5 . Kapitel

Santa Rosa, Kalifornien

Samstag, 15 . April, 20 .20  Uhr

»Kaffee?«

Ephraim blickte von seinem Laptop auf und sah Regina Jewel an, die mit einer dampfenden Kaffeetasse im Türrahmen stand. »Gerne.«

Sie trat ein und durchquerte sein Zimmer – ohne das typische Hüftwiegen, wie sie es bei ihren anderen Kunden zur Schau trug. Ephraim kannte sie zu lange, als dass ihre weiblichen Tricks bei ihm Wirkung zeigen könnten. Außerdem war sie mit ihren fünfundvierzig mindestens dreißig Jahre zu alt für seinen Geschmack. Aber Regina kannte seine Vorlieben, von den Mädchen in ihrem Etablissement bis hin zum Kaffee, den sie ihm gemacht hatte.

»Danke. Ein Koffeinschub ist jetzt genau richtig.« Sein Kopf schmerzte, und ihm war leicht übel.

Regina musterte ihn besorgt. »Du siehst nicht besonders gut aus, mein Freund.«

Sie waren keine Freunde. Aber auch keine Feinde. Und so sollte es auch bleiben, wenn es nach Ephraim ging. Regina war eine Frau mit guten Verbindungen und hatte genug Polizisten in der Hand, um unbehelligt ihren Geschäften nachgehen zu können. In allererster Linie war sie Unternehmerin und respektierte die Geschäftsbeziehung, die sie in den letzten zehn Jahren zueinander aufgebaut hatten.

»Ich habe Kopfschmerzen«, fügte er leise hinzu.

Regina fuhr mit den Fingern an seinem Nacken entlang und begann, ihm die Schultern zu massieren, was sich verdammt gut anfühlte. Bis sie das Haar an seinem Hinterkopf zur Seite schob und den Druck verstärkte. Scharf sog er den Atem ein.

»Üble Beule«, bemerkte sie. »Ist das zufällig der Grund für deine Kopfschmerzen?«

»Ja.« Ephraim musste sich um einen ruhigen Tonfall bemühen. »Trotzdem hat sich die Massage gut angefühlt. Mach weiter.«

»Später. Jetzt hole ich dir erst mal einen Eisbeutel.«

»Nein, so schlimm ist es nicht. Ich habe schon eine Schmerztablette genommen.« Er blickte wieder auf seinen Laptop, den er hier, in Reginas Haus, verwahrte. Sie hatte ihm erlaubt, einen Schrank in ihr Zimmer zu stellen, zu dem nur er den Schlüssel hatte. Dass sie schnüffelte, glaubte er nicht, außerdem wusste sie viel Schlimmeres über ihn. Abgesehen davon war der Laptop mit einem Passwort geschützt.

Ihn nach Eden mitzunehmen, traute er sich nicht. DJ Belmont verstand verdammt viel von Technik, und Ephraim würde jede Wette eingehen, dass DJ ihr System längst geknackt hatte und alle Suchverläufe nachverfolgen konnte. Es gab nur einen Computer in Eden, in der Ambulanz, mit einem Satellitenempfang, über den sie Zugang zum Internet hatten. So verwaltete Pastor ihr Vermögen. Und DJ hielt auf diese Weise mit ihren Kunden Kontakt, denen sie das Sortiment an Drogen verkauften, das aktuell gerade hergestellt wurde. Vor dreißig Jahren war es noch Marihuana gewesen, doch inzwischen hatten die Feds Methoden entwickelt, große Cannabis-Farmen ausfindig zu machen. Für eine Weile waren sie auf Opiate umgestiegen, deren Herstellung sich jedoch als zu aufwendig für den erzielbaren Profit erwiesen hatte. Inzwischen waren sie auf die Herstellung und den Verkauf von Psilocybin spezialisiert, doch durch die zunehmende Entkriminalisierung der Substanz wurde der Markt allmählich instabil.

Aktuell war damit allerdings noch gutes Geld zu verdienen, weil es mehrere Jahre dauern würde, bis die Rauschpilze endgültig als Arzneimittel zugelassen werden würden. Ephraim zweifelte nicht daran, dass DJ bereits Pläne für ihr nächstes illegales Projekt gemacht und auf besagtem Computer abgespeichert hatte. Den Ephraim nicht einmal mit der Kneifzange anfassen würde.

»Wer ist Raphael Sokolov?«, fragte Regina und spähte ihm über die Schulter, während sie ihre Massage wieder aufnahm. Verdammt, die Frau hatte magische Hände.

»Ein Cop. Er war es, der mir heute einen Schlag verpasst hat.«

»Elender Dreckskerl«, sagte sie mitfühlend.

»Genau.« Ephraim senkte den Kopf und dehnte seinen schmerzenden Nacken.

»Und wieso hat er das getan?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, log Ephraim mühelos.

Sie lachte. »So schlimm kann es nicht gewesen sein, Ephraim. Schließlich hat er dir nicht das Hirn zu Brei geschlagen und damit eine Amnesie ausgelöst. Aber es ist okay. Ich habe die Nachrichten gesehen und weiß, dass du in ganz Kalifornien zur Fahndung ausgeschrieben bist. Die Reporter sagen, du hättest heute versucht, am Flughafen eine Frau zu entführen. Ich habe ihr Foto gesehen. Ein bisschen alt für deinen Geschmack, nicht?«

»Als ich sie geheiratet habe, war sie es nicht«, erwiderte er.

Regina hielt inne. »Du bist verheiratet? «

»Leider, ja.« Denn seine Ehefrauen waren allesamt mittlerweile zu alt für ihn. Er wünschte, er könnte sie auf demselben Weg loswerden wie seine erste Angetraute, doch ein klarer, offener Mord kam für Pastor nicht infrage. Zwar war es Ephraim gelungen, das frühe Ableben seiner ersten Ehefrau als Unfall darzustellen, aber Pastor kannte die Wahrheit. Ephraim war offiziell bestraft worden, was bedeutete, dass er eine neue Frau hatte nehmen müssen, die ebenfalls zu alt für seinen Geschmack war. Zumindest zeigten sich die meisten seiner Angetrauten gefügig.

Im Gegensatz zu Mercy, Rhoda und schließlich Miriam, die allesamt geflohen waren.

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen? ›Leider, ja‹?«

»Genau.«

Regina wusste nichts von Eden, und wenn es nach ihm ginge, sollte sie auch nie davon erfahren. Es genügte schon, dass sie über seine Vorliebe für sehr junge Mädchen Bescheid wusste, aber in diesem Punkt hatten sie beide genug über den jeweils anderen in der Hand, als dass sie sich gegenseitig in die Pfanne hauen würden. Ja, Ephraim vögelte gern vierzehnjährige Mädchen, aber Regina verkaufte sie, daher waren sie quitt.

»Du hast also Mercy Callahan geheiratet?«, fragte Regina. »Hat sie dich verlassen?«

»So in der Art.«

»Aha. Und dieser Raphael Sokolov. Ist er ihr Neuer?«

»Keine Ahnung.« Und genau das nervte ihn so. Seit fast einer Stunde recherchierte er über diesen Sokolov, fand aber nur heraus, dass er Detective im Morddezernat des SacPD und derzeit wegen einer Verletzung krankgeschrieben war, die er sich bei Mercy Callahans Rettung aus den Fängen eines geisteskranken Mörders zugezogen hatte.

Derselbe geisteskranke Mörder, der auch eine weitere seiner Ehefrauen auf dem Gewissen hatte. Durch einen CNN -Bericht über den Mord an Miriam hatte er überhaupt erst erfahren, dass Mercy noch am Leben war.

»Verstehe. Und was weißt du dann, Ephraim?«

»Dass ich es satthabe, deine lästigen Fragen zu beantworten.«

Mit einem dünnen Lächeln zog sie einen Stuhl heran. »Zu schade, weil ich nämlich noch einige davon in petto habe. Ich habe Mercy Callahans Namen schon einmal gehört, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wo, deshalb habe ich nachgeforscht. Sie war eine der drei Frauen, die diesem Serienkiller entkommen ist, den sie im Februar geschnappt haben.«

Ephraim beschloss, seinen Unmut hinunterzuschlucken. Regina gegen sich aufzubringen, war nicht ratsam. »Richtig.«

»Und davor lebte sie zurückgezogen in New Orleans. Woher sie laut Nachrichten zufällig heute kam. Sie war gerade in Sacramento gelandet, als du sie dir schnappen wolltest.«

Diese verdammten Reporter. So viel hätten sie gar nicht wissen dürfen. »Und?«

»Und du wusstest, dass sie dort sein würde. Aber wie, frage ich mich. Vor allem, da ich inzwischen drei Anrufe von einem Kerl namens Pastor abwimmeln musste, der nach dir sucht. Offenbar hast du meine Nummer als Notfallkontakt angegeben.«

Ephraims Herzschlag drohte auszusetzen, trotzdem gelang es ihm, ihrem argwöhnischen Blick zu begegnen. Erst jetzt fiel es ihm wieder ein: Pastor hatte darauf bestanden, dass Ephraim eine Nummer für Notfälle hinterließ, weil eine von Ephraims Ehefrauen damals kurz vor der Geburt gestanden hatte. Das Ganze lag mindestens zehn Jahre zurück. Nicht zu fassen, dass er so blöd gewesen war, eine echte Nummer anzugeben, und dass Pastor sie nach all der Zeit noch hatte. »Pastor hat hier angerufen?«

»Dreimal. Die ersten beiden Male habe ich noch gesagt, du seiest gerade beschäftigt. Aber beim dritten Mal hat er verlangt, dass du dich ›unverzüglich herbemühst‹, woraufhin ich behauptet habe, du müsstest gerade etwas erledigen. Aber ich denke nicht, dass er mir geglaubt hat.«

»Und wann kam dieser letzte Anruf?«

»Heute gegen Abend. Wenige Stunden bevor du aufgetaucht bist. Deshalb wusste ich, dass etwas im Busch ist. Eigentlich wolltest du die ganze Woche bleiben, bist aber nach dem ersten Abend verschwunden. An dem Abend, als CNN einen Sonderbericht über diesen Serienmörder gebracht hat, in dem auch Mercy Callahan als eine der Frauen erwähnt wurde, die entkommen konnten – übrigens mit der Hilfe von Detective Raphael Sokolov, der auch dazu beigetragen hat, ihr das Leben zu retten.«

Ephraim grub die Finger tief in seinen Oberschenkel, um sich daran zu hindern, Regina die Hände um ihren mageren Hals zu legen. »Wenn du ohnehin schon alles weißt, wieso fragst du dann noch?«

»Neugier. Ich hatte gedacht, du würdest länger bleiben, und hatte schon zwei reizende junge Dinger für dich vorbereitet. Ich habe sogar anderen Kunden abgesagt, aber dann bist du einfach abgehauen. Ohne Bezahlung. Und jetzt erfahre ich, dass dieser Pastor nach dir sucht, weil du offensichtlich nicht dort warst, wo du sein solltest. Wo hast du gesteckt?«

Er zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er ihr am liebsten ihren verdammten Hals umdrehen würde. »Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht, Regina.«

»Wenn ich für dich lügen muss, um dich zu decken, geht es mich sehr wohl etwas an. Hast du dir bei deinem Trip nach New Orleans wenigstens ein paar leckere Beignets gegönnt?«

Er biss die Zähne zusammen. Diese Frau war viel zu dreist. »Hör auf, Regina.«

»Sonst?« Sie schien aufrichtig irritiert zu sein.

»Sonst wirst du dir noch wünschen, du hättest auf mich gehört.«

Regina lachte. Diese Frau lachte tatsächlich.

Ephraims Geduld hing buchstäblich am seidenen Faden. Doch er schwieg, obwohl er sich bildlich ausmalte, wie er ihr das Genick brach. Das war seine bevorzugte Methode, jemanden loszuwerden – geräuschlos und leicht zu erklären. So hatte er auch seine erste Frau getötet, was nicht geplant gewesen war. Stattdessen hatte er die Beherrschung verloren und sie gepackt, allerdings war sie zerbrechlicher gewesen, als er angenommen hatte. Regina war alles andere als zart, aber er hatte seitdem einiges an Routine gewonnen – erst kürzlich bei Miriams Familie. Ihren Eltern und ihrem Bruder das Genick zu brechen, war unbeschreiblich befriedigend gewesen. Und berechtigt. Sie hätten seiner Ehefrau nicht helfen dürfen, aus Eden zu fliehen.

Aber bei Regina musste er vorsichtiger sein. Sie war bewaffnet. Er sah die Wölbung einer Pistole unter ihrem Hauskleid.

Als er schwieg, setzte sie ein zuckersüßes Lächeln auf. »Nachdem ich gehört hatte, dass du heute Abend Mercy Callahan entführen wolltest, habe ich mir den Bericht noch mal angesehen«, sagte sie. »Die haben eine Frau interviewt, die diesem Serienmörder entkommen konnte, der sie gefangen gehalten und gefoltert hatte. Sie wollte erreichen, dass man alle Frauen in Erinnerung behält, die es nicht geschafft haben. Sie hat ihre Namen verlesen und erwähnt, dass unter anderem auch Mercy die Flucht gelungen war. Mercy sei mit einer der toten Frauen seit ihrer Kindheit befreundet gewesen. Eine gewisse Eileen Danton. Klingelt da etwas bei dir?«

Ephraim holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Nein.« Weil sie nicht Eileen heißt . Sondern Miriam. Miriam Burton. Und sie war meine verdammte Ehefrau.

Und auch sie war abgehauen. Zwar war er nicht ganz sicher, wie sie es angestellt hatte, aber ihre Familie hatte ganz sicher die Hände im Spiel gehabt. Für dieses Verbrechen hatte er sie bestraft, hatte sie getötet und irgendwo verscharrt. Da Miriam unauffindbar gewesen war, hatten sie davon ausgehen müssen, dass sie die Behörden eingeschaltet hatte. Deshalb hatten sie den Standort wechseln müssen. Wieder mal.

Das war eine unerfreuliche Aufgabe gewesen, vor allem im November, unmittelbar vor dem nahenden Winter. »Nie gehört.«

Wieder lächelte Regina, auch jetzt viel zu süßlich. »Das ist ja hochinteressant. Denn wie es aussieht, hat der Killer Schmuck von seinen Opfern an sich genommen, quasi als Trophäe.«

Ephraim zuckte die Achseln. »Und? Das ist doch nichts Ungewöhnliches, oder?«

»Stimmt. Aber Eileen hat er eine Kette mit einem Medaillon abgenommen, das in den Nachrichten gezeigt wurde. Ein drittes Opfer, das dem Kerl entkommen konnte, eine Radiomoderatorin namens Daisy Dawson aus Sacramento, hat sie ihm beim Kampf vom Hals gerissen. Wie es aussieht, hat die Kette den entscheidenden Hinweis bei den Ermittlungen geliefert.«

Bleib ruhig. Atme . Er hatte den Bericht ebenfalls gesehen, das Medaillon. Und er hatte Angst gehabt, jemand könnte sein Gesicht erkennen und ihn identifizieren. Von den Fotos in dem Medaillon war nichts gesagt worden, daher war er davon ausgegangen, dass Miriam sie nach ihrer Flucht herausgenommen hatte. Aber jetzt wusste er es besser. Dieser Cop am Flughafen hatte ihn eindeutig erkannt, folglich musste die Polizei das Foto haben.

Diese verdammten Hochzeitsfotos. Sobald ich zurück nach Eden komme, muss Pastor sterben.

Mit Mercy im Schlepptau. Ohne Mercy konnte er unmöglich zurückkehren.

»Und?«, sagte er noch einmal mit einer Stimme, in der nicht das geringste Zittern zu hören war.

»Und auf dem Medaillon war eine Gravur. Zwei Kinder im Gebet unter einem Baum kniend und darüber ein Engel mit einem flammenden Schwert.«

»Klingt doch nett.«

»Ist es auch. Genau wie das Tattoo, das du auf der rechten Brust hast.«

Er erstarrte. Was zum Teufel … »Wie kommst du denn auf die Idee?« Er hatte noch nie sein Hemd ausgezogen. Niemals. Nur … dieses verdammte Miststück . Nur beim Duschen.

Sie verzog das Gesicht zu einem höhnischen Lächeln. »Ja, ich sehe, du verstehst. Natürlich habe ich Kameras im Bad installiert, Ephraim. Zu deinem Schutz.« Sie tippte mit dem Fingernagel auf die Kante seines Laptops. »Meiner Meinung nach ist Folgendes passiert.«

Zu meinem Schutz, dass ich nicht lache . Er spannte seine Finger an, machte sich bereit, ihr endgültig den Hals umzudrehen. »Bitte, erleuchte mich«, sagte er in einem, wie er hoffte, gelangweilten Tonfall. Bloß nichts anmerken lassen. Sie durfte nicht wissen, dass er verunsichert war. Und er ahnte bereits, worauf das hier hinauslief.

»Oh, nur zu gern. Ich glaube, dass du den CNN -Bericht gesehen hast. Mercy und Eileen erkannt hast. Du hast mitbekommen, dass Eileen tot ist. Sie stand in irgendeiner Verbindung zu dir, allerdings weiß ich noch nicht, in welcher. Vielleicht war sie sogar deine Frau, nachdem Mercy dich verlassen hatte. Aber es hieß, Mercy sei nach New Orleans zurückgekehrt, nachdem sie aus den Fängern dieses Mörders befreit werden konnte, und deswegen warst du dort.«

»Eine tolle Story. Du solltest Bücher schreiben.« Der Haken an der Sache war nur, dass sie Bescheid wusste. Sie kannte jedes beschissene Detail.

Sie lächelte nur. »Und ich habe deinen Laptop überprüft. Du hast einen Flug auf den Namen Eustace Carmelo nach New Orleans gebucht – nicht mal fünf Minuten nach dem Ende des Beitrags.«

Er starrte sie an. »Du hast meinen Laptop überprüft? « Wie hatte sie das angestellt? Wie hatte sie sein Passwort umgangen? »Was soll das, verdammt noch mal! Das ist mein Eigentum.«

»Mein Haus, meine Regeln.«

»Mein Schrank. Mein verdammtes Eigentum.«

Sie zuckte die Achseln. »Darum geht es hier nicht, Ephraim.«

Er schäumte vor Wut. »Worum geht es dann, Regina?«

»Dass du unmittelbar nach dem CNN -Bericht mit einem gefälschten Ausweis ein Ticket nach New Orleans gebucht hast. Aber irgendetwas muss dort schiefgelaufen sein, weil du ihr hierher zurückgefolgt bist.«

Etwas war tatsächlich schiefgelaufen. Tagelang hatte er sich an Mercys Fersen geheftet, hatte versucht, eine Stelle zu finden, wo er sie ungestört schnappen konnte. Ihre Abläufe in Erfahrung zu bringen, war ein Kinderspiel gewesen: Sie fuhr zur Arbeit, dann wieder zurück in ihre Wohnung, ab und zu zum Haus ihres Halbbruders. Nur waren ständig zu viele Leute um sie herum gewesen. Frustrierend. Sie arbeitete auf dem Polizeirevier in New Orleans, deshalb kam es nicht infrage, sie dort zu schnappen. Wann immer sie vor ihrem Wohnhaus aus dem Wagen stieg, waren sofort irgendwelche Nachbarn zur Stelle, mit denen sie auf der Treppe plauderte. Seine Mercy war eine sehr beliebte Frau.

Dass es einen Halbbruder gab, hatte er rein zufällig erfahren – die Tochter des Mannes, ein geschwätziges kleines Ding von etwa neun Jahren, hatte es ihm erzählt. Leider ein bisschen zu klein . Fünf Jahre älter, und sie wäre perfekt für ihn gewesen. Ephraim war Mercy am Donnerstagabend von ihrer Arbeitsstelle zum Haus ihres Bruders gefolgt, und er hatte seine große Chance gewittert, doch ihr Bruder hatte sie nach dem Abendessen in ihrem Wagen nach Hause gebracht und sogar noch zur Tür begleitet, ehe er davongefahren war. Ephraim hatte sich noch gewundert, weshalb er ihren Wagen benutzte, und sich Zugang zu dem Apartmenthaus verschafft, aber sie hatte nicht auf das Läuten reagiert, und ein Einbruch war nicht möglich gewesen.

Also war Ephraim gestern noch einmal zu dem Haus des Bruders gefahren und hatte von dem kleinen Mädchen in allen Einzelheiten erfahren, dass Mercy mit der Familie ihres Halbbruders wieder vereint war. Die Kleine hatte ihm auch erzählt, dass ihre Mutter sich Mercys Wagen ausgeborgt hatte, da sich das Familienfahrzeug gerade in der Werkstatt befand.

Diese Information war überaus nützlich gewesen, als er bei Mercys Nachbarin angeklopft, sich als ihr Bruder John vorgestellt und sich erkundigt hatte, ob sie seine Schwester gesehen hätte. Die Nachbarin hatte ihn sofort hereingebeten und erzählt, Mercy sei nicht zu Hause, sondern übernachte bei ihrer Freundin, mit der sie am folgenden Tag nach Sacramento fliegen wolle. Die Nachbarin war so erfreut gewesen, Mercys »Bruder« endlich persönlich kennenzulernen, dass sie sogar frisch gebackene Kekse serviert und ihm bereitwillig alles erzählt hatte, was er über Mercy Callahan wissen musste. Bis auf die Tatsache, dass sie am Flughafen von Sacramento von einem blonden Surferboy-Bullen abgeholt werden würde. Dieser Mistkerl.

Deshalb … ja, war tatsächlich etwas gründlich schiefgegangen.

»Und?«, fragte Regina kokett. »Wie habe ich mich geschlagen?«

Sie hatte genau die richtigen Schlüsse gezogen. Er holte tief Luft. »Was willst du?«

»Was ich immer will, Ephraim. Oder sollte ich dich lieber Harry Franklin nennen? Denn auf der Fahndungsliste stehen beide Namen.«

Er biss die Zähne aufeinander. Verdammte Scheiße. Verdammte elende Scheiße . »Der Name sagt mir nichts.«

»Nun ja, vielleicht nicht. Immerhin ist es dreißig Jahre her, seit du eine Bank überfallen und drei Menschen erschossen hast, bevor du untergetaucht bist. Ich nehme an, Ephraim ist dein Deckname, auch wenn er absolut scheußlich ist.«

Sie hatte recht. Er war tatsächlich grässlich. Pastor hatte ihn ausgewählt, nicht er selbst. Genauso wie »Eustace Carmelo«. Und sie waren nicht nur Pastors Wahl, sondern seine Bestrafung, die ihm ständig vor Augen halten sollte, dass Pastor nichts als Verachtung für sie übrighatte.

Aber was den Raubüberfall betraf, lag Regina falsch. Auch wenn es niemand glaubte, hatte er nichts damit zu tun gehabt, sondern war an dem Tag lediglich ein unbeteiligter Dritter gewesen. Und die Einzigen, die wirklich wussten, wie sich alles abgespielt hatte, waren tot. »Wie viel?«

»Die Feds konnten das Geld, das ihr erbeutet habt, nie sicherstellen. Ich gehe davon aus, dass ihr es irgendwo bunkert. Und genau das will ich haben.«

Er wahrte seine angespannte Miene, während er sich innerlich beruhigte, weil er genau wusste, was er zu tun hatte. »Ich habe es nicht. Mein Bruder hat es Pastor gegeben, damit er es verwahrt.«

»Dann besorgst du es eben von diesem Pastor.«

Ja, klar, sonst noch was, dachte er, sagte aber nur: »Ich brauche mehr Zeit. Außerdem solltest du wissen, dass das Geld markiert ist.«

»Kein Problem. Ich kann es austauschen lassen.«

Er wusste, dass sie Kontakte zur Geldwäscherszene hatte – zwangsläufig, da es gegen das kalifornische Gesetz verstieß, hier in Santa Rosa ein Bordell zu betreiben. Zumindest in den letzten hundert Jahren.

»Dann besorge ich es. Und welche Zusicherung, dass du mich nicht an die Polizei auslieferst, kriege ich im Gegenzug?« Nicht, dass er ihr die Gelegenheit dazu geben würde.

»Keine, mein Lieber. Du wirst mir wohl oder übel vertrauen müssen.«

Dieser Frau würde er nie wieder vertrauen, so viel stand fest. »Tja, dann bleibt mir wohl keine andere Wahl, was?«

Sie lächelte. »Sieht ganz danach aus. Ich bin froh, dass wir diese Unterhaltung geführt haben, Ephraim.« Sie stand auf, stellte den Stuhl an seinen Platz zurück und wandte sich zum Gehen. Deshalb sah sie auch nicht, dass Ephraim hinter sie getreten war. Kein Laut drang aus ihrem Mund, als er von hinten seine Hand auf ihre Lippen presste, ehe er ihr mit einem Ruck das Genick brach, als wäre es ein vertrockneter Zweig.

Er legte sie aufs Bett, nahm ihr Waffe und Schlüssel ab und deckte sie zu, damit es aussah, als schliefe sie. Irgendjemand würde sie morgen früh finden, aber dann wäre er längst über alle Berge.

Er verstaute die Waffe gemeinsam mit dem Laptop in seiner Tasche, schnappte sich seinen Koffer, stieg in ihren Wagen und fuhr davon, wobei er sich fragte, wo er jetzt die Nacht verbringen sollte.

Granite Bay, Kalifornien

Samstag, 15 . April, 20 .25  Uhr

Mercy konnte den Blick selbst dann nicht von ihrem Bruder lösen, als er ein leises Uff ausstieß, weil Daisy von hinten gegen ihn prallte. Ein scharfes Bellen ertönte, was Mercy verriet, dass sie Brutus mitgebracht hatte.

Natürlich. Wo Daisy hinging, war auch ihre kleine Therapiehündin nicht fern.

Und wo Gideon hinging, war auch Daisy nicht fern. Wie es sein sollte.

Mercy wollte die beiden begrüßen, irgendetwas sagen, egal, was. Doch selbst als sie den Mund öffnete, drang kein Laut heraus. Stattdessen stand sie da und starrte die beiden tumb an, als hätte sie keinen Funken Verstand im Kopf.

Vielleicht hatte sie ja tatsächlich keinen. Immerhin war sie einfach abgehauen. Vor Gideon. Vor Rafe. Vor dieser Familie, in der ihr Bruder seinen Platz gefunden hatte, nachdem sie ihn vor all den Jahren ohne eine Erklärung weggeschickt hatte.

Sag ihm, dass du ihn vermisst hast. Sag ihm, dass es dir leidtut . Doch die Worte wollten nicht kommen. Dann sag wenigstens Hallo, verdammt. Mehr brauchst du ja nicht zu tun.

»Ja. Ich bin zurückgekommen.« Das war nicht das, was sie hatte sagen wollen. Beileibe nicht.

Gideon machte einen zögerlichen Schritt auf sie zu. Reflexartig verstärkte Mercy ihren Griff um Rafes Hand. Sie hielt Rafes Hand. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass er sie ihr angeboten oder sie sie ergriffen hatte.

Farrah erhob sich, legte ihr sanft die Hände auf die Schultern und drehte sie in Gideons Richtung. »Lass Rafes Hand los, Süße«, sagte sie leise. »Du brichst dem armen Kerl noch die Finger.«

Sofort entzog Mercy ihm ihre Hand. »Tut mir leid, Rafe. Ehrlich.«

»Kein Problem, es ist alles bestens, Mercy«, erwiderte er mit leiser Stimme, die augenblicklich ihre Nerven beruhigte. »Vielleicht möchten du und Gideon ja in Dads Arbeitszimmer gehen, wo ihr eure Ruhe habt?«

Mercy nickte wie betäubt. Sie war den ganzen Weg aus New Orleans gekommen, um mit ihrem Bruder zu reden, doch nun fühlten sich ihre Beine mit einem Mal wie Blei an. Am liebsten würde sie bei Farrah und Rafe bleiben, weil sie sich in ihrer Gegenwart sicher fühlte, doch sie war es Gideon schuldig, ihm in Ruhe alles zu erklären. »Das wäre schön.« Sie holte tief Luft und drückte die Schultern durch. »Könntest du vorangehen, Gideon? Ich weiß nicht, wo das Arbeitszimmer ist.«

Gideon sah sich um – erst jetzt schien er die anderen zu bemerken. »Natürlich.« Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das allerdings sehr gezwungen ausfiel. »Aber zuerst möchte ich gern deine Freundin kennenlernen. Ich bin Gideon Reynolds.«

Mercys Wangen röteten sich vor Verlegenheit. »Das ist meine beste Freundin Farrah Romero. Sie ist mit mir aus New Orleans hergeflogen.«

Mit einem sanften, freundlichen Lächeln schüttelte Farrah Gideon die Hand. »Ich freue mich so, Sie endlich kennenzulernen.«

Gideon schluckte. »Sind Sie eine Arbeitskollegin von Mercy?«

Diese Frage musste er stellen, weil Mercy ihm nichts über sich erzählt, sondern ihm jegliche Information über ihr Leben vorenthalten hatte – anfangs aus purer Wut, weil sie Gideon für das verantwortlich machte, was sie unter Ephraim hatte erdulden müssen, und später, nachdem sie die Wahrheit erfahren hatte, war sie viel zu beschämt und überfordert von den Ereignissen gewesen.

Was Gideon logischerweise nicht nachvollziehen konnte, weil sie ihm auch davon nichts erzählt hatte. Weil ich ein grauenvoller Mensch bin.

»Nein«, antwortete Farrah. »Wir haben uns auf dem College kennengelernt und sind seit vielen Jahren befreundet. Ich arbeite an der Uni und bin in der Forschung tätig.«

»Sie ist eine Frau Doktor«, warf Irina ein. »Und mit einem Captain bei der Polizei verlobt.«

Gideons Lächeln wurde eine Spur wärmer. »Irina sollte Polizistin werden. Sie schafft es immer wieder, die wirklich wichtigen Details vor allen anderen in Erfahrung zu bringen.« Er wandte sich wieder seiner Schwester zu. »Wollen wir, Mercy?«

Farrah stieß Mercy leicht in die Seite. »Ich bin hier. Ruf mich, wenn du mich brauchst.«

»Danke.« Mercy befahl ihren Füßen, sich in Bewegung zu setzen. Sie folgte ihrem Bruder aus der Küche und in die Diele, wo inzwischen Daisy stand, mit Brutus in einem Crossbody-Beutel.

Sie begrüßte Mercy mit einer Umarmung. »Willkommen zurück. Du hast mir gefehlt«, sagte sie leise.

Mercy sog scharf den Atem ein, als ihre Augen zu brennen begannen. »Danke … ich … du hast mir auch gefehlt.« Und das stimmte. Daisy besaß denselben fröhlichen Optimismus wie Farrah, in den Mercy sich bei ihrem letzten Aufenthalt am liebsten ununterbrochen eingehüllt hätte.

Doch auch Daisys Lächeln wirkte ein klein wenig gezwungen. »Klar«, sagte sie leichthin, ehe sie sich abwandte, um sich zu den anderen in die Küche zu gesellen.

»Hier entlang.« Gideon ging voran durch den Flur und einen Raum mit hoher Decke und üppig verzierten Holzvertäfelungen, ehe er an eine Tür klopfte und eintrat, als eine Stimme »Herein« rief.

»Gideon, Junge.« Karl saß an seinem Schreibtisch, Sasha stand hinter ihm, gegen seinen Stuhl gelehnt, und blickte über seine Schulter auf einen Laptop, den Karl nun eilig zuklappte und sich erhob. »Es ist immer schön, dich zu sehen.« Er trat um den Schreibtisch herum und schloss Gideon in die Arme, während der beunruhigte Ausdruck auf Sashas Gesicht neutraler Ausdruckslosigkeit wich. Ebenso bei ihrem Vater.

Automatisch fragte Mercy sich, was die beiden sich wohl auf dem Laptop angesehen hatten.

»Ich dachte, wir könnten vielleicht dein Arbeitszimmer benutzen, aber wenn ihr gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt wart, können wir auch …«, begann Gideon.

»Nein, nein.« Karl nahm den Laptop und bedeutete Sasha, ihm zu folgen. »Komm, wir sehen mal nach dem Essen. Bestimmt hat deine Mutter irgendetwas für uns zu tun.«

Gideon setzte sich auf einen der Stühle und deutete auf einen zweiten. Mercy gehorchte und nahm ebenfalls Platz, zuckte jedoch zusammen, als der Verband auf die Wunde drückte.

Gideon runzelte die Stirn. »Hast du Schmerzen? Sollten wir dich lieber zum Arzt bringen?«

»Nein, Irina hat die Wunde gesäubert und mich fachmännisch verbunden. Es ist alles okay.«

»Gut«, sagte Gideon. Trotzdem blieb der besorgte Ausdruck in seinen Augen. »Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich dafür gesorgt, dass jemand vom FBI am Flughafen wartet.«

»Ich wusste es selbst erst so richtig, als ich im Flugzeug saß. Davor dachte ich die ganze Zeit, ich würde kneifen und wieder weglaufen. Es tut mir leid, dass ich das getan habe.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Was du getan hast, war purer Selbstschutz. Das verstehe ich.« Er zögerte und schluckte, während die Besorgnis in seinen Augen Kränkung wich. »Allerdings verstehe ich nicht ganz, weshalb du das Gefühl hattest, dich vor mir schützen zu müssen. Was …« Seine Stimme brach, und er musste sich räuspern. »Was habe ich falsch gemacht?«

Wieder brannten Mercys Augen. Nein, du weinst jetzt nicht. Das wäre ihm gegenüber nicht fair. »Gar nichts.« Ihre Stimme brach. »Es lag an mir. Ganz allein an mir. Ich wusste es nicht, Gideon. Ich hatte keine Ahnung, weshalb du Eden verlassen hast.«

Eine ganze Bandbreite an Regungen zeichnete sich auf Gideons Miene ab – von Überraschung über Traurigkeit zu Resignation. »Das habe ich mir schon an dem Tag gedacht, als wir mit Lawton, dem Jungen aus San Diego, geskypt haben.«

Der junge Mann hatte sich in einen Jungen verliebt, der ebenfalls aus Eden geflohen war und tragischerweise Selbstmord begangen hatte, weil er mit seinen Schuldgefühlen nicht fertiggeworden war. Im Zuge dieses Skype-Gesprächs vor knapp zwei Monaten hatte Lawton sich darüber echauffiert, dass in Eden Homosexualität aufs Schärfste verurteilt wurde, während die Anführer selbst sich an jungen Männern vergingen. In diesem Moment hatte Mercy begriffen.

»Wolltest du jemals …« Mercy hatte Mühe, die Worte laut auszusprechen. »Hast du je mit dem Gedanken gespielt … du weißt schon … Schluss zu machen?«

Gideons Brauen schossen in die Höhe. »Du meinst, mir das Leben zu nehmen? Nein.« Dann seufzte er. »Doch. Auf der Highschool. Aber das war eine sehr kurze Phase, durch die Rafe mir hindurchgeholfen hat. Du?«

Sie nickte. »Hatte ich. Und bei mir war es Farrah. Sie hat mich überredet, eine Therapie zu machen. Ihre Familie ist den Sokolovs sehr ähnlich.«

Erleichterung zeichnete sich in seinen Augen ab, die ihren eigenen so ähnlich waren. Ebenso wie die ihrer Brüder und Schwestern. Sag es ihm.

»Du hast also eine Familie?«, fragte er, ohne zu ahnen, dass auch er eine hatte. Sogar eine leibliche. Und dass er es nicht weiß, ist allein meine Schuld. »Ich freue mich so, das zu hören. Ich hatte schon Angst, du wärst ganz allein.«

Weil sie ihn in diesem Glauben gelassen hatte. Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Ich habe eine Familie. Natürlich die Romeros, aber auch noch eine andere.«

Er runzelte die Stirn. »Wie das? Und woher? Bist du verheiratet?« In seiner Stimme schwang beinahe so etwas wie Entsetzen mit.

Was durchaus verständlich war. Rafe hatte Gefühle für sie, und Gideon wollte nicht, dass sein bester Freund verletzt wurde.

»Nein, ich bin nicht verheiratet. Ich hatte noch nicht mal eine richtige Beziehung. Zumindest keine, die länger als ein paar Wochen gedauert hätte.« Was ihre Zuneigung zu Rafe so viel beängstigender machte, als es sein sollte. Sie musste zugeben, dass sie Rafe sehr gern »mochte«, und wäre sie länger geblieben, hätte sich daraus womöglich ein noch viel tiefer gehendes Gefühl entwickelt.

»Wie kommt es dann, dass du noch eine Familie hast?«

»Mit achtzehn war ich zu alt für das Fürsorgesystem«, sagte sie und registrierte Gideons Erstaunen über den abrupten Themenwechsel.

»Weiß ich. Ich habe lange Zeit versucht, dich zu finden, aber du warst ohne ein Wort abgetaucht, und deine ehemalige Pflegefamilie war weggezogen.«

Beim Gedanken an sie lächelte Mercy. »Die Callahans wollten mich adoptieren, aber damals war ich noch nicht bereit für eine Familie.«

»Genau. Die Callahans«, wiederholte er. »Aber du hast ihren Namen angenommen.«

»Nachdem ich weggegangen war, das stimmt. Wir stehen bis heute in Kontakt. Es war immer schön, sich an sie erinnern zu können, als es in meinem Leben wenig Schönes gab.«

Gideons Miene wurde ernst. »Aber du hattest mich.« Er sog scharf den Atem ein, als ihm wieder bewusst wurde, wie es damals gewesen war. »Du wusstest nicht, weshalb ich abgehauen war. Du kanntest die Wahrheit nicht und dachtest, ich hätte euch in Eden zurückgelassen, damit ihr dort vor die Hunde geht.«

Sie nickte erleichtert und zugleich zutiefst betrübt. »Mama hat versucht, es mir an dem Tag zu erklären, als sie mich rausgeschafft hat. Aber ich wollte nicht zuhören. Sie hatten mir diese Lüge eingeimpft, du hättest Edward McPhearson getötet, weil du ein arbeitsscheuer Faulpelz warst, und ich habe sie geglaubt.«

»Ach, Mercy, es tut mir so leid.«

»Das muss es nicht. Wir waren beide Opfer von Eden.«

»War es schwer, nachdem ich fort war?«, fragte er vorsichtig.

»Ja«, antwortete sie nur, weil sie jetzt nicht ins Detail gehen wollte. Zuerst mussten andere Dinge besprochen werden. »Für Mama und für mich. Und ich habe dir die Schuld daran gegeben.«

»Verstehe.«

Mercy schüttelte den Kopf. »Nein, tust du nicht. Ich muss dir etwas sagen, und zwar unbedingt, also lass mich einfach erzählen, okay?«

Gideon nickte, noch immer besorgt, doch er riss sich zusammen und schwieg.

»Wie gesagt, war ich mit achtzehn zu alt für das Fürsorgesystem. Ich habe überlegt, mit dir Kontakt aufzunehmen, aber … ich wollte nicht. Natürlich wusste ich, wo du warst. Das wusste ich die ganze Zeit.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Obwohl ich dich damals gehasst habe, wusste ich über deine Karriere genau Bescheid. Und ich habe den Tagen, an denen du mich angerufen hast, entgegengefiebert, obwohl mir gleichzeitig davor gegraut hat. An meinem Geburtstag und an Weihnachten hast du dich gemeldet, zuverlässig wie ein Uhrwerk. Mir war bewusst, dass ich meine Wut überwinden sollte. Meine Therapeutin hat mir erklärt, dass sie mich von innen heraus zerfrisst, aber ich konnte es nicht. Manchmal war mein Hass das Einzige, was mich noch zusammengehalten hat.«

Gideons Augen füllten sich mit Tränen, und er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch, ohne ein Wort zu sagen.

Er wird mich hassen. Ich weiß es einfach . »Jedenfalls habe ich nach meinem achtzehnten Geburtstag unsere Großeltern ausfindig gemacht, zumindest einen Teil. Mamas Vater war einige Jahre zuvor gestorben, und ihre Mutter lebte in einem Hospiz. Krebs.« Unvermittelt stand Mercy auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Sie hat auf den ersten Blick erkannt, dass ich Mamas Tochter war. Na ja, im ersten Moment dachte sie sogar, ich sei Mama.«

»Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten«, murmelte Gideon und presste sofort wieder die Lippen aufeinander.

Mercy rief sich den Moment ins Gedächtnis, als sie ihre Großmutter das erste Mal sah – die tiefe Freude in den Augen der alten Frau. Als wäre Mercy in Wirklichkeit die verlorene Tochter, die heimkehrte. Aber noch viel präsenter war die Erinnerung an Großmutters Tränen, als sie begriff, dass ihre Tochter tot war und sie all die Jahre versäumt hatte, in denen Mercy herangewachsen war.

Mercy hatte kein sonderliches Mitgefühl mit ihr gehabt. Immerhin hatte die alte Frau ihre Tochter wegen ihrer zwei unehelichen Kinder vor die Tür gesetzt.

»Ich weiß. Manchmal freue ich mich über die Ähnlichkeit, an manchen Tagen will ich mich noch nicht mal im Spiegel ansehen.« Sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück und zwang sich, ihrem Bruder in die Augen zu sehen. »Mamas Mutter hat ihr Testament ändern lassen und uns beiden alles hinterlassen. Ich wurde als Testamentsvollstreckerin eingesetzt und habe ihr versprochen, Kontakt mit dir aufzunehmen und es dir zu sagen, aber … dann habe ich es nicht getan. Dein Geld ist immer noch in Treuhandfonds angelegt.« Sie schloss die Augen. »Ich habe einen guten Finanzberater gefunden, und dein Anteil hat ordentlich Profit gemacht.«

Sie verfiel in Schweigen, brachte es nicht über sich, fortzufahren.

Gideon atmete geräuschvoll aus. »Und das belastet dich so sehr? Dass du mir nichts von dem Geld erzählt hast? Geld ist mir nicht wichtig, Mercy. Sondern du.«

Mercy konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie fühlten sich heiß auf ihren kühlen Wangen an. »Nein, es geht nicht nur um das Geld. Ich habe meinen Anteil genommen und bin nach New Orleans gegangen.«

Gideon schwieg so lange, bis sie schließlich den Kopf hob und in seinen Augen ebenfalls Tränen glitzern sah. »Warum ausgerechnet New Orleans? Wolltest du so weit von mir weg, wie du nur konntest? War das der Grund?«

»Ja und nein. Unsere Großmutter väterlicherseits hatte nach uns gesucht, aber da waren wir längst in Eden.«

Gideons Schlucken war in der Stille des Raums deutlich zu hören. »Wieso hat sie uns gesucht?«

»Weil sie und ihr Mann nach Mama gesucht haben. Nach dir. Von mir wussten sie damals noch gar nichts.«

Gideon wollte etwas sagen, schüttelte jedoch den Kopf. »Sprich weiter. Ich höre dir zu.«

»Sie haben sich auf die Suche nach ihr gemacht, gleich nachdem sie erfahren hatten, dass ihr Sohn eine Vierzehnjährige geschwängert hatte.«

»Mama.«

»Nein, ein anderes Mädchen. Unser Vater war als Handelsvertreter oft unterwegs und hat praktisch im ganzen Süden der USA reihenweise Mädchen geschwängert. Seine Eltern waren entsetzt. Eines der Mädchen hat ihn wegen Vergewaltigung angezeigt, und er kam deswegen sogar für einige Zeit ins Gefängnis. Seine Eltern fanden heraus, dass es noch weitere Mädchen gab.« Sie zuckte die Achseln. »Unser Vater hat Fotos seiner Familien aufbewahrt. Wie Trophäen. Seine Eltern waren wohlhabend und wollten sichergehen, dass ihre Enkel nicht völlig mittellos aufwachsen mussten.«

Gideon strahlte eine geradezu nervtötende Ruhe aus. »Hatten? Das heißt, sie sind tot?«

»Ja. Sie sind einige Jahre vor meinem Umzug nach New Orleans gestorben.«

»Und was ist mit ihm?«

»Mit unserem Vater? Er ist auch tot. Überdosis. Ironischerweise genau in dem Jahr, als du aus Eden geflohen bist.«

»Gut. Ich habe ihn gehasst. Wann immer er nach einem Besuch wieder weggefahren ist, hat Mama sich die Augen ausgeweint.«

»Du erinnerst dich an ihn?« Aus irgendeinem Grund hatte sie damit nicht gerechnet.

»Dunkel. Ich war drei, als er Mama wieder mal besucht hat. Neun Monate später wurdest du geboren.« Er musterte sie mit schief gelegtem Kopf. »Wenn es nicht ums Geld geht und alle tot sind, was ist dann los? Was macht dir solche Angst, dass du es mir nicht sagen möchtest?«

Jetzt. »Nicht alle sind tot. Wir haben Geschwister. Genau genommen, Halbgeschwister. Seine Eltern, unsere Großeltern väterlicherseits, haben Privatdetektive damit beauftragt, alle Enkelkinder ausfindig zu machen. Wir waren die beiden Einzigen, die sie nicht finden konnten.«

Er blinzelte. Kurz sah sie etwas Stählernes in seinen Augen, ehe sich ein viel zu ruhiger Ausdruck auf seiner Miene abzeichnete. »Ich … verstehe. Und sind diese Halbgeschwister eheliche Kinder … rein rechtlich gesehen?«, fragte er eisig.

Sie zuckte zusammen. Er war wütend. Und dazu hat er jedes Recht . »Ja. Zwei sind eheliche Kinder und damit seine rechtmäßigen Erben, die anderen vier sind so wie wir.«

»Du kennst sie also alle.« Eine Feststellung, keine Frage. Und mit einer Ruhe vorgebracht, die ihr nun wirklich den letzten Nerv raubte.

»Ja. Sie … stehen sich alle sehr nahe, sehen sich regelmäßig. Zu Familienfeiern. An Feiertagen. Sehr nette Leute, die alle in der Gegend von New Orleans leben. Sie haben mich mit offenen Armen aufgenommen.«

Sie sah ihm an, dass er sich verraten fühlte. Der Anblick traf sie wie ein Messerstich. Aber genau das hatte sie verdient. Sie verdiente jedes Quäntchen Wut und Bitterkeit, die er empfand.

»Und wie lange wirst du schon von ihnen mit offenen Armen aufgenommen?«, fragte er kaum hörbar.

»Ich habe sie nicht sofort persönlich kennengelernt, weil ich Angst davor hatte. Als ich nach New Orleans kam, war ich in keiner guten emotionalen Verfassung.«

»Aber du hast dich dort niedergelassen. In ihrer Nähe.«

»Ja. Ich habe das Geld aus Großmutters Nachlass fürs College genutzt. Dort habe ich Farrah kennengelernt. Und ihre Familie. Ich habe eine Therapie angefangen. Irgendwann habe ich mir einen Wagen gekauft und bin zu Johns Haus gefahren. Das war kurz nach meinem ersten Jahr an der Tulane.«

»John.«

»Er ist der Älteste … fünfunddreißig und quasi das Bindeglied. Er und seine Frau organisieren alles, aber die Treffen finden immer reihum statt. Adele ist dreiundzwanzig und die Jüngste. Alles in allem gibt es sieben Nichten und fünf Neffen.«

»Und du hast sie vor sieben Jahren kennengelernt?«, fragte Gideon mit erstickter Stimme.

Sie zuckte zurück. »Nein, nicht gleich am Anfang. Ein ganzes Jahr lang bin ich immer wieder zu Johns Haus gefahren und habe zugesehen, wie sie kamen und gingen. Zu allen Feiertagen und sonstigen Anlässen. Ich habe zugesehen, wie sie ihr Leben führen, und versucht, den Mut aufzubringen, mit ihnen zu reden.«

»Und dann?«, brummte Gideon.

Sie musterte ihn, konnte jedoch nicht einschätzen, was er empfand. Wut? Bedauern? Seine Miene verriet nichts. Doch etwas tobte in ihm, da sein Kiefer so angespannt war, dass sie fürchtete, einige seiner Zähne könnten gleich zerbröseln.

»Und dann, nach etwa anderthalb Jahren, in denen ich mir einbildete, keiner hätte etwas gemerkt, kam John plötzlich aus dem Haus an mein Auto und fragte mich, ob ich nicht reinkommen wollte. Es stellte sich heraus, dass sie alle mich beobachtet hatten, so wie ich sie beobachtet hatte. Praktisch von Anfang an.«

Gideon schwieg lange, lange Zeit. »Also hast du eine enge Beziehung zu unseren Geschwistern? Das ist es, was du mir sagen wolltest?«

Er war beinahe eine Wohltat. Beinahe. Denn die wirklich heikle Frage hatte er bisher noch gar nicht gestellt. Wieso hast du mir nichts davon gesagt? Und eine plausible Antwort hatte sie auch jetzt nicht parat. »Ja.«

»Und du hast es mir nicht gesagt.« Wieder eine Feststellung, keine Frage. Logischerweise. Denn genauso war es ja gewesen.

»Nein.« Sie holte tief Luft und hoffte inbrünstig, dieses Gespräch möge ein versöhnliches Ende nehmen. »Sie haben mir zugeredet, Kontakt mit dir aufzunehmen, es dir zu sagen.« Sie atmete aus. »Ich sollte dir ausrichten, dass sie dich gern kennenlernen würden.« Jedes einzelne Wort schmerzte sie.

»Eine Beziehung zu mir aufbauen«, sagte Gideon, dessen Stimme tief und rau geworden war.

Mercy unterdrückte einen Schauder. Sie hatte keine Angst vor Gideon, zumindest nicht davor, dass er ihr etwas antun würde. Nur davor, was er gleich sagen könnte.

Sie wünschte sich inbrünstig, er würde sie weiter lieben. Was nach all den Jahren der aufgestauten Wut sehr schwer einzugestehen war, noch dazu einer völlig unberechtigten Wut.

Wieso hatte ihre Mutter ihr nicht früher die wahren Gründe für Gideons Flucht erklärt? Wieso hatte sie sie nicht eingeweiht?

Weil ich sonst womöglich einen der Anführer in Eden korrigiert hätte, wenn sie mir wieder einmal ihre Lügen aufzutischen versucht hätten. Sie war ein impulsives Kind gewesen, das unverblümt aussprach, was ihm auf der Seele brannte.

Das hatte Ephraim Burton ihr gründlich ausgetrieben, hatte sie zu einem Menschen gemacht, der geradezu obsessiv vorsichtig war.

Und nichts davon war Gideons Schuld.

»Du hast sie mir vorenthalten«, sagte er. Nun war der Vorwurf endlich ausgesprochen, klar und deutlich.

»Ja«, sagte sie und zwang sich, seinem stählernen Blick standzuhalten. »Ich habe sie dir vorenthalten.«

»Aus Hass.«

Sie nickte, denn auch das entsprach der Wahrheit. »Als ich Eden hinter mir gelassen hatte und gesehen habe, wie du gesund und glücklich bist, dein Leben lebst, als hätte Mama sich nicht für dich geopfert …« Als hätte ich selbst mich nicht für dich geopfert, dachte sie, sprach es jedoch nicht aus, weil es kleinlich und falsch klang. Was es auch war. »Ich habe dich gehasst. Du hattest ein Leben, wohingegen ich nur ein … Schatten war, der sich gerade so über Wasser halten konnte. Deshalb habe ich dich gehasst. Und nachdem ich die anderen gefunden habe, wollte ich sie für mich haben und sie nicht mit dir teilen.«

»Sechs Jahre lang.«

Sie schluckte. »Ja. Sechs Jahre lang. Es tut mir leid, Gideon.«

Zwar lächelte er, doch es lang keinerlei Wärme darin. »Und was genau, Mercy?«

»Alles. Dass ich dich gehasst habe. Dass ich dich all die Jahre von mir weggestoßen habe. Dass ich dir deine Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen vorenthalten habe. Sie wollen dich sehr gern kennenlernen.«

Gideons Blick wurde hart, ehe er ihn abwandte. »Welche zwei sind ehelich?«

»John und Angela. John stehe ich am nächsten. Ich glaube, das geht den meisten von uns so.«

»Und ihr Nachname?«

Gideon stellte die Frage, weil keiner von ihnen je den Nachnamen ihres Vaters erfahren hatte. Mama hatte ihn gekannt, aber nie erwähnt. »Benz. Unser Vater hieß John Benz Sr.«

Gideon sah seine Schwester mit weit aufgerissenen Augen an. »Mama hat dich Mercedes genannt, und unser Vater hieß Benz?«

Mercy konnte nur stumm nicken und hoffen, dass ihr Bruder den Humor erkannte, der darin lag, und nicht nur die Gemeinheit ihres Verrats.

Wieder wandte er den Blick ab und starrte auf Karls Schreibtisch. »Was hast du ihm erzählt?«

»Wem?«

»John.« Ein Muskel in seiner Wange zuckte. »John und Angela und all den anderen. Als sie dich sechs Jahre lang gebeten haben, mir von ihnen zu erzählen, du es aber offensichtlich nicht getan hast … was hast du ihnen von mir erzählt? Weshalb ich mich nicht mit ihnen treffen kann?«

Mercy unterdrückte das Bedürfnis, auch jetzt einfach aufzustehen und zu fliehen. »Ich habe gesagt, du hättest kein Interesse an einem Treffen.«

Gideons Adamsapfel hüpfte, als er nach den richtigen Worten suchte. »Also hast du auch sie belogen, ja? Sie alle?«

»Ja«, flüsterte Mercy. »Aber ich bringe es wieder in Ordnung. Ich wollte nur zuerst dir alles beichten, bevor ich es ihnen sage.«

Seine Schultern sackten herab, und er senkte den Kopf. Einen Moment lang wirkte er so niedergeschlagen, dass Mercy die Hand nach ihm ausstreckte, doch er wich zurück.

Erst jetzt sah er ihr wieder ins Gesicht. »Nicht«, sagte er leise mit unverhohlener Wut.

»Gut.« Sie lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. Genauso wie sie es in Eden gelernt hatte. Sei ein braves Mädchen. Gehorsam. Kein Mucks von dir. Sonst setzt es was.

Gideon stand auf und schob die Hände in die Taschen. »Ich brauche erst mal etwas Zeit, um all das zu verdauen«, sagte er ruhig. »Du hast eine Menge durchgemacht, und das meiste davon weiß ich noch nicht einmal. Ich will nicht wütend auf dich sein, aber gerade bin ich es. Gib mir etwas Zeit, um Dampf abzulassen.«

Wieder brannten Tränen in ihren Augen, und sie senkte den Kopf, damit er es nicht sah. »Ich verstehe.«

»Nein, das glaube ich nicht.« Er trat einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen. »Ich möchte so gern eine Beziehung zu dir aufbauen, Mercy. Ich möchte unsere gemeinsame Familie kennenlernen. Aber gerade kann ich es nicht.« Er legte ihr einen Finger unters Kinn und hob es sanft an, bis sie ihm in die Augen sehen musste. »Gib mir etwas Zeit. Wie lange willst du bleiben?«

»Ich habe zwei Monate.«

Er sah sie erstaunt an. »Du hast dich freistellen lassen?«

»So etwas in der Art«, murmelte sie.

»Gut. Schick mir Johns Nummer und Adresse. Sag ihm, was du ihm sagen musst, um alles zwischen euch in Ordnung zu bringen. Ich rufe ihn in den nächsten ein, zwei Tagen an, sobald ich weiß, was ich ihm sagen möchte.«

»Und ich?«, flüsterte sie. »Was soll mit mir passieren?«

Sein Blick wurde sanfter. »Du bist meine Schwester, und ich liebe dich seit dem Tag, als ich dich das erste Mal halten durfte. Damals warst du erst ein paar Stunden alt. Und ich werde dich auch immer lieben. Dass ich Zeit brauche, heißt nicht, dass sich meine Gefühle für dich verändert haben, es soll mir nur helfen, dass ich nicht die Beherrschung verliere. Du musstest so viel Wut aushalten, dass es für tausend Leben reicht, aber meine Wut werde ich dir nicht auch noch aufbürden.«

Ein Schluchzer entrang sich ihr, obwohl sie dagegen ankämpfte. »Es tut mir leid, Gideon. So schrecklich leid.«

Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, ehe er eine Schachtel Papiertaschentücher von Karls Schreibtisch nahm und ihr reichte. »Ich weiß. Und ich weiß auch, wie schwer es ist, emotionale Gewohnheiten zu durchbrechen. Deshalb brauche ich Zeit. Meine Handynummer hast du ja, oder?«

Sie nickte knapp und tupfte sich die Tränen ab. »Natürlich.«

»Ruf mich einfach an, wenn du etwas brauchst. Ich werde rangehen. Sieh zu, dass du in der Nähe von Rafe und den Sokolovs bleibst, bis wir Burton aufgestöbert haben. Der Kerl wird dich nicht noch einmal in die Finger bekommen.«

»Okay. Das ist ein faires Angebot.« Es war sogar mehr als okay und mehr als fair.

Gideon stand bereits an der Tür, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte und sie mit grimmiger Miene ansah. »Es war Burton, nicht wahr? Wenn ich dein Medaillon öffnen würde, fände ich dann ein Hochzeitsfoto von dir und Ephraim Burton darin?«

»Ja.«

Gideon schloss die Augen, und sein ganzer Körper wurde einen Moment lang schlaff, als sei der Griff um den Türknauf das Einzige, was ihn noch aufrecht hielt. »Ich hatte gehofft, dass es nicht so ist, aber aus irgendeinem Grund wusste ich es.« Er ließ sich gegen die Tür sinken und lehnte die Stirn gegen das Holz. »Hättest du mich nicht gehasst, wäre ich vielleicht schockiert gewesen.«

»Aber jetzt hasse ich dich nicht.«

Er sah auf. Tiefer Schmerz stand in seinen Augen. Er verstand. Es war, als hätte jemand ein Zentnergewicht von ihren Schultern genommen. Leider schien es nun auf seinen zu lasten. »Darüber bin ich froh. Wir kriegen das hin, Mercy, du und ich. Wir sind zu weit gekommen, um es nicht zu schaffen. Ich rufe dich morgen an, okay? Ich muss mit meiner Vorgesetzten reden und fragen, wen sie auf die Suche nach Burton angesetzt hat. Mich selbst lässt sie den Fall nicht übernehmen, deshalb werde ich mir eine Weile freinehmen, um auf dich aufzupassen.«

»Aber du brauchst nicht …«

»Doch«, unterbrach er. »Bitte. Als du zwölf warst, konnte ich dich nicht beschützen, und das verfolgt mich seit Jahren. Bitte erlaube es mir jetzt. Bitte.«

Sie konnte es ihm nicht verwehren. »Danke.«

»Ich sage Rafe Bescheid. Er wird auf dich aufpassen, bis ich in der Verfassung bin, es selbst zu tun. Selbst mit seinem verletzten Bein ist er ein erstklassiger Polizist.«

»Er hat mich heute Abend gerettet.«

»Dafür stehe ich in seiner Schuld.« Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. »Schon zum zweiten Mal.«

Zuerst vor diesem bewaffneten Serienkiller und heute Abend ein weiteres Mal.

»Auch du hast mich in jener Nacht gerettet«, sagte sie, erhob sich und krallte die Hände so fest ineinander, dass es wehtat. »Also … danke.«

»Wir kriegen das hin, Mercy«, sagte er noch einmal, diesmal jedoch mit der Wärme, von der sie gefürchtet hatte, sie verloren zu haben.

Dann war er fort und ließ sie zurück – weinend auf dem Stuhl zusammengesunken.