4 . Kapitel

Sacramento, Kalifornien

Samstag, 15 . April, 19 .15  Uhr

Es war absolut demütigend. Mercy blickte aus dem Fenster des SUV , den ihr die Sokolovs für die Dauer ihres Aufenthalts zur Verfügung stellen wollten. In diese willenlose Schockstarre zu verfallen wie ein Zombie! Sie hasste es, wenn das passierte. Aber heute war das Schlimmste vorgefallen, was sie sich vorstellen konnte: Ephraim hatte sie gefunden.

Sie holte tief Luft und zwang sich, die Erinnerung an sein gesundes Auge mit dem grausamen Ausdruck darin zu verdrängen. Leg sie in eine Kiste. Drück sie ganz fest hinein. Und dann nagle die Kiste zu . Normalerweise funktionierte diese Visualisierungstechnik prima, auch wenn sie an manchen Tagen im Geist wesentlich mehr Nägel ins Holz schlagen musste als gewöhnlich, damit sie geschlossen blieb. Heute war so ein Tag.

Sie hatte damit gerechnet, dass es schwierig werden würde, war aber bereit gewesen, sich der Herausforderung zu stellen. Und jetzt, nachdem sie in dieses Auge geblickt hatte? Ich bin immer noch bereit. Was ein Schock war, wenn sie ganz ehrlich war.

Ephraim hatte sie aufgestöbert. Nach all den Jahren. Und sie konnte sich nur fragen, wieso sie nicht schon früher Angst gehabt hatte, dass es dazu kommen würde. Natürlich hatte sie überlegt, wie die Gründerväter den Mitgliedern von Eden ihr Verschwinden erklärt haben mochten: wahrscheinlich, dass sie von den Wölfen in Stücke gerissen worden sei. Diese Erklärung hatten sie ihnen auch serviert, nachdem Gideon plötzlich fort gewesen war.

Und ich habe ihnen geglaubt . Sie malte sich aus, wie die Gemeinschaft ihnen auch diese Lüge für ihr »tragisches Ableben« abgekauft hatte. Aber DJ hatte die Wahrheit gekannt. Er hatte gewusst, dass keine wilden Wölfe sie zerfleischt hatten, sondern dass es ein Monster mit der Maske eines gutaussehenden jungen Mannes mit weißblonden Haaren gewesen war. Der ohne Skrupel auf Mädchen und deren Mütter schoss.

Und … aber daran wollte sie jetzt nicht denken. In eine Kiste. Und den Deckel vernageln. Sie stellte sich ihre Hand vor, die nach dem Hammer griff und sich mit festen, entschlossenen Schlägen ans Werk machte, die Nägel mit kerzengerader Endgültigkeit ins Holz zu treiben. Der Deckel blieb zu. Mit all den Gräueln darin.

Das Fellbündel in ihren Armen miaute leise. Kaum hatten sich die SUV -Türen geschlossen, hatte sie Rory aus der Transporttasche genommen. Sie hatte niemanden um Erlaubnis gefragt, und keiner hatte ein Wort des Protestes geäußert.

»Der ist ja bildhübsch.« Rafes Stimme ließ sie zusammenzucken, obwohl er sich um einen sanften Tonfall bemühte. Sie war ihm dankbar, dass er sich so Mühe gab, harmlos und beruhigend zu klingen.

»Danke«, murmelte sie. »Er ist sehr brav. Alle beide sind es.«

Rafe hatte sich zu ihr auf den Rücksitz gesetzt, nachdem Sasha ihr Gepäck und seinen Rollstuhl im Kofferraum des SUV verstaut hatte. Farrah saß vorn neben Sasha, die ein wenig mehr auf die Tube drückte, als sie eigentlich sollte, aber offenbar war sie nervös. Berechtigterweise.

Wegen mir haben sie jetzt eine Menge Ärger am Hals. Und das war nicht okay. Sie würde sich eine andere Bleibe suchen müssen, hatte es sich jedoch verkniffen, das Thema gleich heute Abend anzuschneiden – sie war zu müde, um sich auf eine Diskussion einzulassen.

Zum Glück brauchte Sasha keinen Strafzettel zu befürchten, weil sie von der Polizei eskortiert wurden, was ihrer aller Angst jedoch nicht schmälerte. Bis zu Rafes Bemerkung hatten alle geschwiegen, und auch jetzt war die Anspannung im Wagen förmlich mit Händen zu greifen.

»Wie alt ist er denn?«, erkundigte sich Rafe.

»Sie sind beide sechs. Wurfgeschwister.«

Rafe schwieg einen Moment. »Rory spendet dir Trost?«

»Ja.«

Wieder Schweigen. Dann seufzte Rafe. »Wir müssen Gideon Bescheid geben. Es wäre nicht fair, wenn er von alldem hier aus den Nachrichten oder von einem Kollegen beim FBI erfährt.«

Mercys erster Reflex war ein entschiedenes Nein . Aber Rafe hatte recht. »Könntest … könntest du das übernehmen? Ich bin immer noch …«

»Ich verstehe.« Er streckte die Hand aus. Kurz dachte Mercy, er würde sie berühren, doch stattdessen streichelte er Rorys Fell.

»Ganz weich«, bemerkte er.

Sie konnte nicht genau sagen, ob sie enttäuscht oder erleichtert war, dass er ihren Kater und nicht sie berührt hatte, aber ihre Verunsicherung war okay, dachte sie, schließlich hatte sie gerade etwas erlebt, das Farrah als »Trauma« bezeichnen würde.

Verstohlen sah sie zu Rafe hinüber. Er war genauso gutaussehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Blond und sonnengebräunt, obwohl es erst April war, aber unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Warum hatte er wohl nicht gut geschlafen? Machte ihm seine Verletzung noch zu schaffen? Oder die bevorstehende Begegnung mit ihr?

Als er nach seinem Handy griff, ertappte er sie dabei, dass sie ihn ansah. Sein Mundwinkel hob sich leicht, doch er sagte nichts, sondern scrollte durch die Kontakte auf seinem Handy und wählte eine Nummer. Mercy schloss die Augen.

Gideon.

Eigentlich hatte sie gehofft, noch etwas mehr Zeit zu haben, andererseits spielte es keine Rolle. Sie hatte mehr als genug gehabt – Wochen, seit sie erfahren hatte, weshalb ihr Bruder aus Eden geflohen war. Jahre, seit er nach ihrer eigenen Flucht den Kontakt zwischen ihnen wiederhergestellt hatte.

Sie erinnerte sich nur zu gut an den Tag ihres Wiedersehens. Damals war sie noch völlig neben der Spur gewesen. Eine zutiefst traumatisierte Dreizehnjährige mit fürchterlichen Schmerzen nach der lebensrettenden Operation, nachdem ein wohlgesinnter Mann sie halb tot am Busbahnhof von Redding bemerkt hatte. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte man sie in die Obhut einer Pflegefamilie gegeben, allerdings hatte sie jedes Zeitgefühl verloren, weil sie stundenlang nur dagesessen und sich rhythmisch vor und zurück gewiegt hatte.

Und dann war auf einmal Gideon in das Zimmer bei ihren Pflegeeltern gekommen – gutaussehend, kräftig, kerngesund. Und außer sich vor Freude über ihr Wiedersehen. Doch sie wäre am liebsten auf ihn losgegangen, hätte ihm so gern all ihren Hass entgegengebrüllt. Er sollte bezahlen, für jedes einzelne Mal, wenn Ephraim ihr wehgetan und wenn dieses Ungeheuer Mama Schmerzen zugefügt hatte. Sie hatte sich inbrünstig gewünscht, dass Gideon für Mamas Tod durch DJs Hand bezahlen musste. Sie hatte sich gewünscht, er möge vor ihr auf die Knie fallen und sie um Vergebung anflehen, doch das hatte er nicht getan, und dafür hatte sie ihn aus tiefster Seele gehasst. Ihr Leben war das pure Grauen gewesen, nur weil Gideon weggelaufen war. Weil er sie im Stich gelassen hatte. Mich.

Zumindest hatte sie es so empfunden. Und heute würde sie stattdessen ihn um Vergebung bitten.

»Hey, ich bin’s«, sagte Rafe leise, als Gideon dranging.

Gideon. O Gott. Er sollte mich hassen. Und vielleicht wird er es tun, bevor das hier vorbei ist.

»Also …« Rafe räusperte sich. »Ja, es ist etwas passiert. Erstens: nur die Ruhe. Es geht allen gut.« Rafe zuckte zusammen. Obwohl er sein Handy nicht auf Lautsprecher gestellt hatte, konnte selbst Mercy Gideons Stimme laut und deutlich hören. »Mercy sitzt neben mir.« Wieder zuckte Rafe zusammen. »Ja, in Sacramento. Bei mir und Sasha. Und eine Freundin ist auch dabei.« Stille. Neuerliches Zucken. »Warum genau sie hier ist und wie lange sie bleiben will, kann ich dir nicht sagen, aber, Gid, hör mir doch zu.« Er atmete durch. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, deshalb spucke ich es einfach aus. Ephraim Burton war heute am Flughafen und hat ihr aufgelauert.« Erneut Stille. »Bist du noch dran?«

Offenbar war Gideon noch in der Leitung, denn während der nächsten zwei Minuten lauschte Rafe nickend. »Ja, verstehe«, sagte er. »Für mich war es auch ein Schock.« Rafe schnitt eine Grimasse und sah Mercy an. »Burton hat ihr mit dem Messer eine Schnittwunde in der Taille zugefügt. Etwa fünf Zentimeter lang, ansonsten ist sie okay.« Er massierte sich die Schläfen. »Er hat versucht, sie zu verschleppen. Ich bin zwar dazwischengegangen, aber er konnte entkommen.« Er verdrehte die Augen. »Natürlich habe ich Alarm geschlagen. Ich habe beim SacPD um Verstärkung gebeten und deine Chefin informiert. Die Flughafenpolizei hat die Bänder der Überwachungskameras schon sichergestellt, damit sie überprüfen können, wohin er geflüchtet ist. Und jetzt rufe ich dich an, weil ich nicht wollte, dass du es von jemand anderem erfährst.« Wieder lauschte er, während seine Züge weicher wurden. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich wusste ja, dass du dich aufregen würdest. Dazu hast du jedes Recht. Aber es geht ihr gut. Wir sind gerade unterwegs zu Mom und Dad, damit Mom sie verbinden kann.« Er reichte Mercy das Telefon und formte lautlos Er will mit dir reden mit den Lippen.

Jetzt . Mercy schluckte und zwang sich, das Handy entgegenzunehmen. »Hallo?« Es gelang ihr kaum, ihre eigene Stimme über das Hämmern ihres Herzens hinweg zu hören. Das Telefon war warm und roch nach Rafe. Tief sog sie den Duft ein und spürte die beruhigende Wirkung, wie vor einigen Wochen, als sie an seinem Bett saß, nachdem er ihr das Leben gerettet hatte – eine herrliche Mischung aus Zitrusfrüchten und behaglichem Kaminfeuer.

»Mercy?« Gideons brüchige Stimme holte sie ins Hier und Jetzt zurück. »Sag mir sofort, dass es dir gut geht.«

»Es geht mir gut. Ehrlich. Die Blutung hat schon aufgehört.«

»Wo genau bist du gerade?«

»In einem SUV . Hinten. Rechts.«

Er schnaubte kurz, dann lachte er zittrig. »Klar. Ich hatte es vergessen. Miss Ganzgenau. Aber solange du Witze reißen kannst, geht es dir wohl nicht ganz schlecht.«

Mercy machte keine Witze, sondern hatte lediglich seine Frage beantwortet, doch nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte, konnte sie sich denken, wo er den Scherz vermutete. Das mit dem Humor hatte sie noch nicht so ganz durchblickt.

»Richtig. Nur ein Kratzer, wie gesagt.« Sie zögerte. »Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte … um ein paar Dinge zu erklären. Könnten wir uns irgendwann treffen? Ich weiß, du hast viel zu tun …«

»Hör auf, Mercy. Es gibt nichts Wichtigeres, als dich zu sehen. Ich bin praktisch schon auf dem Sprung.«

»Und ich auch, Mercy«, rief eine Frauenstimme. Daisy. »Hi!«

Beim Gedanken an Gideons furchtlose Freundin musste Mercy lächeln. Die Frau sprühte förmlich vor Energie und guter Laune. »Hi, Daisy.«

»Wir sind schon auf dem Weg zu den Sokolovs«, fuhr Gideon fort. »Wenn das okay ist.«

Ihr Lächeln verblasste. Nein, nein, nein . Es war nicht okay. Ich bin noch nicht so weit. Und werde es wohl auch nie sein . Doch Rory schnurrte in ihren Armen, und Rafe lächelte ihr ermutigend zu. »Ja, natürlich. Sofern die Sokolovs einverstanden sind, meine ich.«

»Sind sie«, erwiderte Gideon mit der Überzeugung von jemandem, der wusste, dass er dort stets willkommen war.

Dasselbe Verhältnis hatte Mercy zu den Romeros. Und zu ihrem Bruder. Ihrem anderen Bruder. Der dieselben grünen Augen hatte wie sie.

Und wie Gideon. Es war höchste Zeit, Gideon zu sagen, dass sie die Familie ihres gemeinsamen Vaters ausfindig gemacht hatte. Und ihm beichtete, dass sie ihm diese Information vorenthalten hatte. Aus purem Egoismus.

»Dann sehen wir uns dort. Bis gleich.« Sie reichte Rafe das Handy zurück, drückte Rory fester an sich und vergrub die Nase in seinem weichen Fell. An guten Tagen war sein Schnurren die reinste Entspannungskur.

Aber heute war kein guter Tag. Stattdessen lastete die Angst wie ein bleiernes Gewicht auf ihren Schultern.

»Alles klar«, sagte Rafe neben ihr. »Plan schon mal ein, dass ihr zum Abendessen bleibt. Meine Mutter wird begeistert sein, wenn die Bude so richtig voll ist.« Er beendete das Gespräch, streckte neuerlich die Hand aus und streichelte Rory mit vorsichtigen Bewegungen. »Es wird alles gut, Mercy.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich.« Sie holte tief Luft. Tapfer sein. »Und auch wegen dir«, fügte sie hinzu, denn er musste es wissen.

Er lehnte sich herüber. Sein Duft war wie Balsam für ihre angespannten Nerven. »Wegen mir?«, flüsterte er.

Sie nickte. »Ich bin Gideons wegen hergekommen. Aber auch wegen dir.« Um dir zu sagen, dass das hier niemals funktionieren wird . Auch diese Worte würde sie über kurz oder lang laut aussprechen müssen, doch als sie sein Gesicht sah, presste sie die Lippen aufeinander, damit sie die grässlichen Worte nicht aussprach.

Es grenzte an ein Wunder, dass er mit seinem Strahlen nicht den gesamten Wagen erhellte. Er war … unglaublich.

»Das hatte ich gehofft. Ich habe dich vermisst«, fügte er mit kaum hörbarer Stimme hinzu.

Während des ganzen Fiaskos am Flughafen hatte sie keine Träne vergossen, auch nicht bei der anschließenden Befragung durch die Polizei, und als sich die Schaulustigen um sie geschart hatten, aus Neugier, wer sie war und was diesen Aufruhr verursacht hatte. Doch diese vier kurzen Worte ließen ihre Augen brennen. Ich habe dich vermisst .

Sie hatte ihn ebenfalls vermisst. Sein Lächeln, seine stille Heiterkeit, sein Gelächter. Seine Gabe, ihr das Gefühl zu geben … genug zu sein. Sie wandte den Kopf ab, bevor er ihre Tränen sehen konnte, doch es war zu spät.

Oder er war zu aufmerksam, denn sie bekam bereits ein weiches Taschentuch in die Hand gedrückt. »Es ist sauber.«

Sie stieß ein ersticktes Lachen aus. »Danke.«

Er lehnte sich zurück. Auf seinem Gesicht lag ein hochzufriedener Ausdruck. Bei anderen Männern hätte es arrogant oder eingebildet gewirkt, bei Rafe hingegen war es nur ein sichtbares Zeichen, dass er glücklich war.

Er hat mich vermisst.

Sie war nicht sicher, was das bedeutete. Ob sie ihm überhaupt gestatten sollte, so zu empfinden. Andererseits wollte sie ihn gar nicht davon abhalten, sondern wünschte sich, sie könnte sich an ihn anlehnen, etwas von seiner Stärke in sich aufnehmen, sich von der Wärme erfüllen lassen, die er verströmte, als wäre er ein behaglicher Ofen.

Aber sie tat es nicht.

Einem anderen Menschen so mühelos Zuneigung zu schenken wie er, das konnte sie nicht. Vielleicht werde ich es niemals schaffen . Vielleicht konnte sie nach Ephraims brutalem Missbrauch niemals ein normaler Mensch sein. Wut auf diesen Mann brandete unvermittelt in ihr auf, drohte sie zu überwältigen. Sie wünschte, sie hätte ihn getötet.

Er hat mich angefasst, hat mich mit dem Messer verletzt. Er wollte mich nach Eden zurückbringen. Und ich war drauf und dran, es ihm zu erlauben . Sie hatte sich von ihm wegführen lassen wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, ohne auch nur den Funken eines Widerstands.

Das schürte ihre Wut noch mehr, doch die Wut richtete sich gegen sie selbst und beraubte sie sämtlicher Energie. Ich bin so müde, dachte sie niedergeschlagen.

Etwas Warmes streifte ihren Ellbogen. Rafe hatte seine Hand auf den Sitz gelegt, ganz locker, ohne jeden Druck, mit der Handfläche nach oben, nur wenige Zentimeter neben ihrer Hüfte.

Als Zeichen, dass sie sie jederzeit ergreifen konnte. Wenn sie wollte.

Und das wollte sie. Zu ihrer Überraschung wurde sie von einem Gefühl tiefer Einsamkeit übermannt.

Sei tapfer. Sei eine andere Mercy als sonst. Es muss ja nicht mehr für dich sein als Trost. So wie Rory ihn dir schenkt.

Was der reinste Witz war. Absolut lächerlich . Die Tröstlichkeit einer Katze ließ sich ganz bestimmt nicht mit dem vergleichen, was Rafe Sokolov ihr schenken könnte. Aber zumindest habe ich das jetzt mit dem Humor drauf . Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie löste eine Hand aus Rorys Fell und legte sie in Rafes, während ihre Schultern sich entspannten, als er ihre Finger ineinander verschlang. Es war so real. Und so sicher.

Rafe sagte kein Wort, ließ sich durch nichts anmerken, dass sie sich berührten; lediglich die flüchtigen Momente, wenn er ihre Hand drückte, verrieten es. Schließlich bog Sasha in die Einfahrt der Sokolovs ein.

»Wir sind da«, verkündete sie. »Die Kätzchen können sich in meinem alten Zimmer ein bisschen ausruhen. Es sei denn, du brauchst eine auf dem Schoß, wenn Gideon auftaucht.«

Ah . Sasha begriff also, dass die Katzen Mercy halfen, ihre Ängste im Griff zu behalten, so wie Daisy es mit ihrer kleinen Therapiehündin Brutus, einem Papillon-Chihuahua-Mischling, machte. Aber eigentlich war es keine große Überraschung. Sasha war Sozialarbeiterin, ein Beruf, in dem Empathie unerlässlich war.

»Ich denke, ich komme bestimmt auch ohne sie klar«, erwiderte Mercy. Rafe drückte ihre Hand ein letztes Mal, ehe er die Wagentür auf seiner Seite öffnete.

»Ich hoffe, du hast Hunger«, sagte er. »Ich habe Mom geschrieben, dass wir Besuch mitbringen. Sie steht schon am Herd.«

»Ich habe Bärenhunger«, meldete sich Farrah zu Wort. »Was gibt’s denn?«

Sasha zuckte die Achseln. »Irgendetwas Russisches. Jedenfalls wird es lecker, egal, was es ist. Könntest du die zweite Katze nehmen, Farrah? Ich hole die Katzenklos und das Futter. Brauchst du deinen Rollstuhl, Rafe?«

»Nein, es geht schon.« Er schwang die Beine aus dem SUV und stützte sich auf seinen Gehstock. »Wir sollten uns beeilen, Mercy. Das Essen wartet, und in unserer Familie herrscht das Gesetz des Schnellsten. Wer zu spät kommt, kriegt nichts mehr ab.«

Mercy folgte ihnen ins Haus, wobei sie Rory so fest an sich drückte, wie der Kater es ihr erlaubte. Vielleicht wurde ja doch alles gut. In diesem Moment fuhr der Streifenwagen, der sie eskortiert hatte, hinter ihnen heran, blockierte die Zufahrt und erinnerte Mercy an die bittere Wahrheit.

Ephraim Burton lief immer noch frei herum und würde es ein zweites Mal versuchen. Sie beschleunigte ihre Schritte, floh förmlich ins Haus der Sokolovs. Wo sie in Sicherheit war. Fürs Erste.

Granite Bay, Kalifornien

Samstag, 15 . April, 19 .50  Uhr

»Willkommen, willkommen!« Mit einem strahlenden Lächeln bugsierte Irina Sokolov sie alle ins Haus. »Du meine Güte, ihr zwei Mädchen müsst nach der langen Reise ja völlig erschöpft sein.«

Und nach den Höllenqualen . Aber dieser Teil blieb unausgesprochen. Diplomatie und Gastfreundschaft waren Irinas größte Stärken, für die Rafe sie heiß und innig liebte, vor allem in diesem Moment, als Mercy ins Haus stürzte, den Blick halb über die Schulter auf den Streifenwagen in der Einfahrt gerichtet.

Ihr Lächeln war verflogen, aber Rafe wollte, dass es zurückkehrte. Zwar hatte er ihr eben mühsam eines abgerungen, doch ihm war nicht entgangen, wie sie mit gequälter Miene auf den Streifenwagen geblickt hatte.

»Mercy. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Irina wollte Mercy in eine Umarmung ziehen, hielt jedoch inne. »Sie bluten ja.« Sie warf Rafe einen aufgebrachten Blick zu. »Wieso hast du nicht gesagt, dass sie verletzt ist.«

Stirnrunzelnd blickte Rafe auf den roten Fleck, der sich auf Mercys Bluse ausbreitete. Sie hatte sich auf der Flughafentoilette umgezogen, um der Polizei ihre blutverschmierte, aufgeschlitzte Bluse als Beweismittel auszuhändigen, doch auch der frische Ersatz war bereits blutig. »Sie hat gesagt, es hätte aufgehört.«

»Und ich wollte nicht, dass er es Ihnen sagt, Irina«, meinte Mercy. »Es geht mir gut. Ich muss beim Aussteigen den Wagen gestreift haben, aber ich ziehe gleich etwas Frisches an. Bitte, fangen Sie schon an zu essen. Ich will nicht, dass alle auf mich warten müssen.«

»Unsinn.« Irina schnalzte mit der Zunge. »Ich sehe es mir kurz an und lege dann einen Verband an.« Sie wandte sich mit einem Lächeln Farrah zu. »Sie sind Mercys Freundin aus New Orleans, ja?«

»Ja. Farrah Romero. Vielen Dank für die Einladung. Ich hoffe, wir stören nicht.«

»Dr. Farrah Romero«, warf Sasha ein. »Mom, ich bringe Mercys Katzen in mein Zimmer. Sieh zu, dass Rafe nicht alles alleine isst!«, rief sie und rannte mit den Katzenutensilien die Treppe hinauf.

Irina schüttelte den Kopf. »Es gibt jede Menge Eintopf. Ich habe extra mehr gekocht. Kommen Sie mit, Mercy. Wir gehen in mein Badezimmer, dort habe ich Verbandszeug. Es gibt noch weitere Badezimmer auf diesem Stockwerk, falls Sie sich vor dem Essen frisch machen wollen, Farrah. Karl!«

Rafes Vater erschien mit einer Kiss-the-Chef -Schürze über seinem Anzug. Vermutlich hatte er noch einen Termin in der Innenstadt.

Oder … verflixt . Rafe stöhnte unterdrückt. Er hatte völlig vergessen, dass seine Eltern ja Karten fürs Theater hatten. Seine Mutter hatte sich wunderschön zurechtgemacht. Eigentlich sollten sie in dieser Sekunde auf ihren Plätzen sitzen.

Mist . Sie haben die Aufführung sausen lassen . Eine Mischung aus Schuldgefühlen und Erleichterung durchströmte ihn. Er hatte seine Eltern unbedingt gebraucht, und sie hatten alles stehen und liegen lassen, um zu helfen. Wie üblich.

»Ja, Liebling?«, fragte Karl, dessen Miene noch strahlender wurde, als er Mercy und Farrah sah. »Willkommen, meine Damen. Ich hoffe, Sie haben Hunger mitgebracht.«

»Sie werden definitiv etwas essen«, erklärte Irina. Rafe sah zu, wie sich sein Vater ein Grinsen verbeißen musste. »Geh bitte raus zum Wagen und hol ihr Gepäck herein, Karl.« Mit einer wedelnden Handbewegung dirigierte sie Mercy durch die Diele. »Das Badezimmer ist da hinten. Ich verbinde Sie jetzt erst mal. Farrah, mein Mann kann Ihnen alles zeigen, sobald er das Gepäck hereingebracht hat.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Rafe, der sich absolut nutzlos fühlte – was neuerdings die Norm war. Reg dich ab. Immerhin hast du dafür gesorgt, dass Mercy nicht noch Schlimmeres passiert ist. Das kann man wohl kaum als Nutzlosigkeit bezeichnen . »Was kann ich tun?«

»Geh und rühr den Eintopf um«, antwortete sein Vater und trat an ihm vorbei in die Diele. »Etwas anderes habe ich eben auch nicht getan. Lass ihn nicht anbrennen.« Eine Hand auf dem Türknauf, blieb Karl abrupt stehen. »Was ist denn das?«

Rafe folgte seinem Blick. »Das ist mein neuer Gehstock.« Anstelle des handgefertigten Exemplars, das Karl seinem Sohn bei der Entlassung aus dem Krankenhaus überreicht hatte, stützte Rafe sich nun auf ein Billigmodell aus Alu, das Sasha ihm in einem Geschäft in der Nähe des Flughafens gekauft hatte. »Meinen musste ich den Feds als Beweismittel überlassen, weil ich diesem Dreckskerl Burton damit eins übergebraten habe. Aber ich kriege ihn zurück, sagen sie.«

Karl runzelte die Stirn. »Aber der ist nicht lang genug für dich, und du kriegst Schmerzen davon. Ich mache dir einen neuen. Los, rühr den Eintopf um, und dann setz dich hin.« Damit verschwand Karl, um Irinas Auftrag zu erfüllen. So war Karl nun einmal. Er sah, dass seine Hilfe gebraucht wurde, also half er. Keine Fragen, kein Betteln um Lob. Sein Vater war der feinste Mensch, den Rafe je kennengelernt hatte.

Und was den Stock anging, hatte er völlig recht: Er passte überhaupt nicht. Rafe humpelte in die Küche, wobei er zusammenzuckte, als der Schmerz durch sein Bein schoss.

»Haben Sie sich noch mal neu verletzt?«, erkundigte sich Farrah leise und folgte ihm. »Bestimmt, als Sie Burton eins übergezogen haben.«

»Vielleicht«, räumte Rafe kläglich ein, weil es verdammt wehtat. »Eigentlich habe ich es erst beim Aussteigen vorhin gemerkt. Wahrscheinlich, weil das Adrenalin langsam nachgelassen hat. Ich rufe meinen Arzt an, damit er sich es mal ansieht.«

»Danke.« Farrah begegnete seinem Blick. Dank ihrer Größe – sie überragte sogar Mercy mit ihren ein Meter zweiundsiebzig – konnte sie ihm mühelos in die Augen sehen.

»Wofür?«, fragte er verwirrt.

Sie zog die Brauen hoch. »Dafür, dass du Mercy das Leben gerettet hast. Heute Abend und vor sechs Wochen. Sie ist wie eine Schwester für mich, und wir lieben sie alle sehr. Die Vorstellung, dass sie …« Sie schluckte. »Ich kann nicht mal daran denken.«

Bei der Erinnerung an die beiden Ereignisse überlief Rafe ein Schauder, doch am meisten setzte ihm Mercys Teilnahmslosigkeit zu. »Sie ist einfach mit ihm mitgegangen, Farrah. Es war, als wäre sie überhaupt nicht bei sich«, flüsterte er eindringlich.

Farrah nickte. »Ich weiß.« Mit besorgter Miene trat sie an den Herd und griff nach dem Kochlöffel, den Rafes Vater neben dem Topf abgelegt hatte. »Setz dich, Rafe, und lagere das Bein hoch. Ich besorge dir einen Eisbeutel, außerdem habe ich Ibuprofen in der Handtasche.«

»Im Kühlfach liegt einer«, sagte er und ließ sich mit einem Ächzen auf einen Stuhl sinken. »Eine Ibuprofen nehme ich auch gern, danke. Könntest du mir ein Glas Wasser einschenken? Gläser stehen im Schrank neben dem Kühlschrank. Hast du sie schon mal so erlebt?«

»Im Zombiemodus, meinst du?« Farrah versorgte ihn mit Schmerztabletten, einem Eisbeutel und Wasser, dann setzte sie sich neben ihn an den Tisch, ohne dabei den Kochtopf auf dem Herd aus dem Blick zu verlieren. »Ein Mal. Aber da war es nicht so schlimm wie heute.« Sie zögerte, presste die Lippen aufeinander, als wollte sie sich daran hindern, noch etwas preiszugeben.

Rafe verstand. »Es ist wichtig, dass du Mercys Geheimnisse wahrst«, sagte er leise. »Vieles kann sie selbst nicht mehr steuern. Wir wissen alle, was ihr bei dieser Sekte passiert ist, ob es ihr nun recht ist oder nicht. Dasselbe gilt für die Entführung im Februar. In beiden Situationen musste sie alles offenlegen, hatte keinerlei Privatsphäre. Wenn sie dir etwas anvertraut hat, musst du es auch für dich behalten. Ich will nicht aufdringlich sein.«

Farrah schenkte ihm ein rasches, strahlendes Lächeln. »Ich glaube, ich mag dich, Detective.«

Ihr unbeirrter Optimismus ließ ihm keine andere Wahl, als das Lächeln zu erwidern. »Gleichfalls, Frau Doktor.« Er schluckte ein paar Schmerztabletten, in der Hoffnung, dass sie wirkten. Wenn der Schmerz erst einmal heftig war, half manchmal nicht mehr viel. »Wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«

»Sie war meine Zimmergenossin an der Tulane«, antwortete Farrah voller Zuneigung. »Ich kam nach einem Einführungsseminar auf mein Zimmer zurück, und da saß dieses kreidebleiche Mädchen wie ein Häuflein Elend auf dem Bett. Alles an dem Tag hatte sie komplett überfordert – zu viel Hektik, zu viel Lärm, zu viele Leute. Bei meiner Schwester ist das manchmal auch so, eine Art Überstimulation. Also habe ich mich neben sie gesetzt, sie in den Arm genommen und gesagt: ›Hi, ich bin Farrah und nehme gern andere Menschen in den Arm. Ich stamme aus einer Familie von Leuten, die andere gern umarmen, und die nächsten Monate sitzt du hier mit mir fest, also gewöhn dich lieber gleich dran.‹«

Rafe lachte leise. »Und wie lief es?«

»Wie man es sich vorstellen kann. Sie wurde stocksteif und meinte: ›Ich bin Mercy und kein Mensch, der andere Leute gern umarmt.‹ Dann rückte sie mit diesem Das-passt-mir-nicht-Gesicht einen halben Meter weit weg, aber ich habe ihr einen Keks in die Hand gedrückt, und das hat geholfen. Sie wurde ein klein bisschen lockerer.« Farrah trat wieder an den Herd, um den Eintopf umzurühren. »Sie war nur … verletzt und wollte nicht angefasst werden. Aber sie hat ein gutes Herz.«

»Ich weiß.« Und das tat er tatsächlich. Stundenlang hatte sie an seinem Krankenhausbett gesessen, hatte ihm vorgelesen und sich alles mit ihm im Fernsehen angesehen, was er eingeschaltet hatte. Kleine Gesten, die, wie er recht schnell gemerkt hatte, eine enorm große Bedeutung für sie hatten. »Und inzwischen erwidert sie deine Umarmungen?«

»Ja, aber es hat sehr lange gedauert. Eigentlich erst, seit ich sie sonntags zum Mittagessen mit nach Hause genommen habe und meine Mama sie in die Finger kriegte. Sie hat sie geknuddelt und mit Essen vollgestopft, was Mercy ja in der Form nicht kannte.«

»Zuvor hatte sie in einer Pflegefamilie gelebt«, sagte Rafe vorsichtig, weil er unsicher war, wie er mehr über Mercy erfahren könnte, ohne dass Farrah gezwungen war, ihre Geheimnisse zu verraten.

»Stimmt. Und ihre Pflegeeltern waren gewiss keine schlechten Menschen. Sie wollten sie sogar adoptieren und ihr all ihre Liebe und Zuwendung schenken, aber Mercy war damals noch nicht so weit. Ich denke, als wir uns kennenlernten, war sie es.«

Dass Mercy bei ihren Pflegeeltern Zuneigung erfahren hatte, war schön zu hören. Dass diese sogar den Wunsch gehabt hatten, sie zu adoptieren, hatte er nicht gewusst, und Gideon vermutlich genauso wenig. Eine andere Frage kam ihm in den Sinn. »Aber wieso ausgerechnet New Orleans? Was hat Mercy dorthin geführt?«

Farrah richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Eintopf. »Das wirst du Mercy wohl selbst fragen müssen.«

»Das werde ich.« Das Knarzen der Bodendielen verriet, dass sich jemand näherte, deshalb lenkte er die Unterhaltung in eine andere Richtung. »Aber du stammst aus New Orleans?«

Farrah lächelte. »Ja, ich bin dort geboren und aufgewachsen, und wahrscheinlich bleibe ich auch dort, bis ich alt und runzelig bin.«

Rafe war hingerissen. »Wie das?«

»Weil meine Familie dort lebt.«

»Und ihr Captain«, sagte Mercy, die die Küche betrat, tief und genüsslich einatmete und sich dann neben Rafe setzte. »Das riecht ja köstlich.«

Er bemühte sich nach Kräften, seine Euphorie über ihre Platzwahl im Zaum zu halten, was nicht ganz leicht war, solange sie so dicht neben ihm saß. Sie duftete nach Blumen, und der grüne Pulli, den sie nun trug, schmiegte sich perfekt um ihre sexy Kurven. Nicht bedrängen. Du darfst sie nicht unter Druck setzen . »Hat Mom dich versorgt?«

Mercy nickte. »Ich brauchte bloß ein paar Pflaster, wie gesagt. Was duftet hier so lecker?«

Sie wollte also nicht über die Verletzung sprechen. Damit konnte er leben. Für den Moment. »Das ist kavardak . Eigentlich ein gewöhnlicher hausgemachter Rindereintopf. Das Wort bedeutet ›wildes Durcheinander‹, sprich, man wirft einfach alles hinein, was man gerade hat. Moms Eintopf ist der allerbeste.« Er deutete auf Farrah. »Und wer ist dieser Captain?«

»Captain André Holmes«, sagte Mercy mit einem liebevollen Lächeln. »Farrahs … Zukünftiger.«

Farrah lachte schnaubend. »So nennt er sich. Mein ›Zukünftiger‹.« Sie wedelte mit ihrer linken Hand, an dessen Ringfinger ein funkelnder Brillant steckte. »Aber er hat mir einen Ring angesteckt, deshalb kann er sich nennen, wie er möchte, auch wenn es ein bisschen altmodisch sein mag.«

»Pozdravlayu c pomolvkoy!«, sagte Rafe. »Das heißt ›Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung‹. Möget ihr mit einem glücklichen Heim voller Freude und Lachen gesegnet sein.«

»Wer soll mit einem glücklichen Heim gesegnet sein?«, fragte Irina, die hereinkam und Farrah vom Herd verscheuchte. »Ich übernehme das. Sie sind Gast hier. Setzen Sie sich und ruhen sich aus. Ich mache Tee.«

»Farrah ist verlobt«, sagte Mercy und tätschelte ihrer Freundin die Hand. »Ihr Verlobter ist Captain beim New Orleans PD

Irina seufzte. »Noch mehr Polizisten. Ich bin regelrecht umzingelt – drei meiner acht Kinder sind bei der Polizei. Und dieser Verlobte … ist er ein guter Mann?«

»Sogar ein sehr guter«, beteuerte Mercy. »Wir sind schon seit Jahren befreundet. Ich habe die beiden einander vorgestellt.«

Farrah verdrehte die Augen. »Aber nur, weil wir auf einer Party waren und Mercy sich verziehen wollte. Sie hat versprochen, dass sie noch eine Weile bleiben würde, dachte aber, sie könnte sich davonstehlen, wenn ich von diesem großen, gutaussehenden Kerl abgelenkt wäre.«

Irina zwinkerte Farrah zu. »Und war es so?«

»Ja«, bekräftigte Mercy. »Sie konnten die Blicke nicht voneinander lösen. Und ich habe nur eingewilligt, zu der Party zu gehen, weil ich wusste, dass André dort sein würde«, fügte Mercy selbstzufrieden hinzu. »Ich wusste, dass sie wie geschaffen füreinander wären. Was auch so ist.«

Irina schob einen Brotlaib in den Ofen und setzte Teewasser auf. »So war es bei Gideon und Daisy auch. Ich wusste, dass sie ein perfektes Paar abgäben, und genau so ist es auch, aber sie haben sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, einander vorgestellt zu werden. Gideon hat sogar monatelang auf meine Kochkünste verzichtet, nur weil er wusste, dass Daisy sonntags zum Mittagessen hier sein würde.«

Farrah sah Mercy an, deren Lächeln bei der Erwähnung ihres Bruders verblasst war. »Aber letzten Endes haben sie sich dann wie kennengelernt?«, hakte sie nach.

»Ich habe sie einander vorgestellt«, sagte Rafe. »Ich kenne Daisy schon aus Kindertagen. Sie ist erst seit einiger Zeit wieder in Sacramento und wurde vor ein paar Wochen angegriffen und beinahe entführt.«

»Oh.« Farrahs Blick schweifte zu Mercy, die ein wenig blass geworden war. »Derselbe Kerl, der es auch auf dich abgesehen hatte, Mercy?«

Mercy nickte ernst. »Genau der. Daisy hat ihm bei dem Überfall eine Halskette abgerissen, die er trug. Mit einem Medaillon. Rafe kam die Gravur bekannt vor, weil Gideon ein fast identisches Tattoo hatte, und so hat er ihn zur Unterstützung hinzugezogen.«

»Und dann haben Gideon und Daisy gemerkt, dass ich die ganze Zeit recht hatte«, endete Irina und legte den Kopf schief, als vor dem Haus eine Wagentür zuschlug. »Und hier sind sie auch schon. Genau pünktlich zum Essen.«

Mercy versteifte sich.

»Das wird schon«, beruhigte Farrah sie leise.

»Ich weiß«, erwiderte sie, doch die Unsicherheit war deutlich zu hören. Zitternd stand sie auf, als die Haustür aufgerissen wurde und polternde Schritte in der Diele ertönten. Sie sieht aus, als stünde sie vor einem Erschießungskommando, dachte Rafe. Er hatte keine Ahnung, wie er ihr helfen sollte.

»Rafe?«, rief Gideon. »Wo ist sie?«

»Hier, Gideon«, rief Irina. »Wir sind alle in der Küche.«

Zögernd erhob sich auch Rafe und streckte Mercy die Hand hin, die sie zu seiner grenzenlosen Verblüffung ergriff und fest drückte. »Er liebt dich heiß und innig«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Es wird alles gut.«

Sie nickte zittrig, und ihre Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um seine Hand, als Gideon im Türrahmen erschien.

Er blieb abrupt stehen und blickte sie aus gequälten Augen an. »Mercy«, krächzte er. »Du bist zurückgekommen.«