21. Kapitel

Virginia erwachte spät am nächsten Morgen und fühlte sich wie ein Kind am ersten Ferientag. Es mochte an den weichen Kissen, den duftenden Blüten auf dem Tisch oder auch an der herrlichen Winterluft liegen, die ihr entgegenschlug, als sie das Fenster einen Moment öffnete, um in den verschneiten Garten hinauszublicken. Es war bereits hell und absolut still, einer von Vitas Hunden war an ihrem Fenster vorbeigelaufen und hatte seine Spuren im jungfräulichen Schnee hinterlassen.

Sie hatte ein Manuskript mitgebracht, um es heute Vormittag im Bett zu lesen, aber der winterliche Zauber vor ihrem Fenster lockte viel zu sehr, um mit Routinen vergeudet zu werden.

Natürlich war es auch Vita, die lockte.

Virginia fand sie wenig später vor dem Haus, in Hosen, Schaftstiefeln und einer Jacke mit Pelzkragen. Sie schaufelte den Schnee vor der Haustüre beiseite. Bestimmt war sie schon eine große Runde mit den Hunden durch den Wald gelaufen und hatte mindestens zehn Seiten geschrieben.

»Ich wollte dir gerade das Frühstück ans Bett bringen lassen, aber ich sehe, du bist schon angezogen«, sagte sie mit strengem Blick. »Das verstößt gegen die Abmachung.«

»Ich habe doch gesagt, ich werde mich nicht benehmen«, gab Virginia zurück. Sie schnürte ihre Strickjacke enger und trat vors Haus. Sie trug nur leichte Hausschuhe. »Gestern war ich brav, aber heute werde ich gegen alle Regeln verstoßen.« Sie bückte sich, formte einen Schneeball und warf damit nach Vita. Die wich geschickt aus. Ihre Wangen glühten von der körperlichen Arbeit und ihre Augen blitzten. Virginia konnte den Blick nicht von ihr wenden.

»Leg dich nicht mit mir an. Ich bin eine scharfe Schützin«, drohte Vita, einen locker geformten Schneeball in der Hand. Sie tat, als ziele sie nach ihr, warf jedoch weit daneben.

»Das war pure Absicht!« Lachend schleuderte Virginia eine weitere Schneekugel in Vitas Richtung und lief ein paar Schritte durch den tiefen Schnee. Die Kälte schnitt ihr in die Finger und ihre Schuhe waren sofort nass. Sie konnte sich nicht erinnern, je ein so intensives Verlangen nach einer körperlichen Empfindung gehabt zu haben, auch wenn es Kälte war. Am liebsten hätte sie sich nackt in den Schnee geworfen, um die Grenzen dieses Gefühls auszutesten.

»Geh sofort wieder rein!«, schimpfte Vita. Mit einem Satz war sie bei ihr und zog sie ins Haus.

Sie nahm Virginias Hände zwischen die ihren und hauchte ihren warmen Atem auf die steifgefrorenen Finger. »Und jetzt zieh die Schuhe aus. Ich gebe dir warme Socken.«

»Deine mütterliche Seite kannte ich noch gar nicht«, stellte Virginia zufrieden fest. »Aber ich glaube, sie gefällt mir.«

»Eine andere wirst du an diesem Wochenende nicht zu Gesicht bekommen.«

Virginia lächelte. »Warten wir’s ab«, sagte sie.

Im Frühstückszimmer war nur für eine Person gedeckt. Zum ersten Mal bei einem Besuch war es Virginia nicht unangenehm, Umstände zu bereiten. Wie selbstverständlich griff sie nach einem verführerisch duftenden Croissant. Normalerweise aß sie nie etwas vor der ersten Tasse Tee, aber heute durfte es kein normalerweise geben.

»Du bringst mich in Schwierigkeiten«, sagte Vita. »Wie soll ich es Leonard erklären, wenn er morgen kommt und dich krank vorfindet?« Sie nahm Tasse und Teller aus dem Porzellanschrank und stellte beides vor sie hin. Virginia nahm einen zarten Waldgeruch an ihr wahr.

»Ich verspreche dir, nicht krank zu werden, wenn du mir versprichst, dass alles, was heute passiert, unser Geheimnis bleibt«, sagte sie.

Vitas Hand ruhte am Griff der Teekanne. Virginia gefielen ihre Hände. Es wären Hände, die zupacken konnten, ohne die manikürte Zierlichkeit, die für ihren Stand so typisch war.

»Deine Krankheit scheint dich rebellisch gemacht zu haben«, sagte Vita. Ihre Stimme klang merkwürdig belegt.

»Krank zu sein, bringt manchmal auch Gutes mit sich«, sagte Virginia. »Sie lockert die Erde um die Wurzeln, wenn du verstehst, was ich meine.«

* * *

Vita verstand nur allzu gut, was Virginia meinte, doch sie wagte nicht, ihr das zu zeigen. Derartige Zweifel hatte sie noch nie gehabt. Wenn sie eine Frau begehrenswert gefunden hatte, war immer sie diejenige gewesen, die »die Erde gelockert« hatte, wie Virginia es ausdrückte. Es verunsicherte sie, dass Virginia die Rollen umkehrte und fest entschlossen schien, sie zu erobern. Sie konnte sie unmöglich zurückweisen, wollte es auch gar nicht, dafür war der Gedanke viel zu verlockend, diese intelligente, belesene Frau die Fassung verlieren zu sehen. Virginia mochte ihr als Schriftstellerin weit überlegen sein, sie mochte so viel älter und gescheiter sein – auf dem Terrain der Liebe jedoch schien sie vollkommen unerfahren. Das barg gewaltige Risiken, weit mehr vielleicht, als Leonard sich vorstellen konnte. Aber Virginia hatte in ihr auch etwas wachgerufen, von dem sie nicht geahnt hatte, dass es in einer Liebesbeziehung eine Rolle spielen könnte: Beschützerinstinkt. Ihre »mütterliche Seite« hatte Virginia es genannt. Eine interessante Gefühlsmischung, so anders, so viel reiner als das wilde Verlangen, das Violet in ihr entfesselt hatte. Vita würde alles tun, um Virginia vor Schaden zu bewahren, und war das nicht ein Beweis für wahre Liebe? Und wer wusste schon, was Virginia mehr schaden würde: die geistige und körperliche Erregung oder die Zurückweisung. Leonard wusste es gewiss nicht, denn Leonard war ein Mann. Er erweckte nicht den Eindruck, als kenne er die vielfältigen Seiten des Begehrens, wie sie und Harold sie kannten, allein dadurch, dass sie Männer und Frauen lieben konnten.

Wenn Virginia wirklich herausfinden wollte, welche Art von Liebe die ihr gemäße war, dann wollte Vita die Letzte sein, die sie davon abhielt.

»Erzähl mir von Violet Trefusis«, verlangte Virginia am Abend. »Ist sie sehr schön?«

»Du kennst Violet?« Vita war überrascht. War der Skandal also bis nach Bloomsbury durchgedrungen?

»Ich kenne sie nicht. David Garnett hat mir von deiner Affäre mit ihr erzählt. Er ist mit deinem Cousin Eddie befreundet.«

»Eddie. Natürlich«, sagte Vita. »Er ist zu nichts nutze. Aber reden kann er.«

Die Köchin hatte ihnen ein köstliches Dinner aus frischem Gemüse, Fisch und sündhaft teuren Pfirsichen aus Süditalien bereitet. Der Alella, ein spanischer Weißwein, von dem unzählige Flaschen im Weinkeller von Long Barn lagerten, hatte die Erde um Virginias Wurzeln noch ein wenig mehr gelockert. Es war kurz vor 23 Uhr und Virginia machte keinerlei Anstalten, ins Bett zu gehen. Sie waren in Sevenoaks zum Einkaufen gewesen, hatten einen ausgedehnten Spaziergang unternommen und intensiv über Bücher gesprochen. Aber nein, das war falsch – nur Virginia hatte gesprochen und Vita hatte zugehört. Im Januar würde Virginia in einer privaten Mädchenschule in Kent einen Vortrag darüber halten, wie man ein Buch lesen sollte. Vita hatte sich gefühlt wie eine dieser Schülerinnen, ahnungslos, wissbegierig und auf eine bewundernde Weise verliebt in Virginia, die am schönsten war, wenn sie über das Lesen und die Literatur sprach.

Nach dem Dinner hatte sich Virginia lang auf dem Sofa des großen Salons ausgestreckt und behauptet, dies sei so gut wie im Bett liegen. Vita saß zu ihren Füßen, den Kopf an das Sofapolster gelehnt, und blickte hinauf zu den massiven Deckenbalken.

»Wir sprachen von Violet«, drängte Virginia. »Wie war sie?«

»Das ist alles lange her«, erwiderte Vita ausweichend. Virginia spielte seit geraumer Weile mit ihren Ohrringen, jetzt aber wickelte sie sich eine Haarsträhne um den Finger und zog sanft daran, wie um sie zur Ordnung zu rufen.

»Hast du sie sehr geliebt? Oder liebst du sie vielleicht noch immer?«

Vita drehte sich um und stützte das Kinn auf dem Polster ab. »Ich möchte mit dir nicht über Violet sprechen«, sagte sie.

»Warum nicht?« Virginia strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Glaubst du, es macht mich eifersüchtig?«

»Vielleicht«, sagte Vita. »Aber das ist nicht der Grund.«

»Es stört dich also nicht, mich eifersüchtig zu machen«, stellte Virginia mit gespielter Empörung fest und zog wieder an ihren Haaren.

»Ich glaube nicht, dass du es wärest. Es ist … war eine völlig andere Geschichte.«

»Anders als unsere?« Virginia richtete sich ein Stückchen auf. »Jetzt bin ich richtig neugierig. Was war es für eine Geschichte?«

»Du hast es doch gehört. Wenn du von Violet weißt, dann weißt du auch den Rest.«

»Dass du dich als Mann verkleidet hast und mit ihr nach Frankreich ausgebüxt bist? Ja, das weiß ich. Aber das ist nur die Oberfläche.«

»Oberfläche«, wiederholte Vita. War Virginia tatsächlich so naiv, das zu glauben?

Als hätte sie ihren Gedanken erraten, sagte sie: »Ich frage mich, warum du dich verkleidet hast. Ihr hättet als Freundinnen viel weniger Aufsehen erregt.« Sie ließ ihren Zeigefinger über Vitas Augenbraue, den Nasenrücken hinabwandern. Dort verharrte sie, als überlege sie, welche Stelle ihres Gesichtes sie als Nächstes erkunden wollte.

Vita nahm ihre Hand und verschränkte sie mit ihrer eigenen. »Es war keine Verkleidung«, sagte sie leise und küsste ihre Fingerspitzen. Ganz zart nur, ein Impuls, dem sie nachgeben musste.

Virginia hob den Kopf ein klein wenig, lächelte und schloss die Augen, wie um dem Gefühl nachzuspüren, das von der Berührung ausging. »Keine Verkleidung also«, sagte sie. »Was dann?« Sie hielt den Atem an.

»Eine Offenbarung vielleicht?« Vita ließ ihre Lippen über Virginias Unterarm wandern.

»Ah«, machte Virginia, ein Laut, irgendwo zwischen Wort und Seufzer. Sie schloss die Augen und fragte: »Hast du dich seither je wieder als Mann verkleidet?«

»Nach Violet nie wieder«, sagte Vita. »Und ich hatte auch nie mehr das Bedürfnis, es zu tun«, fügte sie hinzu, um Virginias nächste Frage vorwegzunehmen.

Virginia öffnete die Augen. »Also ist deine weibliche Seite stärker.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Etwas wie Genugtuung lag darin.

»Wenn du es sagst, wird es wohl so sein«, sagte Vita. Einen Moment überlegte sie, ob sie ihr gestehen sollte, wie schwer es gewesen war, Julian zurückzudrängen und wieder Mrs Nicolson zu werden, Ehefrau eines Diplomaten und Mutter zweier Kinder. Doch offenbar wollte Virginia, dass der männliche Teil ihres Wesens nur eine untergeordnete Rolle spielte. Sie ließ die Stirn auf das Polster sinken, plötzlich müde vom Gespräch, obwohl sie gar nicht viele Worte gesprochen hatte. Virginias Hand strich über ihren Kopf, als könne sie so ihre Gedanken erspüren. Und wahrscheinlich konnte sie das sogar.

»Würdest du dich auch um meinen anderen Unterarm kümmern?«, fragte sie nach einer Weile. Vita blickte zu ihr auf. Virginia hatte den Ärmel hinaufgeschoben und streckte ihr den linken Arm entgegen, in ihren Augen spiegelte sich das Kerzenlicht. Vita beobachtete Virginias Reaktionen, während sie sich langsam von der Handwurzel zur Armbeuge vorarbeitete, das Flattern ihrer Wimpern, den stockenden Atem, als sie mit der Zungenspitze die kleine Vertiefung zwischen Ober- und Unterarm berührte. Vita musste lächeln.

»Du lachst mich aus!« Ruckartig zog Virginia ihren Arm zurück.

»Nein! Überhaupt nicht. Es ist … Ich staune, wie empfindsam du bist.«

»An dieser Stelle sehr.«

»Nur da?«

Virginia schloss für eine Sekunde die Augen, dann sah sie sie direkt an. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie.

Vita nickte. Genau das hatte sie vermutet. Sie stand vom Boden auf und setzte sich neben Virginia. »Du und Leonard, ihr habt …« Sie wusste nicht, wie sie weitermachen sollte.

»Doch«, sagte Virginia. »Wir haben es versucht. Ich konnte nicht. Seine Berührungen … also, diese Art von Berührung … ich empfand nichts. Höchstens Ekel. Also haben wir es gelassen.«

Ihre Stimme klang hart, als seien die mit der Erinnerung verbundenen Empfindungen zu Stein geworden.

»Leonard hat Angst, dass ich dich …« Vita zögerte wieder.

»Verführen könnte?«, fragte Virginia.

Vita lachte. »Diejenige die hier verführt, bist du«, sagte sie. »Er fürchtet, es könnte dir schaden, wenn … nun, wenn du dich erregst.«

»Er hat dich gewarnt, mich anzufassen, weil ich dann hysterisch würde und dem Wahnsinn verfalle, hab ich recht?«

»So direkt hat er es nicht formuliert, aber ich denke, darauf lief es hinaus.«

Virginia schüttelte langsam den Kopf. »Es ist umgekehrt«, sagte sie mit ungewohnt rauer Stimme. »Ich werde noch wahnsinnig, wenn du mich nicht auf der Stelle anfasst.«

»Ah«, flüsterte Vita. »So ist das.« Und dann begann sie, sehr behutsam zu erkunden, welche Stellen an Virginias Körper ähnlich empfindsam waren wie ihre Armbeuge.

In dieser Nacht schrieb Vita nicht mehr an Harold. Sie dachte nicht einmal an ihn, denn als sie Virginia um drei Uhr ins Bett brachte und sich mit einem zärtlichen Kuss von ihr verabschiedete, war ihr Herz so übervoll von diesem zarten Zauberwesen, dass darin kein Platz mehr war für irgendeinen anderen Menschen auf der Welt.