19 . Kapitel

Eden, Kalifornien

Montag, 17 . April, 13 .45  Uhr

Amos war heilfroh, dass Montag war und er wieder an die Arbeit gehen und seine Hände beschäftigen konnte, selbst wenn seine Gedanken immer noch verrückt spielten. Er hatte viel zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt, denn sonntags arbeitete niemand in Eden, außer jenen, die Vieh zu versorgen hatten. Und natürlich den Frauen, die für ihre Familien kochten.

Amos vermisste es, eine Frau im Haus zu haben. Abigails Mutter hatte er nicht geliebt, zumindest nicht auf dieselbe Weise wie Rhoda, aber dennoch Zuneigung und Respekt für sie empfunden. Er hatte sogar zwei Jahre gewartet, bis … nun ja, bis er die Ehe mit ihr vollzogen hatte. Sie war erst sechzehn gewesen, als ihre Familie sie in die Gemeinschaft gebracht hatte, und allein bei der Vorstellung, sie anzurühren, war ihm regelrecht übel geworden. Amos hatte es nicht über sich gebracht, dem völlig verängstigten Mädchen wehzutun, deshalb hatten sie zwei ganze Jahre das Bett geteilt, ohne dass etwas passiert wäre. Bis sie achtzehn geworden war. Auch dann war es ihm noch unangenehm gewesen, doch in diesen beiden Jahren hatte sie gelernt, ihn wenigstens gernzuhaben. Dass sie ihn geliebt hatte, glaubte er ebenfalls nicht – sofern eine Achtzehnjährige überhaupt fähig war, dieses Gefühl für einen deutlich älteren Menschen zu hegen –, aber zumindest war auch sie ihm stets mit Respekt begegnet.

Es hatte ihn fast umgebracht, als er zusehen musste, wie sie bei der Geburt starb, doch der Anblick der rotgesichtigen, brüllenden Abigail, die die Heilerin ihm in die Arme legte, war Balsam für seine Seele gewesen und hatte ihm einen Grund zum Weitermachen gegeben.

Eine der anderen Frauen, die ebenfalls frisch entbunden hatte, war bereit gewesen, Abigail das erste Jahr zu stillen. Es war Amos sehr schwergefallen, ihr tagtäglich sein Kind zu übergeben, obwohl er die Frau seit Jahren kannte. Vor allem abends oder nachts, wenn er zu ihr gehen und warten musste, bis Abigail satt war.

Glücklicherweise hatte die Heilerin Brother DJ in die Stadt geschickt, wo er eine Milchpumpe kaufen sollte – etwas, wovon Amos aus der Zeit draußen in der Welt zwar wusste, nur gesehen hatte er so etwas noch nie. Bei seiner Ankunft in Eden war er gerade einmal neunzehn gewesen.

So jung. Und so naiv und gutgläubig.

Das Herz blutete ihm bei dem Gedanken, nun, da er die Wahrheit kannte. Es war, als wären ihm mit einem Mal die Schuppen von den Augen gerissen worden. Ein neunzehnjähriger Narr war er längst nicht mehr, sondern ein Mann von neunundvierzig, der seine Tochter beschützen musste. Deshalb hatte er den Sonntag dafür genutzt, in seinem selbst angefertigten Schaukelstuhl zu sitzen, nachzudenken und Pläne zu schmieden, bis der Abend hereingebrochen war.

Und auch jetzt dachte er noch nach, als er in seiner Werkstatt von dem Schrank zurücktrat, den er für ihren neuesten Zuwachs angefertigt hatte – eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern, die erst kürzlich aus der Stadt hergebracht worden waren. Er fragte sich, was die Frau zu diesem Entschluss bewogen hatte. Ihr Sohn war fast dreizehn Jahre alt und hatte sich bereits mit einer gefährlichen Gang eingelassen. Das Mädchen war siebzehn, schwanger und unübersehbar kreuzunglücklich, aus der Zivilisation herausgerissen und hierher verfrachtet worden zu sein. Und noch unglücklicher, weil sie unverzüglich mit einem der Männer der Gemeinschaft verheiratet worden war.

Zum Glück hatte man keine der beiden Frauen Ephraim oder DJ gegeben. Die Mutter akzeptierte die Vorschriften in Eden, hatte sie sogar mit Begeisterung begrüßt, aus purer Dankbarkeit und in der Hoffnung, dass die Strukturen der Gemeinschaft ihren Kindern halfen, auf den rechten Weg zurückzufinden und anständige Menschen zu werden – eine Einstellung, die sie mit vielen teilte.

Niemand wurde gegen seinen Willen nach Eden gebracht, zumindest nicht gefesselt und geknebelt. Rhoda hatte man belogen. Oder zumindest hatte ihr keiner gesagt, dass sie nur Stunden nach ihrem Eintreffen verheiratet werden würde.

Aber mit mir war sie glücklich . Zumindest hoffte er das. O Gott, er hoffte so sehr, dass er wenigstens das richtig gemacht hatte.

»Brother Amos?«

Er fuhr herum und sah DJ Belmont in der Werkstatttür stehen. Er presste sich eine Hand aufs Herz und zwang sich zu einem Lächeln. »Brother DJ . Was führt dich zu mir?«

Was, wenn er Bescheid wusste? Wenn er wusste, dass er Pastors Telefonat belauscht hatte. Dass er mit angesehen hatte, wie Ephraim drei Menschen ermordete? Dass er den Computer im Büro gesehen hatte?

Erst jetzt merkte er, dass er sein Schnitzmesser ein bisschen zu fest umklammert hielt. Eilig legte er es auf die Werkbank.

DJ schien es nicht mitbekommen zu haben. »Ich wollte fragen, ob du vielleicht etwas fertig hast, das ich in die Stadt mitnehmen könnte?«

»Im Moment nicht«, antwortete Amos. Die Aussteuertruhe war zwar beinahe vollendet, doch darin sollte Abigail hinausgeschmuggelt werden, sobald der richtige Zeitpunkt gekommen war. Sehr bald. »Aber in ein paar Tagen.« Er fragte sich, wie viel Spielraum er sich in den letzten drei Jahrzehnten seiner Dienste für Eden erarbeitet hatte. »Ich habe da ein Stück im Sinn, das allerdings zwei Männer zum Tragen und bei der Lieferung ein wenig Aufbauarbeit erfordert. Deshalb habe ich mir überlegt, ob ich dich bei einer deiner nächsten Fahrten begleiten soll.«

Dass er so ein Möbelstück geplant hatte, war eine glatte Lüge, doch er musste herausfinden, ob sein Vorschlag ohne Umschweife abgelehnt wurde und ob er an Abigails Seite wäre, wenn er sie in die Freiheit brachte.

Denn er würde unter keinen Umständen seine kleine Tochter in diese Kiste stecken und sie alleine lassen. Sie war schließlich nicht Moses, den man in einem Binsenkörbchen im Schilf aussetzte, in der Hoffnung, dass sie von wohlmeinenden Menschen gefunden und adoptiert wurde. Außerdem hatten sie Miriam auf diese Weise bereits hinauszuschmuggeln versucht. Amos hatte die Kiste groß genug getischlert, um ihr Platz zu bieten, doch etwas musste schiefgelaufen sein, und nun war sie tot, ebenso wie ihre restliche Familie.

Erstaunen glomm in DJs Augen auf, ehe er seine Züge unter Kontrolle bekam und eine beinahe verächtliche Miene darauf erschien, als wäre Amos ein kleiner Junge, der seinen Vater um ein Pony anbettelte. »Ich weiß es nicht. Da muss ich erst Pastor fragen.«

Das bedeutete Nein. Tja, damit wäre das geklärt. Trotz der Enttäuschung, die sich unter die Panik in seinem Innern mischte, nickte er nur und bemühte sich um eine sanfte, freundliche Miene. »Natürlich. Sag ihm, dass das Möbelstück, das ich im Auge habe, bestimmt einen guten Preis einbringen würde, aber wenn er lieber nicht möchte, dass ich dich begleite, werde ich es nicht anfertigen.«

DJ legte den Kopf schief. »Ich werde es ihm ausrichten. Und wann –« Abrupt hielt er inne und blinzelte, als sei er über irgendetwas erschrocken. »Wann hast du etwas fertig zum Mitnehmen, was glaubst du?«

»In ein paar Tagen. Spätestens am Donnerstag.«

DJ lächelte abwesend. »Danke, Brother Amos.« Er wandte sich um und hastete aus der Werkstatt.

Amos trat ans Fenster und sah zu, wie DJ den Hauptplatz überquerte und zum Tor eilte. Du musst ihm folgen. Herausfinden, was in dieser kleinen Ecke der Hölle passiert.

So schnell er konnte, hastete Amos über den Hof, sah sich um und schlüpfte zwischen die Bäume, die die natürliche Grenze des Lagers bildeten.

Seinem Instinkt folgend, schlug er den Weg zu dem Stein ein, unter dem Pastor das Telefon versteckt hatte, und siehe da: Wenig später sah er DJ auf demselben falschen Felsbrocken sitzen, auf dem er am Samstagabend Pastor bemerkt hatte. In den sechs Monaten, seit sie ihr Lager hier eingerichtet hatten, war er bestimmt Hunderte Male daran vorbeigegangen, ohne den Stein jemals wirklich wahrzunehmen. Sein Augenmerk galt Bäumen, nicht Steinen, und vielleicht wäre er noch tausend weitere Male daran vorbeigekommen, ohne zu ahnen, was sich darunter verbarg.

DJ hielt ein ähnliches Ding in der Hand, wie er es bei Pastor gesehen hatte, und hielt es sich ans Ohr. »Was ist los?«, blaffte er.

Er lauschte, und Amos sah, wie sich sein Körper mit jeder Sekunde weiter anspannte. »Und wie sah sie aus?«

Wer ist »sie«?, dachte Amos und bemerkte, dass DJ kreidebleich geworden war.

»Bist du sicher? Mercy Callahan? Und du bist sicher, dass der Name auf der Kreditkarte stand? Mercy? «

Mercy? Mercy? Amos presste sich eine Hand auf den Mund. Der Name Callahan sagte ihm nichts, aber wie viele Mercys konnte es schon geben? Und wie viele Mercys, die DJ so aus dem Konzept bringen konnten?

Aber Mercy war doch tot. Das hatte DJ ihnen erzählt. Sie war bei Rhodas Versuch, sie aus Eden hinauszuschmuggeln, ums Leben gekommen.

Ein Fünkchen Hoffnung glomm in Amos’ hämmerndem Herzen auf. Was, wenn DJ gelogen hat? Ephraim hatte gelogen. Pastor hatte gelogen. Weshalb also nicht auch DJ ?

Das bedeutete, dass Mercy noch am Leben sein könnte. Seine Gedanken überschlugen sich, als er sah, wie DJ aufsprang und hektisch auf und ab ging.

»Was hat sie gekauft?« Pause. »Ja, ich erinnere mich daran. ›Surely Goodness And Mercy.‹ Dieser verdammte Bibelvers. Ich hätte ihm nie erlauben dürfen, dass er diesen schwachsinnigen Psalm in dieses beschissene Holz schnitzt.«

Mercy hat etwas gekauft, das ich getischlert habe. Gütiger Herr. Mit einem Mal erfasste ihn ein Schwindelgefühl, sodass er sich an einem Baum festhalten musste.

DJ wurde noch bleicher. »Sie hat was? Mich beschrieben? Wieso hast du das nicht gleich gesagt, verdammte Scheiße? Hast du das Kennzeichen des Wagens? Schick es mir.« Neuerlich entstand eine Pause, während DJ auf das Telefon in seiner Hand blickte, ehe er es wieder ans Ohr hob. »Ja, ich hab’s. Danke.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und lauschte weiter. »Nein, ich habe die Nachrichten nicht gesehen, aber danke für die Warnung. Ich … bin dir was schuldig.«

Den letzten Satz sprach er aus, als hätte er etwas Widerliches im Mund. »Nein, ich habe keinen Vorrat mehr. Den Rest mussten wir zurücklassen, als wir umgezogen sind. Es wird einige Monate dauern, bis wir wieder ernten können.« Er verzog das Gesicht. »Ja, weiß ich. Der Markt schrumpft, bla, bla, bla. Kenne ich alles. Trotzdem gibt es noch einen Markt, oder? Die Nachfrage nach Pilzen verschwindet nicht auf einen Schlag, nur weil einige Städte den Verzehr entkriminalisiert haben.« Er blieb stehen und schnaufte ungeduldig. »Nein. Ich habe keine Möglichkeit, Meth zu kochen, selbst wenn ich es wollte, das habe ich dir doch gesagt. Ich muss jetzt Schluss machen. Danke für die Warnung. Ich komme so schnell wie möglich. Heute Abend. Kannst du dafür sorgen, dass sie dort festsitzt? Reifen zerstechen oder so was?« Er schnaufte schwer. »Stimmt. Das geht wohl nicht. Trotzdem danke. Bis heute Abend.«

Er hieb heftig mit dem Zeigefinger auf das Telefon ein, dann stand er einen Moment lang reglos da, ehe er eilig mit beiden Daumen auf den kleinen Telefonbildschirm einhämmerte und ungeduldig mit dem Fuß tippend wartete.

Aber worauf?

Amos bekam seine Antwort – mehr oder weniger –, als DJ laut abzulesen begann.

»Scheiße«, stöhnte er leise. »Sie ist es tatsächlich. O Gott. Fuck! Das darf nicht passieren. Das darf nicht passieren .« Er ließ sich auf den Felsbrocken sinken und stierte mit leerem Blick zu den Bergen hinüber. »Du solltest doch sterben. Wieso habe ich dich nicht einfach im Wald kaltgemacht? Gottverdammtnochmal!«

Amos schlotterten so heftig die Beine, dass sie jeden Moment nachzugeben drohten. Sie ist es. Mercy.

Meine Mercy ist am Leben?

Der Hoffnungsschimmer in seiner Brust glomm weiter. Meine Mercy lebt! Doch seine überschäumende Freude wich schnell der kalten Angst. Wenn sie lebte, wen hatte DJ dann begraben?

Hatte er überhaupt jemanden begraben? Amos wusste nicht mehr, was er denken sollte.

Dennoch, eines war klar: DJ würde heute noch das Lager verlassen.

Und Amos würde einen Weg finden, dass er und Abigail auf diesen Laster gelangten. Sein Plan, sie in der Aussteuertruhe aus Eden herauszuschaffen, hätte nie im Leben funktioniert, solange DJ ihm nicht erlaubte, ihn zu begleiten, selbst wenn es nur ein einziges Mal war. Ich muss herausfinden, wie wir uns auf der Ladefläche verstecken können, dann sind wir frei.

Er musste Abigail retten. Und Mercy warnen.

Modoc County, Kalifornien

Montag, 17 . April, 14 .45  Uhr

Rafe wünschte, sie könnten diese Tour durch die Wälder unter anderen Umständen unternehmen. Es war eine herrliche Fahrt. Ein wunderschöner Tag. Und auf dem Sitz neben ihm saß eine wunderschöne Frau.

Doch die Stimmung war angespannt, da Mercy unablässig den Blick über die Wälder schweifen ließ wie eine Zuschauerin, die ein Tennismatch verfolgte. Seit Erin ihrer Sorge Ausdruck verliehen hatte.

Die durchaus berechtigt war. Rafe hatte es gar nicht gefallen, wie der Typ hinter dem Deli-Tresen sie taxiert und Ginger anschließend in die Mangel genommen hatte. Und dass er zum Hörer gegriffen hatte, kaum dass sie aus dem Laden getreten waren.

Ja, nichts von all dem hatte sich richtig angefühlt.

Doch vielleicht gelang es ihm, Mercys Bedenken ein wenig zu zerstreuen. »Burton wird schon nicht hinter dem nächsten Baum hervorspringen«, meinte er leise. »Zumindest nicht heute.«

Mercy sah ihn an. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«

Lächelnd hielt er ihr die Hand hin, die sie zu seiner Erleichterung ergriff. »Ja«, sagte er. »Ziemlich. Zumindest was Ephraim angeht. Er ist dein schlimmster Albtraum, und es ist gerade einmal zwei Tage her, seit du ihm wieder begegnet bist. Ich verstehe nur zu gut, dass dich das beunruhigt. Aber ich halte die Augen offen, und mir ist nicht aufgefallen, dass uns jemand gefolgt wäre.«

Sie lächelte verkniffen. »Danke. Das bedeutet mir sehr viel.«

»Aber wenn dich das allein nicht beruhigt, verstehe ich es natürlich auch.«

Sie hob seine Hand und presste ihre Lippen auf seine Fingerknöchel. Kein Kuss, sondern nur ein kurzer Kontakt, eine Geste der Bekräftigung und Dankbarkeit.

»Du bist nicht allein, Mercy. Wie auch immer es zwischen uns weitergeht, ich werde dich das hier nicht allein durchstehen lassen.«

Sie ließ ihre ineinander verschlungenen Hände auf die Mittelkonsole sinken. »Gideon und Farrah werden stocksauer sein.«

Rafe sah in den Rückspiegel. Erin folgte ihnen in ihrem Range Rover, von Gideon war hingegen noch nichts zu sehen, ebenso wenig von Farrah und ihrem Captain. Inzwischen fuhren sie seit fast einer Stunde quer durch den Wald, doch die Straßen waren kurvig, deshalb hätten sie sie womöglich selbst dann nicht bemerkt, wenn sie direkt hinter ihnen gewesen wären.

»Für Farrah kann ich natürlich nicht sprechen«, sagte er, »aber Gideon wird sich schon wieder einkriegen. Außerdem wird er eher sauer auf mich sein. Ich hätte auf seine Antwort warten und nicht einfach losfahren sollen.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich hätte dich trotzdem dazu gedrängt, weil ich ja unbedingt beweisen wollte, dass ich etwas Wichtiges zur Suche nach Ephraim beitragen kann.« Sie blickte aus dem Fenster. »Weil ich ein schlechtes Gewissen habe, nachdem ich im Februar einfach verschwunden bin … genau genommen sogar mit fliegenden Fahnen.«

Er schnaubte. »Das ist doch Haarspalterei.« Er drosselte das Tempo, als sie sich einer Abzweigung zwischen den Bäumen näherten. »Wir sind jetzt etwa zwanzig Meilen weit gefahren, wie Ginger es gesagt hat. Und da ist auch das Schild. Privatbesitz . Wollen wir weiterfahren?«

Sie hatten bereits zwei kleine Seitenstraßen ausprobiert, die sich beide als Sackgassen entpuppt hatten.

»Klar, wieso nicht?« Mercy schnitt eine Grimasse.

Er blinkte und grinste sie an. »Immer schön enthusiastisch bleiben. So ist es richtig!«

Sie lachte. »Tut mir leid.« Sie seufzte. »Einerseits habe ich Angst, dass wir nichts finden, andererseits fürchte ich mich davor, dass wir etwas finden. Was völlig verrückt klingt.«

»Tut es gar nicht.« Wieder sah er in den Rückspiegel. Erin und Sasha waren immer noch hinter ihnen. »Und wenn wir hier auch nichts finden, suchen wir eben weiter.«

Mercy holte tief Luft.

Die nächsten zwanzig Minuten folgte Rafe schweigend der schmalen, schneebedeckten und von Schlaglöchern übersäten Straße. So tief im Wald drang noch nicht einmal die Sonne weit genug vor, um den Schnee schmelzen zu lassen, und bis die Temperaturen stiegen, würde es bestimmt noch einen Monat dauern.

»Kaum zu glauben, dass hier immer noch Schnee liegt«, bemerkte Mercy, als hätte sie Rafes Gedanken gelesen.

»Könnte schlimmer sein. Immerhin sind die Straßen befahrbar. Manche in der Gegend sind sogar bis Juni gesperrt.«

Der Subaru rumpelte über ein tiefes Schlagloch. Rafe löste seine Hand aus Mercys, um das Lenkrad fester zu umfassen und den Wagen etwas weiter auf die Seite zu lenken.

Trotzdem blieb es holprig.

»Tut mir leid«, presste er hervor.

»Schon gut«, sagte Mercy und sog scharf den Atem ein. »Rafe. Da!«

»Heilige Scheiße!«, murmelte er.

Vor ihnen befand sich eine Lichtung. Eher eine Art Lagerplatz. Ein sehr großer. Den Eingang markierten zwei hohe Pfosten mit einem Holzbrett dazwischen – wie die Zufahrt zu einer Ranch, nur ohne Namensschild.

Erin fuhr hinter ihnen heran. Rafe hielt und stieg aus, ohne den Motor auszumachen, eine Hand an seiner Waffe. »Du bleibst hier sitzen, bis ich dir sage, dass es sicher ist, okay? Sollte dir irgendetwas seltsam vorkommen, fährst du los.«

Sie nickte stumm.

Rafe schnappte sich seinen Gehstock und ging zu Erins Rover. Alle seine Sinne waren hellwach. Zwar war außer dem Brummen der Motoren nichts zu hören, doch das bedeutete noch lange nicht, dass alles in Ordnung war.

Die Hand ebenfalls auf dem Holster an ihrem Gürtel, sprang Erin aus dem Wagen. »Was zum Teufel ist das denn?«

Rafe schüttelte den Kopf. Er traute sich kaum zu hoffen, dass sie gefunden hatten, was von einem einstigen Eden-Standort übrig war. »Sehen wir uns mal um.«

Modoc County, Kalifornien

Montag, 17 . April, 14 .55  Uhr

Ephraim warf einen finsteren Blick auf den Cadillac. Zwar steckte er nicht länger im Schnee fest, doch er hatte kostbare Zeit damit vertan, die Karre freizuruckeln. Immerhin fuhr sie noch, für den Fall, dass er flüchten musste, wenn etwas schieflief. Mit einem Wagen mit Allradantrieb wäre ihm das nicht passiert, dachte er, als er seinen Rucksack schulterte und seine Waffen einsammelte.

In Granite Bay und dem Viertel um Rafe Sokolovs Stadtvilla war der Cadillac perfekt gewesen, weil er nicht weiter aufgefallen war, für diese Einöde hingegen taugte er nicht. Sokolov und Rhee hingegen könnten mit ihren Fahrzeugen im Zweifel einem Blizzard biblischen Ausmaßes trotzen.

Zum Glück musste er nicht weit gehen, und er kannte die Gegend wie seine Westentasche. Er nahm eine Abkürzung, die ihn zu dem ehemaligen Lager führen würde. Wenn er es geschickt anstellte und die Nerven behielt, würde er es schaffen, die beiden Cops und Sokolovs Schwester abzuknallen und Mercy in Sokolovs Subaru nach Eden zurückzuschaffen.

Sollte er gezwungen sein, doch auf den Cadillac zurückgreifen zu müssen, würde er so schnell wie möglich einen Wagen mit Allrad stehlen, um die Bergstraßen zu bewältigen. Sie waren gezwungen gewesen, Eden an einen der früheren Standorte zu verlegen, da sie wegen Miriams Flucht unter großem Zeitdruck gestanden hatten. Und das im November. In den Bergen hatte bereits Schnee gelegen, deshalb war es schlicht unmöglich gewesen, in der Kürze der Zeit neue Erdhäuser auszuheben.

Anfangs war er wütend gewesen, weil Mercy und Sokolov auf den einstigen Standort gestoßen waren, aber im Grunde kam es ihm sogar gelegen. So könnte er die drei Leichen in eines der Erdhäuser zerren, wo sie verrotten würden. Oder von wilden Tieren gefressen wurden. Um diese Jahreszeit herrschte in der Wildnis nach wie vor Nahrungsmangel, daher würden sich die Biester im Handumdrehen über sie hermachen.

Und Mercy und ich werden frei sein.

Modoc County, Kalifornien

Montag, 17 . April, 15 .05  Uhr

Vorsichtig näherten sich Rafe und Erin der Lichtung, die sich jedoch sehr schnell als verlassen erwies. In der Mitte gab es einen runden Hauptplatz von der Größe einer Eislauffläche, der von Behausungen umgeben war. »Sechsundzwanzig«, zählte Rafe im Flüsterton. Es handelte sich um kuppelförmige Gebilde mit Treppen, die zu den offenen Eingängen führten.

»Erdhäuser«, sagte Erin leise.

Rafe wischte Schnee von der abschüssigen Seite des Erdbaus direkt neben ihm. »Von Vegetation bewachsen.« Hauptsächlich von Rankengewächsen, aber auch Sträuchern. »Von oben sieht das Gelände wie eine grüne Fläche aus, was erklärt, weshalb man Eden aus der Luft niemals finden konnte.« Er hatte diverse Satellitenaufnahmen der Gegend um den Mount Shasta studiert, aber noch nie welche, die so weit im Osten lagen. Wie das FBI vorgegangen war, konnte er nicht sagen, und eigentlich spielte es auch keine Rolle, weil das Lager perfekt getarnt war.

Erin drehte sich langsam um die eigene Achse. »Die Zaunpfähle sind vier Meter hoch und rings um das Lager angeordnet, aber einen Zaun gibt es nicht.«

»Vielleicht haben sie ihn ja abgebaut und mitgenommen. Genauso wie die Türen.« Rafes Instinkt schrie förmlich, dass hier etwas nicht stimmte, was allerdings nachvollziehbar war, wenn man bedachte, welche Horrorszenarien sich innerhalb dieses Lagers abgespielt hatten. »Wir müssen Verstärkung anfordern.«

»Aber wen? Wollen wir ernsthaft die hiesigen Kollegen am Tatort haben? Mag ja sein, dass sie gute Arbeit leisten, aber das hier ist eine Nummer zu groß für sie und muss deshalb mit aller Sorgfalt bearbeitet werden. Wir können es uns nicht leisten, dass hier geschlampt wird.«

»Das FBI ist federführend bei der Fahndung nach Burton und der Suche nach Eden, daher kann Gideon Molina informieren. Und wir bleiben hier, bis das FBI den Tatort sichert.«

Erin nickte. »Okay. Aber ich will mir eines dieser Erdhäuser mal genau ansehen. Gibst du mir Deckung?«

Rafe war nicht sicher, ob das eine gute Idee war, trotzdem folgte er ihr und zog seine Waffe aus dem Holster. »Aber geh nicht zu weit rein. Falls die Dinger instabil sind, könnten sie einbrechen.«

Erin warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Vielen Dank, Professor Sokolov.«

Er verdrehte die Augen. »Ich mein’s ernst.«

»Und ich bin nicht blöd.«

»Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, murmelte Rafe, als sie ihre Taschenlampe anknipste und den Lichtkegel nach unten richtete, ehe sie die Stufen des Erdhauses direkt neben ihnen hinunterging.

Mit einem letzten finsteren Blick verschwand sie in der Behausung, war jedoch innerhalb von dreißig Sekunden wieder zurück und steckte ihre Taschenlampe ein. »Leer«, sagte sie. »Aber weitläufig. Es gibt mehrere Zimmer, mindestens drei, davon zwei Schlafzimmer und einen offenen Wohnraum. Von der Rückseite wird man das Loch sehen können, in dem vermutlich das Ofenrohr steckte. In den Türrahmen gab es Vertiefungen, als hätten sich dort Scharniere befunden. Du könntest recht haben mit deiner Vermutung, dass sie die Türen mitgenommen haben.«

»Toiletten?«, fragte Rafe.

»In dem hier gibt es keine, allerdings könnte es sein, dass in einem der Räume eine Art Loch wie bei einem Plumpsklo war. So weit bin ich in nicht gekommen. Abwasserrohre scheint es jedenfalls nicht zu geben. Und Menschen sind keine hier.«

»Weder Reifenspuren noch Fußabdrücke im Schnee, das heißt, wir können Mercy erlauben, sich hier umzusehen.«

»Ich hole sie«, sagte Erin. »Es ist nicht so einfach, durch den Schnee zu stapfen.«

Rafe wollte protestieren – Ich kriege das schon hin!  –, aber natürlich hatte sie recht. Abgesehen vom Schnee bestand die Gefahr, dass sein Gehstock auf dem darunterliegenden Eis wegrutschte. »Danke.«

Eine Minute später kehrte Erin mit Mercy und Sasha zurück. »Das ist nicht Eden«, sagte Mercy. »Zumindest nicht das, woran ich mich erinnere.«

»Inwiefern?«, fragte Erin.

»Wir hatten Häuser. Richtige Häuser. Aus Holz mit vier Wänden und Dachschindeln. Die Gründerväter hatten schönere Häuser als wir anderen, aber die hier sehen alle gleich aus. Und das Lager ist kleiner als in meiner Erinnerung. Wie viele dieser Behausungen gibt es hier?«

»Sechsundzwanzig«, antwortete Erin.

»Bei uns gab es mindestens vierzig.« Auch sie drehte sich um die eigene Achse, um das verwaiste Lager in Augenschein zu nehmen, doch ihre Miene war gedankenverloren, als sei sie in ihre Erinnerung zurückgereist.

»Die Zahl der Anhänger schwindet also?«, folgerte Rafe, woraufhin Mercy blinzelnd ins Hier und Jetzt zurückkehrte.

»Sieht ganz so aus. Aber der Aufbau ist ähnlich. Das hier ist der Gemeinschaftsplatz. Die Häuser waren ringsherum gebaut, so wie diese Erdbauten. Auf zwei, sechs und zehn Uhr standen die Gemeinschaftshäuser. Die meisten Familien hatten einen Herd zum Heizen, und um kleinere Mahlzeiten zu kochen, aber in der Hütte auf zwei Uhr gab es eine Kochstelle für alle, wo größere Mahlzeiten wie Truthähne, Wildschweine oder Wild zubereitet werden konnten. Auf sechs Uhr war die Hütte für die Schule.« Sie trat zu einer runden Vertiefung im Boden von etwa zwei Metern Durchmesser. »Das ist die Feuerstelle.« Dann deutete sie auf den größten Bau auf zwölf Uhr. »Das ist die Kirche. Pastors Haus war direkt daneben. Hinter jedem Haus gab es einen Abort. Hier sehe ich keine, aber sie könnten hinter den Erdhäusern verborgen sein. Können wir herumgehen?«

»Wieso nicht«, meinte Erin. »Wonach suchst du?«

»Nach den Nebengebäuden.« Mercy trat zwischen den Erdhäusern hindurch auf das Gelände dahinter, dicht gefolgt von Rafe, der sich beeilen musste, um mit ihr Schritt zu halten, sorgsam darauf bedacht, im Schnee nicht auszurutschen. »Die Ställe. Amos’ Werkstatt. Die Schmiede. Dass sie sich auch unter der Erde befanden, kann ich mir nicht vorstellen.«

Die Schmiede. Wo Gideon angegriffen wurde und den Mann in Notwehr getötet hatte.

Vor einem Viereck von etwa sieben mal sieben Metern blieb Mercy stehen. Es wirkte ebener als der Rest des Lagers. Sie ging in die Hocke und wischte mit der Hand den Schnee fort, dann sah sie auf.

»Eine Betonplatte. Hier muss entweder die Schmiede oder Amos’ Werkstatt gewesen sein. Wegen der Brandgefahr standen sie immer etwas abseits von den Wohngebäuden. Logischerweise brannte in der Schmiede immer ein Feuer, und in Amos’ Werkstatt gab es viel Sägemehl.« Sie trat zu einem weiteren, ebenmäßig von Schnee bedeckten Viereck, unter dem ebenfalls eine Betonplatte zum Vorschein kam. »Hier stand wahrscheinlich Amos’ Werkstatt. Alles war im Uhrzeigersinn immer gleich angeordnet.« Sie ließ sich auf die Fersen sinken und blickte in Richtung Wald. »Zwischen den Hütten stand ein mit Benzin betriebener Generator, damit Amos Strom für seine Maschinen hatte. Seine Sägen waren das Einzige im ganzen Lager, das mit Strom betrieben wurde.«

Sie erhob sich und runzelte die Stirn. »Sieht gar nicht so beängstigend aus, nicht? Sondern eher traurig.« Sie ging weiter im Uhrzeigersinn herum, parallel zu den kreisförmig angeordneten Behausungen. »Hier muss der Stall gewesen sein.« Sie straffte die Schultern. »Hinter Ephraims Haus.«

»Was war seine Aufgabe, Mercy?«, fragte Sasha leise.

»Er war für die Tiere verantwortlich.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Er konnte sogar gut mit Tieren. Hat sie mit Respekt behandelt. Sogar mit Zuneigung. Besser als seine Frauen und Kinder.« Wieder runzelte sie die Stirn. »Wie konnten sie in so beengten Behausungen leben? Ephraim hatte immer vier oder fünf Frauen gleichzeitig. Dazu kommen die Kinder.«

»Die Häuser sind ein ganzes Stück in die Erde hineingebaut«, erklärte Erin. »Zumindest das eine, in dem ich war.«

Mercys Stirnrunzeln vertiefte sich. »Wie entsetzlich. In dieser Enge festzusitzen. Mit ihm

Sie sah über die Stelle, wo sich der Stall befunden haben mochte, hinweg zu den Bäumen und verstummte. Ohne ein weiteres Wort stapfte sie in die Richtung, in die sie geblickt hatte. Die anderen folgten ihr und blieben stehen, als sie sich auf die Knie sinken ließ.

»Er war immer hinter der Kirche«, sagte sie leise und wischte hektisch mit bloßen Händen den Schnee zur Seite.

Darunter kam ein weiß gestrichenes Kreuz zum Vorschein. Nun, da Rafe wusste, wonach er Ausschau halten musste, entdeckte er weitere Kreuze, deren Spitzen aus dem Schnee ragten.

Sie hatten den Friedhof der Gemeinschaft entdeckt.

Vorsichtig ließ Rafe sich auf sein gesundes Knie sinken, während er das andere Bein seitwärts ausstreckte, sich auf seinen Gehstock stützte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und ein Paar Lederhandschuhe aus seiner Jackentasche zog. »Hier, zieh die an.«

Sie nahm sie entgegen und sah ihn finster an. »Ich werde sie schon nicht anfassen«, erklärte sie. »Schließlich weiß ich, was ich tue.«

Sie war Labortechnikerin und hatte tagtäglich mit Beweismaterial zu tun, deshalb stand es ihr zu, sich von seiner Bemerkung beleidigt zu fühlen. Er lächelte sie sanft an und beschloss, es ihr nicht übel zu nehmen. Die Situation schien ihr mächtig an die Nieren zu gehen. »Die sollen nur verhindern, dass du kalte Hände bekommst.«

»Oh.« Sie streifte sie über und schüttelte den Kopf. »Wie blöd von mir.«

»Nein«, tadelte er und zog sein Handy heraus, um mit der Taschenlampenfunktion den Namen auf dem Kreuz zu erhellen. »Damaris Terrill, geliebte Frau von Amos und Mutter von Abigail.«

Mercy wirkte schockiert. »Er hat also wieder geheiratet. Und noch ein Kind bekommen. Eine Tochter.«

Behutsam berührte Rafe sie an der Schulter. »Alles in Ordnung, Babe?«

Sie wandte sich ihm zu. Tränen schwammen in ihren Augen. »Eigentlich hatte er seine Chance auf eine weitere Ehefrau verwirkt, als sie ihm meine Mutter weggenommen haben«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Er wollte die Gründerväter daran hindern, mich mit Ephraim zu verheiraten, und sie haben gesagt, dass er dafür bestraft wird. Dass er nie wieder eine Frau bekommt, aber er hat sie trotzdem angeschrien, dass es nicht richtig sei … dass ich noch viel zu jung sei.« Sie schluckte blinzelnd und wischte sich die Tränen mit den immer noch in den wärmenden Handschuhen steckenden Händen ab. »Ich dachte, ich hätte sein Leben zerstört. Aber wie es aussieht, hat er noch eine Chance bekommen. Dann ist sie gestorben. Und er musste ihr Kreuz zimmern.« Ihre Stimme brach. »Es war seine Aufgabe, die Kreuze zu zimmern.«

Rafes Kehle schnürte sich zu. Dass ihr selbst jetzt noch sein Wohlergehen am Herzen lag, nach allem, was sie durchgemacht hatte … »Du bist so ein guter Mensch, Mercy Callahan. Lass dir niemals von jemandem das Gegenteil einreden. Schon gar nicht von dir selbst.«

Sie lachte halb unter Tränen. »Du bist vielleicht nicht ganz objektiv.«

»Aber recht habe ich trotzdem.« Sein Blick fiel wieder auf das Kreuz. »Sie war blutjung. Nicht einmal neunzehn.«

»Und schon Mutter.« Sie seufzte. »Viele Frauen sind im Wochenbett gestorben. Ich hatte solche Angst, dass …« Sie schüttelte den Kopf. »Egal.«

Sie machte Anstalten aufzustehen, doch er hielt sie zurück. »Sag es mir. Bitte.«

Ihr Blick schweifte zu den anderen Kreuzen, deren Spitzen im Schnee nur mit Mühe zu erkennen waren. »Ich hatte Angst, ich könnte ein Baby bekommen. So viele der Frauen im Lager waren praktisch ununterbrochen schwanger, und die Säuglingssterblichkeit war enorm hoch.«

»Du hattest Angst, du könntest ebenfalls sterben?«, fragte er leise.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte Angst, ich könnte überleben. Mit einem Baby. Ich habe mich davor gefürchtet, ein weiteres Kind in die Gemeinschaft zu bringen. Manchmal habe ich mir gewünscht, er würde mich töten, damit es endlich vorbei war. Das waren die Zeiten, in denen ich Gideon aus tiefster Seele gehasst habe«, endete sie flüsternd und räusperte sich. »Heute verstehe ich das alles natürlich. Aber damals dachte ich, er sei einfach abgehauen, und ich … also wir, Mama und ich, müssten dafür bezahlen.«

Ein erstickter Laut ließ sie aufschrecken. Rafe stieß einen unterdrückten Fluch aus, als er herumfuhr und ein sengender Schmerz durch sein Bein schoss. Mercy wurde blass.

Gideon stand da, ebenso kreidebleich wie Mercy.

Hinter ihm standen Daisy, Sasha und Erin und sahen einander bedrückt an.

Dass Rafe nichts von allem mitbekommen hatte, zeigte nur, wie tief Mercy ihn in ihre Erinnerungen hineingezogen hatte. In ihren Schmerz.

»Aber heute glaube ich das nicht mehr, Gideon«, sagte sie. »Ich schwöre es.«

Sein Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ein Wort herauskam. Er taumelte vorwärts und fiel vor ihr auf die Knie. »Es tut mir leid. O Gott, es tut mir so leid.«

Sie schlang die Arme um ihren Bruder, zog sich einen Handschuh aus, um ihm übers Haar zu streichen, während er von Schluchzern geschüttelt wurde. Rafe war bewusst, dass er den Blick abwenden, ihnen Privatsphäre geben sollte, doch er sah sich außerstande, aufzustehen. Auch er weinte, doch es kümmerte ihn nicht. All das war so krank, so grauenvoll. So viele Leben, die Eden zerstört hatte.

Und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er es wiedergutmachen sollte. Deshalb saß er reglos da, in stummer Hilflosigkeit. Und voller Hass auf Ephraim Burton, mit jeder Faser seines Herzens.

»Ich habe nach dir gesucht«, schluchzte Gideon. »Immer und überall, aber ich konnte dich nicht finden. Ich musste daran denken, was mit dir passiert ist, und … o Gott, Mercy, es tut mir so leid. Ich hätte intensiver suchen müssen.«

»Ich weiß«, flüsterte sie. »Mir tut es auch leid. Aber es ist nicht deine Schuld. Und meine auch nicht. Du hättest uns nicht finden können, weil sie nicht wollten, dass uns jemand findet. Bitte, weine nicht. Bitte.« Ein ersticktes Schluchzen drang aus ihrem Mund. »Verdammt, Gideon, du brichst mir das Herz.«

Zittrig holte Gideon Luft. »Es tut mir leid.« Noch immer auf Knien, richtete er sich auf und legte beide Hände um Mercys nasses Gesicht. »Ich mache alles nur noch schlimmer.«

»Nein«, widersprach sie traurig. »Du machst alles besser. Jetzt, wo ich die Wahrheit kenne, ist alles sehr viel besser.«

Einen Moment lang schwiegen sie, dann sah Gideon sich um. »Es sieht ganz anders aus, nicht?«

»Einiges, ja, andere Dinge wiederum sind genau gleich.« Sie deutete auf die weißen Kreuze. »Der Friedhof ist an derselben Stelle.«

Gideons Blick fiel auf das Kreuz, das sie freigelegt hatte. »Amos hat also wieder geheiratet.«

»Aber sie ist gestorben. Die Vorstellung, dass er ihr Kreuz zimmern musste, ist … schmerzlich. Ich erinnere mich noch an den Tag, als er deines angefertigt hat.« Neuerlich strömten ihr die Tränen über die Wangen. »Gideon Terrill, geliebter Sohn.« Ihre Stimme brach ein weiteres Mal. »Sie haben ihm nicht erlaubt, es auf deinem Grab aufzustellen. Weil du eine Sünde begangen hättest, sagten sie. Sogar eine Todsünde. Du hättest getötet. Deshalb durftest du nicht in der Nähe der anderen begraben werden.« Sie schluckte. »Also hat mich Amos eines Nachts geweckt, und dann sind wir hinausgeschlichen zu der Stelle, wo sie dich verscharrt hatten. Oder die Leiche, bei der es sich angeblich um deine handelte. Amos hatte eine kleine Plakette angefertigt. ›Geliebter Sohn‹ stand darauf. Er hat sie ein paar Zentimeter tief im Boden vergraben, wo man sie nicht sehen konnte. Und dann haben wir beide geweint. Um dich und um Mama, denn zu dem Zeitpunkt hatte Ephraim sie ihm schon weggenommen.«

Rafe hatte bislang nicht nachvollziehen können, weshalb Mercy Amos so geliebt hatte, doch allmählich verstand er. Ja, dieser Mann hatte zugelassen, dass grauenvolle Dinge mit ihr angestellt worden waren, und er war bei einer so zutiefst abscheulichen Sekte geblieben. Aber er hatte sich um sie gekümmert, hatte sie geliebt. Und Gideon ebenfalls.

Gideon atmete tief durch. »Danke.« Er erhob sich und streckte zuerst Mercy, dann Rafe die Hand hin.

Rafe kam auf die Füße und verzog das Gesicht, als sein Bein vor Schmerz pochte. »Es tut mir leid«, sagte er zu Gideon. »Ich hätte mich vorhin mehr anstrengen sollen, dich an die Strippe zu bekommen.«

»Ja, das hättest du«, sagte Gideon, ehe er Rafe zu dessen Verblüffung fest an sich zog. »Aber es ist okay«, flüsterte er. »Danke, dass du sie hergebracht hast. Ich hätte mich wahrscheinlich dagegen gewehrt, aber es war genau das, was sie brauchte. Und ich genauso.« Er ließ Rafe los. »Aber tu so was nicht noch mal. Bitte.«

»Werde ich nicht«, versprach Rafe.

»O nein.« Mercy war ans äußere Ende des kleinen Friedhofs gegangen und befreite ein weiteres Kreuz vom Schnee. Dieses war nicht weiß gestrichen wie die anderen, sondern bestand aus naturbelassenem Holz. »Hier steht ›Comstock‹«, sagte sie betrübt.

»Sie haben eines für Eileen aufgestellt«, sagte Gideon. »Ich frage mich, wen sie als sie ausgegeben haben.«

»Miriams Name steht hier gar nicht«, meinte Mercy. »Sondern die Namen ihrer Familie. Dorcas, Stephen und Ezra. Das Datum ist vom letzten November.«

Gideon stieß einen Fluch aus. »Dann haben sie auch sie getötet.« Er runzelte die Stirn. »Moment mal. Sie haben ihnen die Ehre eines Grabes erwiesen?«

Daisy, Sasha und Erin traten näher. »Normalerweise tun sie so etwas nicht, richtig?«, fragte Daisy leise.

»Nein«, antwortete Mercy an Gideons Stelle. »Man hätte sie nicht auf dem Friedhof der Gemeinschaft begraben, weil es ›geheiligter Grund‹ ist, sondern sie wären aus der Gemeinschaft verbannt worden. Von wilden Tieren zerfleischt.« Sie blickte wieder auf das Kreuz. »Amos hat es nicht gestrichen. Ich frage mich, warum.«

»Er hat die Kreuze immer weiß gestrichen«, murmelte Gideon. »Farbe war zwar teuer, aber Amos meinte, das sei es wert. Wir müssten die Toten ehren.«

»Eileen ist in den ersten Novembertagen geflohen«, bemerkte Daisy. »Wenige Tage später wurde sie aufgegriffen, als sie in Macdoel eine Straße entlangging.«

»Und das passt auch zu dem, was Ginger uns vorhin im Laden erzählt hat«, fügte Sasha hinzu und schilderte Gideon und Daisy, was sie erfahren hatten.

»Wir haben gerade überlegt, wen wir anrufen sollen, um den Tatort hier zu sichern«, sagte Erin. »Aber vorher müssen wir noch einmal nach Snowbush und in einem der Geschäfte fragen, ob wir das Telefon benutzen können. Hier oben gibt es kein Netz.«

Rafe überließ es Gideon und Erin, die Entscheidung zu treffen – wer am nächsten war und wem sie am ehesten zutrauten, den Tatort zu sichern, ohne dass es Pannen gab. Er ging zu Mercy hinüber, die immer noch im Schnee kniete.

»Du wirst noch krank«, sagte er leise. »Deine Jeans sind völlig durchnässt.« Genauso wie seine eigenen. »Selbst bei milden Temperaturen kann eine Unterkühlung ganz schnell gehen.«

Sie stand auf, ohne den Blick von dem Holzkreuz zu nehmen. »Eileens Mutter war immer sehr nett zu mir«, sagte sie. »Ich bin gemeinsam mit Eileens Bruder Ezra zur Schule gegangen.«

»Amos hat ihre Geburtsdaten nicht auf dem Kreuz eingeritzt«, stellte Rafe fest.

»Ich weiß. Und er hat auch nicht für jeden einzeln ein Kreuz angefertigt. Normalerweise gab es für jedes Mitglied ein Kreuz mit Namen, Geburts- und Sterbedatum und einem Spruch. Den durfte sich die Familie aussuchen. Keine Ahnung, warum es hier nicht so ist. Vielleicht standen sie unter Zeitdruck, oder aber man hat es ihm nicht erlaubt, so wie bei Gideon. Nach Eileens Flucht hatten die Gründerväter es eilig, das Lager möglichst schnell zu verlegen. So war es immer.« Sie seufzte. »So dumm es gewesen sein mag, aber ich habe immer gehofft, dass die Familien der Toten tatsächlich in die Zivilisation zurückkehren und nicht ›von den Wölfen zerfleischt‹ werden.«

»Das ist nicht dumm«, widersprach Rafe. »Zu hoffen, ist niemals dumm.«

Ein trauriges Lächeln trat auf ihre Züge. »Ich danke …«

Sie kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen, denn ein Schuss hallte durch die Luft, gefolgt von einem schrillen Aufschrei. Sie fuhren herum und sahen gerade noch, wie Erin in den Schnee sank. Der sich in beängstigender Geschwindigkeit rot färbte.

»Runter«, schrie Rafe und stieß Mercy zu Boden, als Gideon »Waffe!« schrie. Rafe zog seine Pistole und sah sich hektisch um.

Verdammte Scheiße . Offenbar war Eden doch nicht so verwaist wie gedacht.