzt so sein kannst, wie du wirklich bist. Nicht dieser kalte, arrogante und unnahbare Mistkerl, den du mir am Anfang als James Knight verkaufen wolltest.«
»Danke«, erwiderte ich. Ihre Worte bedeuteten mir so unendlich viel. Ich wusste selbst, wie sehr ich mich verändert hatte, weil ich endlich ich selbst sein konnte.
Wahrscheinlich war es jetzt wirklich der perfekte Zeitpunkt dazu, sich aus der aktiven Geschäftsführung zurückzuziehen und den beiden anderen Herren das Feld zu überlassen.
Auch wenn es mir schwerfallen würde.
Ich musste es Stück für Stück tun. So wie ich es bereits in die Wege geleitet hatte, indem ich morgens gezwungenermaßen später kam oder abends früher ging.
An meinem Hintern hatte sich eine Druckstelle gebildet, die wir gerade beim Doc ebenfalls hatten checken lassen. Für die nächsten Tage musste ich das Bett hüten. Die Schattenseiten dieses Lebens – auf das ich mich trotzdem freute.
Mit dem Rollstuhl fuhr ich zu Marys Zimmer und blickte durch die angelehnte Tür hinein. Dustin saß mit meiner kleinen Prinzessin auf dem Arm in dem weißen Schaukelstuhl und erzählte ihr dabei leise etwas.
Ich musste mir Mühe geben, es verstehen zu können, doch als seine Worte endlich zu mir durchdrangen, trieben sie mir beinah die Tränen in die Augen, so sehr rührten sie mich.
»Aber du bist halt ein sehr besonderes Mädchen. Das musst du dir immer merken. Überleg mal, wie viele Menschen dich aus tiefstem Herzen lieben. Daddy liebt dich. Mommy liebt dich. Gerald liebt dich. Ich liebe dich. Du wirst mit Liebe überschüttetet werden, auch wenn es vielleicht zwischendurch schwer sein wird, deinen Freunden zu erklären, wie diese ganzen Menschen, die dich umgeben, denn zusammengehören.
Aber hey, ich weiß, dass du das schaffen wirst, denn du bist ein tolles, tapferes, starkes, kleines Mädchen. Wir alle werden niemals zulassen, dass dir etwas passiert. Das verspreche ich dir!«
Mein Herz sprang beinah aus meiner Brust vor lauter Liebe.
Und genau das brauchte ich jetzt.
Erst gerade war ich darüber informiert worden, dass ein schwulenfeindliches Graffiti an die Außenwände des Bürokomplexes gesprüht worden war.
Ich hatte weder Dustin noch Violet etwas davon erzählt und dabei würde ich es auch belassen.
Es war nicht alles rosa-rot. Es war nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Die Welt glitzerte nicht von Einhornstaub.
Nach den ersten positiven Nachrichten hatte sich auch viel Hass in die Mails und Telefonate gemischt, die ich erhalten
hatte. Das Graffiti war nur das Tüpfelchen auf dem I. Doch ich konnte das alles gut ignorieren und ausblenden, denn was interessierte mich die Meinung der Leute dort draußen.
Wahrscheinlich war es suspekt, dass gerade ich es schaffte, nun so zu denken. Doch jetzt, wo ich Dustin wieder einmal mit Mary betrachtete und seinen Worten lauschte, wusste ich ganz genau, wofür ich das alles in Kauf nahm.
Für eine bessere Zukunft.
Für Mary.
Für Dustin.
Für mich.
Für uns alle.