29 . Kapitel

Dunsmuir, Kalifornien

Mittwoch, 19 . April, 16 .30  Uhr

Die Stille in Agent Hunters SUV war so erdrückend, dass Amos den Drang verspürte, irgendeinen Laut von sich zu geben – zu schreien, zu sprechen oder auch nur zu flüstern –, um sie zu durchbrechen. Nur damit es aufhörte. Er war nervös, musste sich bewegen, etwas unternehmen.

»Wo ist Gideon?« Mercys Flüstern ließ ihn zusammenzucken.

»Es geht ihm gut«, antwortete Agent Schumacher, die sich auf den Fahrersitz geschwungen hatte, kaum dass Gideon und Tom aufgebrochen waren, um die Koordinaten auszukundschaften, die Ephraim ihnen gegeben hatte.

Jene Koordinaten, von denen sie alle wussten, dass Ephraim ihnen damit eine Falle gestellt hatte.

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«, fragte Mercy.

»Er steht die ganze Zeit mit mir in Kontakt«, antwortete Agent Schumacher. »Und es geht beiden gut.«

Aber Amos glaubte ihr nicht. Der Zug um den Mund der FBI -Beamtin war viel zu angespannt, ihre Schultern noch viel angespannter. Natürlich könnte es auch ein Zeichen sein, wie sehr es ihr gegen den Strich ging, dass sie mit Mercy, Rafe, Amos und Daisy hier war. Glücklicherweise hatte Daisy ihm eines ihrer Gewehre gereicht, während sich Schumacher mit Gideon und Tom abgestimmt hatte, denn auch das hätte ihr zweifellos gar nicht gepasst. Selbst dass Rafe seine Pistole offen im Holster trug, hatte sie mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen.

Immerhin habe ich das Gewehr . Bewaffnet zu sein, gab ihm ein Gefühl der Kontrolle, das zwar unberechtigt sein mochte, trotzdem war er ein deutlich besserer Schütze als Ephraim. Wann immer Amos in Eden an einer Jagd teilgenommen hatte, waren sie mit Beute nach Hause zurückgekehrt – einem Reh, einer Gans, Wachteln oder Ähnlichem. Ephraim traf nur selten, doch das wusste keiner in der Gemeinschaft, denn die Jagd war nur besonders treuen Anhängern gestattet, da die Teilnehmer Waffen trugen, wenn auch nur kurz. Die Gründerväter untersagten den Gebrauch von Waffen mit dem Argument, keines der Gemeinschaftsmitglieder solle versehentlich zu Schaden kommen, aber nach allem, was Amos mittlerweile wusste, war es eher aus Angst vor einem Aufstand geschehen.

Amos wünschte, er hätte all das schon früher gewusst. Dann hätte ich ihnen längst gezeigt, was ein Aufstand ist, verdammt noch mal.

»Haben sie Burton schon aufgestöbert?«, fragte Rafe leise.

»Noch nicht«, antwortete Agent Schumacher scharf, ehe ihr Tonfall sanfter wurde. »Sie kriegen das schon hin. Molinas SWAT -Team ist ganz in der Nähe. Versuchen Sie, sich keine allzu großen Sorgen zu machen, Miss Callahan. Es wird alles …«

In diesem Moment ertönte ein lauter Schuss, der alle auf ihren Sitzen hochfahren ließ. Amos und Rafe stießen Mercy in den Fußraum, und Daisy hatte ihr Gewehr hochgerissen und zielte auf die rückwärtige Scheibe, noch bevor Amos Atem schöpfen konnte.

»Farrah«, krächzte Mercy leise. »Er hat sie erschossen. Oder André oder Damien. Er erschießt sie alle.«

»Das wissen wir nicht«, versuchte Agent Schumacher, sie zu beruhigen, doch auch sie hatte ihre Waffe bereits im Anschlag. »Ich überprüfe jetzt die unmittelbare Umgebung. Sie bleiben hier.«

Sie glitt vom Fahrersitz und arbeitete sich vorsichtig auf die andere Seite des Geländewagens vor. Der Wald lag auf der Beifahrerseite, dicht und trotz der immer noch am Himmel stehenden Nachmittagssonne so dunkel, dass sich ohne Weiteres jemand unbemerkt darin verschanzen könnte.

Doch der Schuss war nicht aus dem Wald gekommen, zumindest nicht von dieser Seite, wie Mercy beinahe befürchtet hatte, aber immerhin bedeutete es, dass Farrah noch am Leben sein musste.

»Rafe«, raunte Amos und deutete durch das gegenüberliegende Seitenfenster auf den Wald auf der anderen Straßenseite. »Da.«

Farrah Romeros Hände waren vor ihrem Körper mit Klebeband gefesselt, ein Streifen bedeckte ihren Mund, und Tränen liefen ihr übers Gesicht, als Ephraim sie mit dem Gewehrlauf vor sich her den Weg entlangstieß.

Ich kann nicht zulassen, dass er sie tötet. Er hat schon viel zu viele Menschen auf dem Gewissen.

»Was passiert da?«, flüsterte Mercy.

»Er hat Farrah, aber sie lebt«, antwortete Rafe.

»Er will einen Tausch machen«, sagte Mercy tonlos.

»Das wird aber nicht passieren.« Rafes scharfe Antwort ersparte Amos, dasselbe zu entgegnen. »Du hast es mir versprochen, Mercy.«

»Ich will mich ja nicht zur Verfügung stellen«, zischte sie aufgebracht, »sondern sage nur, dass das sein Ziel ist.«

Plötzlich senkte sich eine tiefe Ruhe über Amos. Er würde sich ebenso wenig opfern, schließlich war es ihm endlich gelungen, mit allen seinen Kindern wiedervereint zu sein. Aber er würde auch nicht zulassen, dass Farrah etwas passierte. »Wir können ihn kriegen. Er weiß zwar vielleicht, dass Mercy hier ist, aber von mir ahnt er nichts.«

»Oder von mir«, fügte Daisy hinzu. »Noch hat er uns nicht gesehen. Diesen Vorteil haben wir noch.«

In diesem Moment ging die Tür an Rafes Seite auf, und Agent Schumacher erschien, tief geduckt, damit niemand sie durchs Fenster sehen konnte. »Reynolds und Hunter sind auf dem Rückweg, deshalb habe ich gleich Verstärkung. Ich schleiche mich jetzt hinten um den Wagen herum, wo ich Burton besser im Visier habe. Keine Angst, Miss Callahan, wir holen Ihre Freundin da raus.«

Mercy, die immer noch im Fußraum kauerte, nickte nur steif, dann sahen sie zu, wie Agent Schumacher in den Wald hinter dem Wagen lief.

Amos drehte sich um, konnte zu seiner Verblüffung jedoch weder Ephraim noch Farrah entdecken. »Sie sind weg.«

»Zurück in den Wald«, meinte Daisy. »Lasst mich aussteigen. Ich brauche einen besseren Schusswinkel.«

Rafe öffnete seine Tür vollends und glitt langsam vom Sitz, wobei auch er darauf achtete, Agent Schumachers Beispiel zu folgen und unterhalb des Fensters zu bleiben. »Los«, sagte er zu Daisy und runzelte die Stirn, als Mercy ebenfalls näher robbte. »Du nicht.«

Mercy warf ihm einen vernichtenden Blick zu, blieb jedoch, wo sie war, selbst dann noch, als auch Amos aus dem Wagen stieg.

Rafe hatte seine Handfeuerwaffe, Daisy ihr Gewehr, mit dem sie umging, als sei es ihr verlängerter Arm. Gideon hatte sich offenkundig eine Frau mit zahlreichen Fähigkeiten ausgesucht. Hinter dem Vorderreifen des SUV ging Daisy in die Knie und positionierte das Gewehr auf ihrer Schulter.

Zufrieden beobachtete Amos sie dabei. Die Frau wusste, was sie tat. Er hob den Kopf und suchte die Umgebung nach Ephraim ab.

»Vielleicht hat er uns noch nicht gesehen«, sagte Rafe leise.

»Wahrscheinlich nur die Fahrzeuge«, erwiderte Daisy ebenso leise. »In Snowbush hat er ja den Tahoe deines Vaters gestohlen, um zu fliehen. Vielleicht hat er vor, sich jetzt eine der FBI -Kisten unter den Nagel zu reißen.«

»Da ist er«, raunte Amos grimmig.

Ephraim war wieder aus dem Wald getreten. Mittlerweile hatte er sich das Gewehr über die Schulter gehängt. In der rechten Hand hielt er eine Pistole, die er Farrah an die Schläfe hielt, den linken Arm hatte er quer über ihren Brustkasten gelegt und hielt einen Revolver so, dass er direkt auf ihr Kinn zeigte. So schob er sie vor sich her, bis sie etwa zehn Meter trennten.

Immerhin hatte er ihr das Klebeband über dem Mund abgenommen. Farrah bewegte sich kaum, nur ihre verängstigten Schluchzer hallten durch die Stille des Waldes. Der Anblick brach einem das Herz. Doch trotz ihrer Tränen verströmte sie eine Trotzigkeit, die Amos mit Freude und Stolz erfüllte, dass seine Tochter sich eine solche Frau als Freundin ausgewählt hatte.

Und ihn in seinem Entschluss bestärkte, sie zu retten.

»Ich will nur verschwinden«, rief Ephraim. »Niemand muss verletzt werden. Weg von den Autos, dann lasse ich sie gehen.«

»Erschießen können wir ihn nicht«, sagte Daisy leise. »Und Schumacher auch nicht. Er hat beide Finger am Abzug. Ein falsches Zucken, und Farrah ist tot.«

»Ich weiß«, brummte Rafe. »Zuerst lassen Sie sie gehen«, rief er Ephraim zu. »Und dann reden wir.«

Langsam trat Ephraim näher. »Ich werde Ihnen jetzt sagen, wo Sie Ihren Bruder finden, Sokolov. Er hat eine Menge Blut verloren, deshalb wollen Sie vielleicht schnell zu ihm gehen. Sie wissen schon, von dem Autounfall heute Morgen und den Kugeln, die ich ihm verpasst habe. Noch können Sie ihn retten, aber es zählt jede Minute. Gehen Sie mir aus dem Weg, dann hat er noch eine Chance.«

Dunsmuir, Kalifornien

Mittwoch, 19 . April, 16 .50  Uhr

Rafes Herzschlag setzte kurz aus, und die Angst um seinen Bruder raubte ihm den Atem. Kurz war er sogar versucht, Ephraims Anweisungen Folge zu leisten, doch er wusste, dass der Mann log. Er würde sie alle töten. Bis auf Mercy. Sie würde er zurück nach Eden bringen und ein Exempel an ihr statuieren. Allein die Vorstellung ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Natürlich würde Ephraim es nicht schaffen. Sie waren in der Überzahl. Trotzdem würde Rafe das Risiko nicht eingehen, dass auch nur einer von ihnen zu Schaden kam. Sie mussten es nur schaffen, dass Ephraim die Waffe von Farrahs Kopf nahm. Daisy hatte recht: ein falsches Zucken von Ephraims Finger, und Farrah wäre tot. Rafe konnte nur hoffen, dass Agent Schumacher die Brisanz der Lage bewusst war, dass sie irgendwo hinter Ephraim stand, bereit, im richtigen Moment abzudrücken.

Mercy riss die Wagentür auf. »Er lügt, Rafe.«

»Weiß ich«, zischte Rafe. »Er lässt uns nicht einfach laufen, sondern tötet uns alle. Mach die Tür zu und bleib unten.«

»Nein. Sieh doch! Farrah!«

Rafe gehorchte. Eine Woge der Erleichterung durchströmte ihn. Alles okay. Dein Bruder lebt, formte sie mehrmals mit den Lippen.

»Gott sei Dank«, flüsterte Rafe. »Wo zum Teufel steckt eigentlich Gideon? Jemand muss Burton ablenken, irgendetwas tun, damit er Farrah loslässt.«

Mercy fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Das wird er nicht. Er will mich und den verdammten Schließfachschlüssel. Lass mich die Tür ein Stück weiter aufmachen, damit ich mit ihm reden kann. Und ich werde nicht aussteigen, versprochen«, blaffte sie, bevor er etwas erwidern konnte.

Seufzend öffnete er die Wagentür etwas weiter. Allmählich hatte er den dumpfen Verdacht, dass die Verstärkung gar nicht im Anmarsch war. Nicht nur waren Gideon und Hunter plötzlich verschwunden, sondern auch von Agent Molinas SWAT -Team war weit und breit nichts zu sehen. Erste Zweifel, ob Agent Schumacher tatsächlich im Wald Posten bezogen hatte und auf einen Moment der Unachtsamkeit bei Ephraim wartete, beschlichen ihn. Sie müsste sich doch längst gezeigt haben. Hier stimmte etwas nicht.

Daisy war die Besorgnis deutlich anzusehen. Auch sie wusste, dass Gideon längst zurück sein sollte, doch sie riss sich zusammen.

»Ephraim«, rief Mercy. »Lass sie los. Ich weiß, dass du eigentlich mich willst. Und diesen blöden Schlüssel, wozu er auch immer gehören mag. Ich weiß auch, dass du deine Mutter nicht ganz alleine in einem Gefängnisaltersheim sterben lassen willst, aber genau das wird passieren, wenn du einem meiner Freunde oder Familienmitglieder etwas antust. Also lass sie los und mach es direkt mit mir aus.«

Ephraims Antwort war ein einzelner Schuss durch das Seitenfenster des SUV .

Reflexartig duckten sich alle, doch die Scheibe zerbarst nicht. Rafe riskierte einen Blick um den Wagen herum, in der Hoffnung, dass Ephraim von Farrah abgelassen hatte, um den Schuss abzugeben, doch er hielt ihr den Revolver immer noch unters Kinn.

»Dieses Fenster wird nicht ewig standhalten«, rief Ephraim und zog Farrah noch näher zu sich heran. »Und wenn es zerbricht, bekommt jemand in der Karre die nächste Kugel ab. Und ich ziele auf die Köpfe.« Wieder gab er einen Schuss ab, woraufhin sich erste spinnennetzartige Risse durch die Scheibe zogen.

»Er hat recht«, presste Rafe mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Noch zwei Schüsse hält die Scheibe aus. Maximal. Wenn er noch näher kommt, klettert er am Ende durchs Fenster.«

Verdammt, Gideon, wo zum Teufel steckst du? Das war Rafes größte Befürchtung – dass er zusehen musste, wie Mercy in Ephraims Fadenkreuz geriet.

»Was genau wollen Sie, Burton?«, schrie Rafe.

»Ich will diesen SUV

»Nehmen Sie den anderen.«

Unterdessen war Ephraim noch näher gekommen, sodass Rafe sein Gelächter deutlich hören konnte. »Von mir aus. Solange Mercy drin ist.«

Mercy kauerte sich im Fußraum von Hunters SUV zusammen, blass, aber fest entschlossen. »Wo bleibt Molinas SWAT -Team?«

»Gute Frage«, knurrte Rafe. »Aber eine noch bessere ist, was das hier werden soll.«

Denn Mercy rutschte über den Wagenboden in Richtung Tür. »Ich tue genau dasselbe, was ich in Snowbush schon getan habe, nur dass ich diesmal eine kugelsichere Weste und einen Helm trage. Und dass du vorbereitet bist. Kannst du auf Bäume klettern, Daisy?«

Daisy nickte. »Klar. Willst du mich als Scharfschützin da oben haben?«

»Ich fürchte, wir sind auf uns gestellt«, erwiderte Mercy. »Oder siehst du das anders?«

»Stimmt«, bestätigt Rafe. »Wenn es eine Kavallerie gäbe, müsste sie längst hier sein.«

»Amos«, flüsterte Daisy. »Wie gut können Sie mit einem Gewehr umgehen?«

»Sehr gut«, antwortete Amos ernst. »Gut genug, um die Familie meines Sohnes und meiner Tochter zu beschützen.«

Daisy drückte flüchtig Amos’ Arm. »Behalten Sie ihn im Auge, während ich in Richtung Wald schleiche. Sollte er eine der Waffen runternehmen, mit denen er auf Farrah zielt, schießen Sie. Okay?«

Amos nickte. »Verstanden.«

Sobald Daisy den Wald erreicht hatte, beugte Mercy sich vor und küsste Rafe voller Eindringlichkeit. »Ich bin nicht das Opfer«, flüsterte sie. »Sondern diejenige, die ihn ablenkt. Behalte seine Hände im Auge. Sobald eine seiner Waffen nicht auf Farrah gerichtet ist, schießt du. Wohin, ist mir völlig egal. Ich will, dass es vorbei ist.« Sie küsste ihn noch einmal, diesmal sanfter. »Ich vertraue dir.«

Rafe schluckte. »Verdammt, Mercy.«

Sie lächelte traurig. »Lass uns zusehen, dass wir den Ballast loswerden, den ich all die Jahre mit mir herumgetragen habe, okay?« Sie tätschelte Amos die Wange. »Du warst immer ein guter Schütze, daran erinnere ich mich, und ich wette, dass du heute noch viel besser bist. Und solltest du in Versuchung geraten, irgendwelche Dummheiten zu machen, denk daran, dass Abigail ihren Papa braucht. Und ich auch.«

Amos atmete zittrig aus. »Ich werde es mir merken.«

Sie nickte knapp, ehe sie aus dem SUV glitt und gebückt zum vorderen Ende pirschte, wo sie sich zu voller Größe aufrichtete.

»Also gut, Ephraim«, schrie sie. »Ich bin hier. Lass Farrah los, dann können wir reden.«

Dunsmuir, Kalifornien

Mittwoch, 19 . April, 17 .10  Uhr

Mercy war wesentlich ruhiger, als sie es unter diesen Umständen erwartet hätte. Gleichzeitig grub sie ihre Nägel so tief in die Handflächen, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn sie bluten würden.

Ephraim war noch ein Stück näher gekommen und stand nun mitten auf der Straße, weniger als drei Meter von Hunters SUV entfernt.

Mercy sah Farrah in die Augen. »Hey, Ro. Geht es dir gut?«

Natürlich drang weder ein Laut über Farrahs Lippen, noch nickte sie, stattdessen blinzelte sie nur einmal kurz, um ein »Ja« zu signalisieren.

Plötzlich wurde Mercys Kehle so eng, dass sie nicht schlucken konnte. »Ich hab dich lieb«, sagte sie leise.

Farrahs Augen verengten sich, und sie blinzelte zweimal hintereinander, um ein »Nein« zu signalisieren.

Damit wollte sie keineswegs andeuten, dass sie Mercy nicht auch liebte, sondern es war nur als Warnung gedacht, irgendwelche Dummheiten zu machen.

»Wie süß, meine Angetraute«, höhnte Ephraim. »Aber ich will dich nicht hier haben, sondern in dem Wagen. Los, steig ein. Sofort.«

»Lass sie los, dann gehe ich mit dir.«

»Du lügst«, stieß er hervor.

Mercy sah ihm in die Augen. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber das wirst du erst herausfinden, wenn du sie loslässt. Mit uns beiden gleichzeitig wirst du nicht fertig. Wir sind keine zwölfjährigen Mädchen.«

»Sag deinem blonden Wachhund, er soll rauskommen und die Waffe wegwerfen. Und der Rest seiner Truppe auch.«

Mercy hörte das leise Geräusch von Rafes Gehstock, als er hinter sie trat. Nein, Rafe! Was tust du da?

Rafe blieb neben ihr stehen und ließ seine Waffe fallen, die über den Asphalt schlitterte, bis sie etwa zehn Meter neben ihnen liegen blieb. »Es ist sonst niemand hier. Wenn Sie mir nicht glauben, überzeugen Sie sich gern selbst.«

Ephraim stieß ein freudloses Lachen aus. »Runter mit Ihnen, Sokolov. Auf den Bauch, Gesicht auf den Boden. Ich habe die Schnauze voll von Ihnen.«

Mercy wurde stocksteif, während sie ihn innerlich dafür verfluchte, den Schutz des Wagens verlassen zu haben.

Langsam ging Rafe auf ein Knie, wobei er eine Hand bis zur Mitte des Stocks hinunterwandern ließ. Das hatte sie noch nie an ihm beobachtet.

Ephraims Züge verzerrten sich vor Wut. »Gesicht auf den Boden, habe ich gesagt.«

»Ich bin ein bisschen langsam«, meinte Rafe. »Ich bin krankgeschrieben und auch dienstunfähig. Was eine echte Demütigung für Sie sein sollte, weil ich Sie am Flughafen aus dem Rollstuhl heraus nur mit meinem Gehstock zu Fall gebracht habe.«

Ein Muskel zuckte in Ephraims Kiefer. »Gesicht auf den Boden, habe ich gesagt«, befahl er, löste den Revolver von Farrahs Kinn und richtete ihn auf Rafe, ohne dabei die Pistole von ihrer Schläfe zu nehmen. »Es wird mir ein Fest sein, Sie abzuknallen.«

Mercy registrierte, wie die Panik sie zu erfassen begann, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie sie in den Griff bekommen sollte. Bis Rafe ihr seinen Gehstock reichte. Eine Mischung aus Angst und Verzweiflung spiegelte sich auf seiner Miene. »Gib ihn meinem Vater zurück«, bat er mit belegter Stimme. »Er hat meinem Großvater gehört.«

»Aber …« Oh . Das stimmte nicht. Karl hatte ihn erst vor drei Tagen geschnitzt. Rafe zog eine Schau ab. Er hatte einen Plan.

Sie holte zittrig Luft. »Tu’s nicht«, flüsterte sie, wobei ihre Angst im Gegensatz zu ihm nicht aufgesetzt war.

Nun ließ Rafe sich vollends auf den Boden sinken. »Sag Gideon, ich stehe für immer in seiner Schuld, weil er uns in dieser Nacht gerettet hat.«

Mercys Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich bückte, um ihn wieder hochzuziehen. »Bitte, Rafe, nicht.« Sie versuchte, ihm den Stock wieder in die Hand zu drücken, doch er weigerte sich, ihn entgegenzunehmen.

»Behalt ihn«, stieß er barsch hervor. »Vielleicht wirst du ihn eines Tages brauchen.«

In diesem Moment registrierte sie eine Bewegung hinter Ephraim. Gideon war aus dem Wald getreten und näherte sich Ephraim geräuschlos. In dieser Sekunde verstand sie.

Wenn Ephraim auf Rafe zielte, war eine Waffe weniger auf Farrah gerichtet, trotzdem lag sein Zeigefinger immer noch auf dem Abzug der Pistole. Wenn es mir gelingt, Ephraim noch wütender zu machen, richtet er den Revolver vielleicht auf mich. Dann könnte Gideon seinen Schuss abgeben, und Farrah wäre in Sicherheit.

Aber, verdammt, er zielte nach wie vor auf Rafe. Wieder spürte sie die Panik in ihrem Innern und grub die Nägel tief in ihre Handfläche. Denk nach. Denk nach. Du musst bereit sein. Rafe trägt wenigstens Schutzkleidung. Farrah nicht.

»Runter mit dem beschissenen Helm«, befahl Ephraim.

Verdammt.

Rafes Mundwinkel hob sich. »Ich dachte mir fast, dass das kommen wird.« Das Gewicht auf ein Knie gestützt, löste Rafe den Riemen seines taktischen Helms. »Sonst noch was?«

Ephraim, der sich voll und ganz auf Rafe konzentrierte, merkte nicht, dass Gideon sich bis auf einen guten halben Meter genähert hatte und auf den Revolver in Ephraims Linker zielte, der direkt auf Rafes Kopf gerichtet war. Mercys Blick glitt zu Rafes Pistole auf dem Boden, doch sie war außerhalb ihrer Reichweite. Ihr blieb nur der Gehstock.

Behalt ihn. Vielleicht wirst du ihn eines Tages brauchen.

… weil ich Sie am Flughafen aus dem Rollstuhl heraus nur mit meinem Gehstock zu Fall gebracht habe.

O Gott! Ernsthaft?, hätte sie am liebsten geschrien. Das war Rafes Plan? Sie sollte Ephraim mit dem Stock eins überbraten, während Gideon dafür sorgte, dass er Farrah nicht länger die Pistole an die Schläfe hielt?

Es sah ganz danach aus.

Mercys Hände zitterten, als sie sie fest um den Stock legte und einen Blick auf Farrah riskierte, deren zusammengekniffene Augen verrieten, dass sie etwas ahnte.

»Sag Auf Wiedersehen, Mercy«, höhnte Ephraim lächelnd. »Aber mach’s kurz.«

Sein Lächeln verflog, als Gideon Ephraims Handgelenk packte und es in einem ungesunden Winkel verdrehte, der Ephraim vor Schmerz aufheulen ließ. Reflexartig öffnete er die Hand, sodass ihm die Waffe entglitt. Wie befürchtet, löste sich ein Schuss, doch statt Farrah zu treffen, schlug die Kugel in die Straße ein, sodass Asphaltfetzen wild umherflogen. Wie auf Kommando ließ Farrah sich fallen, während Mercy ausholte und den Stock auf Ephraims anderes Handgelenk niedersausen ließ. Sie hörte einen lauten, animalischen Schrei …

Der aus ihrem eigenen Mund drang, als sie mit dem Stock auf seinen Kopf, seine Brust, sein Gesicht einschlug, wieder und wieder und wieder.

Dunsmuir, Kalifornien

Mittwoch, 19 . April, 17 .20  Uhr

Rafe stemmte sich auf die Knie und riss Burton den Revolver aus den schlaffen Fingern. All das passierte innerhalb von nicht einmal zwei Sekunden, doch es war noch nicht vorüber.

Mercy brüllte aus Leibeskräften und schlug mit dem Gehstock wie von Sinnen auf Burton ein, mit einer Brutalität, in der sich allem Anschein nach all die Gefühle entluden, die sich als Resultat seines abscheulichen Missbrauchs in ihr angestaut hatten.

Wie erstarrt stand Gideon daneben und verfolgte jede einzelne Bewegung seiner Schwester, die sich förmlich in eine Trance lodernder Wut gedroschen hatte. Rafe rief seinen Namen, doch Gideon schien in eine andere Zeit, an einen anderen Ort versetzt zu sein.

Oh. O nein! Zu spät erkannte er, dass Gideon jenen Mann vor sich sah, der ihn in der Nacht seines dreizehnten Geburtstags halb zu Tode geprügelt hatte – jener Mann, der seine Mutter und seine Schwester brutal vergewaltigt hatte. O Gideon, es tut mir so leid . Gideon hatte gedacht, er würde damit fertigwerden, aber … wer könnte das schon?

So sehr Rafe die Vorstellung gefiel, dass Mercy auf Burton einschlug, bis er starb, so wusste er zugleich, dass sie es später bitter bereuen würde. Viele verdienten es auch, Burton bestraft zu sehen – dieser Mann musste mit all seinen Opfern und Gräueltaten konfrontiert werden, was nicht passieren würde, wenn Mercy ihn erschlug.

»Mercy!« Er schnellte vor, bekam sie jedoch nicht zu fassen, solange er sich auf den Knien befand.

Auch Farrah wollte Mercys Arm packen, was ihr jedoch nicht gelang, da ihre Handgelenke immer noch mit Klebeband umwickelt waren. Stattdessen musste sie nach hinten ausweichen, als Mercy, blind in ihrer unfassbaren Rage, ein weiteres Mal ausholte und den Gehstock auf Burton niedersausen ließ.

»Hilf mir auf«, presste Rafe hervor, woraufhin Farrah ihm ihre Schulter bot, damit er sich daran hochziehen konnte. Er bekam den Gehstock mitten im Schwung zu fassen, nahm ihn an sich und reichte ihn Farrah, die ihn zu Boden legte und dann zurücktrat, als sei er eine Schlange, die sich auf dem Asphalt wand. Sie ließ sich auf die Knie sinken und begann am ganzen Leib zu zittern, als ihr vollends bewusst wurde, dass sie in Sicherheit war.

Rafe hingegen wandte sich Mercy zu, drehte sie an den Schultern um, schloss sie in die Arme und begann sie sanft zu wiegen, wobei er das Gewicht auf sein gesundes Bein verlagerte. Nach einem Moment nahm er ihr vorsichtig den Helm ab, strich ihr übers Haar und drückte ihren Kopf an seinen Hals, während er ihr leise beteuerte, dass alles gut werden würde. Dass sie es geschafft hätten. Dass sie ihm Einhalt geboten hätten.

Dass sie, Mercy, es geschafft hätte.

Doch er hatte nicht das Gefühl, dass sie etwas davon mitbekam. Stattdessen wurde sie von unkontrollierten Schluchzern geschüttelt, und dann gaben ihre Beine unter ihr nach, sodass sie beide auf den kalten Boden sanken.

Hinter sich hörte er das Klicken von Handschellen und Gideons heisere Stimme, die Burton über seine Rechte belehrte. Mercy zusammenbrechen zu sehen, hatte ihn offenbar aus seiner Trance gerissen, zurück in die Realität und zu seinen Pflichten als FBI -Agent.

Es war vorbei. Sie hatten es geschafft. Halb im Sitzen drehte er sich um, sodass er Gideon sehen und Mercy zugleich auf seinen Schoß ziehen konnte. Burton war auf den Knien, seine Hände in Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Blut strömte ihm übers Gesicht und … Rafe schluckte. Unter Mercys wutrasenden, wenn auch verdienten Hieben war sein Glasauge aus der Höhle gefallen.

Der Mann bot einen grauenvollen Anblick. Anders konnte man es nicht bezeichnen.

»Ist es vorbei?«, fragte Farrah leise und blickte Gideon an. »Bitte sag, dass es vorbei ist.«

Gideon nickte knapp. »Es ist …«, begann er, kam jedoch nicht dazu, die Frage zu beantworten, da Ephraim Burton unvermittelt hochschnellte, als ein leises Ploppen ertönte, dann kippte er unter ihren erschrockenen Blicken schlaff nach vorn.

Farrah schrie auf. Und begann zu würgen.

Denn die Hälfte von Burtons Schädel fehlte, und gräulich beige Hirnmasse spritzte wild umher.

Schockiert starrte Mercy Burton an. Nein, mehr als schockiert. Ihre Miene war vollkommen ausdruckslos, ihre Augen leer – dieselbe Art der Dissoziation, wie Rafe sie am Flughafen erlebt hatte. Hilflos drückte er sie an sich, ein wenig zu fest, um ihr den Schmerz zuzufügen, den sie brauchte, um sich aus ihrer Panik zu befreien.

»Mercy. Mercy!«, drängte er, doch er hatte jenen kurzen Moment in der Blase innerer Ruhe verpasst, den sie erwähnt hatte und den sie brauchte, um sich zu sammeln und die beginnende Panikattacke im Keim zu ersticken. Also hielt er sie weiter fest. Etwas anderes blieb ihm nicht zu tun. »Gideon?«

Auch Gideon starrte immer noch fassungslos auf Burtons Leiche. »Wer … wer hat ihn erschossen? Ich war’s nicht.«

In diesem Moment kam Amos mit dem Gewehr in der Hand von der anderen Seite des SUV herumgelaufen. Gideons Miene wurde steinern. »Amos, was zum Teufel sollte das? Ich hatte ihn im Griff«, bellte er.

»Mercy!«, schrie er, ohne Gideon zu beachten. »Runter mit ihr!« Eine Sekunde später lag Rafe am Boden, immer noch mit Mercy in seinen Armen und Amos über ihnen. In diesem Moment spürte Rafe, wie Amos’ Körper hochgerissen wurde und wieder zusammensackte, wie sie es zuvor bei Burton beobachtet hatten.

Was zum Teufel war hier los?

»Nein! O nein!« Gideon ließ sich auf die Knie fallen. »Amos? O mein Gott!

Ein lauter Schuss zerriss die Luft, allem Anschein nach von irgendwoher zwischen den Bäumen, hinter dem SUV , der am nächsten zu ihnen stand. Dort hat Daisy sich doch postiert. Was zur Hölle soll das? Wieso hat sie geschossen?

»Zieh ihn von mir runter«, stöhnte Rafe und versuchte, Amos wegzuschieben, doch der reglose Körper war unglaublich schwer. »Was ist passiert? Wer hat auf ihn geschossen? Daisy?« Er wusste nicht mehr, wen er eigentlich meinte, Burton oder Amos. Seine Gedanken überschlugen sich, und ihm schwirrte der Kopf vom Aufprall auf dem Asphalt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Gideon, anfangs noch wie betäubt, ehe seine Stimme in einen Befehlston umschlug. »Los, Farrah, schaff Mercy in den SUV . Hier läuft jemand herum und schießt.«

In diesem Moment hörte Rafe Daisys lauter werdende, atemlose Stimme, als sie angelaufen kam. »Der letzte Schuss kam von mir. DJ hat Burton erschossen. Er wollte auf Mercy schießen, aber Amos …« Entsetzt blickte sie auf Amos’ immer noch reglose Gestalt. »O Gott. Hat er ihn erschossen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verfiel sie in ihren gewohnten Aktivitätsmodus. »Ich hole den Erste-Hilfe-Kasten. Farrah, Liebes, du kommst mit mir. Gideon, zieh Amos von Mercy herunter. Ich bin gleich wieder hier.«

Rafe war immer noch leicht benommen vom Aufprall auf dem harten Boden, und Daisys wild entschlossene Energie machte es ihm unmöglich, ruhig und klar zu denken. »Amos? Ist alles in Ordnung?«

»Nein, natürlich ist nicht alles in Ordnung«, erwiderte Gideon knapp. »Er wurde angeschossen.«

Ach ja. Daisy hat es gesagt. Amos wurde angeschossen. Plötzlich löste sich das schwere Gewicht von seiner Brust, als Gideon Amos von ihm und Mercy herunterrollte. »O nein«, stöhnte Rafe. Blut lief aus einer Wunde an Amos’ Hals.

In diesem Moment kam Daisy mit dem Erste-Hilfe-Kasten angelaufen.

»Danke.« Gideon nahm ihn entgegen und klappte ihn auf. »Kannst du Schumachers SUV anders hinstellen? Zwischen unseren Wagen und die Bäume auf der anderen Straßenseite. Ich will, dass wir in Deckung sind, falls DJ zurückkommen sollte. Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller, deshalb müssen wir von beiden Wagen geschützt sein.«

Daisy rannte ohne weitere Fragen los.

»DJ ?«, wiederholte Rafe, unsicher, ob er sich verhört hatte.

»Das hat sie gesagt. Warten wir, bis sie zurückkommt. Als Erstes muss ich Amos’ Wunde versorgen, und ich bin …« Gideon verzog das Gesicht. »Es geht mir nicht besonders gut.«

Wenig später standen die beiden Geländewagen so, dass sie ihnen ausreichend Deckung boten. Daisy kam zurückgelaufen und ließ sich neben Gideon auf die Knie fallen, der sie erschüttert ansah. »Erklär mir alles, bitte. Aber langsam.«

»Amos hat DJ als Erster bemerkt«, begann Daisy, nahm Gideons Platz ein und übte Druck auf Amos’ Wunde am Hals aus. »Das war der Name, den Amos gesagt hat, als Burton umkippte. Dann habe ich ihn auch gesehen. Er trat zwischen den Bäumen heraus und zielte auf Rafe und Mercy. Deshalb ist Amos so schnell losgelaufen und hat sich über euch geworfen. Der Schuss, den ihr gehört habt, kam von mir, und ich habe ihn auch getroffen, aber es hat nicht genügt, um ihn niederzustrecken. Da hatte er Amos schon getroffen und offenbar beschlossen, sich zurückzuziehen. Er ist auf einer Geländemaschine in den Wald entkommen und dürfte weg sein. Zumindest für den Moment.«

Rafe starrte sie an, während sein Gehirn wie in Zeitlupe zu arbeiten schien. »DJ Belmont? Der Mercys Mutter getötet hat?«

Daisy nickte grimmig. »Und der Amos unwissentlich zur Flucht verholfen hat.«

»Und woher weißt du, dass du ihn getroffen hast?«, fragte Gideon.

»Weil ihm das Gewehr aus der Hand gefallen ist. Er hat es aufgehoben und ist zu der Geländemaschine gerannt. Hätte er gekonnt, hätte er bestimmt weiter geschossen, deshalb nehme ich an, dass die Verletzung schlimm genug war. Aber tot ist er nicht. Leider. Ist Mercy verwundet?«

Rafe hatte sie bereits in Augenschein genommen. »Ich glaube nicht. Das hier ist eine ihrer Zombie-Episoden, wie sie es nennt.«

Behutsam streichelte Daisy Mercy das Gesicht. »Liebes?«

Keine Reaktion. Scheiße.

Tu etwas. Zumindest für Amos . Rafe klopfte seine Taschen nach seinem Handy ab, um einen Krankenwagen zu rufen, doch Gideon hatte bereits die Einsatzzentrale am Ohr, gab ihren Standort durch und legte eilig auf. »Ich muss meine Leitung frei halten. Wir haben andere Probleme.«

Rafe runzelte die Stirn. »Andere Probleme?«

»Hunter und ich haben das SWAT -Team etwa eine Viertelmeile auf der anderen Seite der in den Koordinaten angegebenen Stelle gefunden. Vier der sechs Männer sind tot, die beiden anderen schwer verletzt. Molina wurde ebenfalls verwundet. Tom ist gerade bei ihnen.«

»Was ist mit Damien? Und mit André?«, fragte Rafe.

»Es geht ihnen gut. Gerade als ich zu euch zurücklaufen wollte, habe ich den Schuss gehört, den Ephraim auf André abgegeben hat, aber er hat ihn nicht getroffen. Damien war immer noch im Wohnwagen. André wollte Burton nachlaufen, weil er Farrah in seine Gewalt gebracht hatte. André meinte, Burton hätte sie im Wagen von der Straße abgedrängt und dann unter Drogen gesetzt. Kurz bevor ich kam, wollte Burton offenbar André und Damien erschießen, aber Farrah hat ihm wohl einen Tritt verpasst, der beinahe in die Eier gegangen wäre, aber sie hat ihn zumindest so erwischt, dass er einen Moment lang das Gleichgewicht verloren hat. Danach hat er sie gepackt und hierhergebracht.«

Rafe überlief ein Schauder, als die Angst um seinen Bruder allmählich verebbte. »Was ist mit Agent Schumacher?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits zu kennen glaubte und ihm davor graute. »Sie wollte um den Wagen herumgehen und Ephraim von hinten stellen, aus der Richtung, aus der du gekommen bist. Aber sie ist nicht zurückgekommen.«

Gideon schüttelte den Kopf. »Sie ist ebenfalls tot. Ich habe ihre Leiche gefunden, als ich Ephraim nachgelaufen bin. Ich fürchte, DJ hat auch sie getötet. Ephraims Gewehr hatte keinen Schalldämpfer, und die goldfarbene Pistole, mit der er einige seiner anderen Opfer getötet hat, hat Farrah mit dem Fuß unter den Wohnwagen befördert.«

Daisy blickte über die Schulter zum Geländewagen hinüber, wo Farrah blicklos ins Leere starrte. Auch sie stand noch unter Schock. Immerhin war Andrés Zustand soweit okay.

»Gut gemacht, Farrah!«, erklärte Daisy, dann runzelte sie die Stirn. »Aber wieso hat DJ Agent Schumacher getötet? Und Burton? Und weshalb wollte er Mercy töten?«

»Schumacher ist ihm offenbar in die Quere gekommen, so wie Molina und ihre Männer«, erwiderte Gideon grimmig. »Und hinter Mercy war er her, weil er seine Aufgabe beim ersten Mal nicht erledigt hat. Ich glaube, Mercy hat recht mit ihrer Annahme, und Ephraim wusste tatsächlich lange Zeit nicht, dass sie noch am Leben war. Für mich sieht es so aus, als hätte DJ gelogen und behauptet, sie sei tot, und jetzt hat er Angst, dass die Gemeinschaft die Wahrheit erfährt. Hättest du ihn nicht daran gehindert, hätte er wahrscheinlich weiter geschossen. Ich wäre ein nächstes Ziel gewesen, aber natürlich hätte er versucht, uns alle zum Schweigen zu bringen, weil wir wissen, dass Mercy nicht tot ist. Als Vorsichtsmaßnahme. Der Einzige, der mit dieser Information nach Eden hätte zurückkehren können, ist Burton, weil wir anderen ja nicht wissen, wo Eden sich befindet. Und nun, da Burton tot ist, kann er es uns nicht mehr verraten.«

Rafe spürte, wie Mercy in seinen Armen erschauderte, dann sah sie auf und blinzelte, langsam wie eine Eule. »Ich war wieder weg?«

Rafe küsste sie auf die Stirn. »Burton ist tot.«

»Es war DJ «, fügte Gideon hinzu.

Mercy schloss die Augen. »Er versucht, seine Spuren zu verwischen?« Sie klang resigniert, aber keineswegs überrascht.

»Sieht ganz danach aus«, bestätigte Rafe.

»Oh!« Der Schrei kam von Farrah, die aus dem FBI -Geländewagen gesprungen war und losrannte. »André!«

Rafe war selbst zum Kriechen zu erschöpft, deshalb rutschte er auf dem Hosenboden zur vorderen Stoßstange, doch es war die Mühe wert gewesen, denn Damien und André traten zwischen den Bäumen hervor und überquerten die Straße, langsam und schlurfend wie zwei Schlafwandler. André hatte einen Arm um Damiens Taille gelegt, um ihn zu stützen, in der anderen hielt er eine goldfarbene Pistole, und ein Gewehr hing an einem Gurt über seinen Rücken.

Mit einem schmerzerfüllten Laut sank Damien neben Rafe auf den Asphalt, während André die goldfarbene Pistole fallen ließ, um Farrah in die Arme schließen zu können, deren glücklicher Aufschrei wie Musik in ihrer aller Ohren klang.

Rafe legte seinem Bruder den Arm um die Schultern, ließ jedoch sofort wieder los, als dieser stöhnte. »Entschuldige, Damien«, sagte er und zuckte beim Anblick der offenen Wunde auf dem Kopf seines Bruders zurück. »Ist das beim Aufprall passiert?«

Doch statt einer Antwort starrte Damien entsetzt auf Amos. »Was ist passiert?«

»Er wurde angeschossen, als er mich beschützen wollte«, sagte Mercy leise. »Wo hast du das Gewehr her, André?«

»Und die goldfarbene Pistole von der Bordellbesitzerin aus Santa Rosa?«, wollte Rafe wissen.

Daisy, die sich immer noch um Amos’ Wunde kümmerte, blickte kurz auf. »Das sieht wie das Gewehr aus, mit dem DJ geschossen hat.«

»Es sieht nicht bloß so aus«, warf André ein, »sondern das ist es auch, wenn DJ dieser hellblonde Typ ist, der auf euch gefeuert hat.«

»Das ist er«, bestätigte Daisy.

»Farrah hat die Pistole unter den Wohnwagen gestoßen, als Burton mich damit erschießen wollte«, fuhr André fort, ohne Farrah loszulassen. »Als Gideon aufgetaucht war und Damien und mir die Fesseln losgebunden hatte, bin ich unter den Wohnwagen gekrochen und habe sie mir geholt. Und ich konnte sie gut gebrauchen, denn in dem Moment habe ich den Blonden mit dem Gewehr am Waldrand stehen sehen. Er hat zweimal abgedrückt, bevor ihm jemand einen Schuss in die Schulter verpasst hat.«

»Das war Daisy«, warf Rafe ein.

»Er hat sich mit dem Gewehr auf die Geländemaschine geschwungen und ist davongefahren«, sagte Daisy.

»Allerdings hat er es fallen lassen, nachdem ich ihm mit der goldenen Pistole in den Arm geschossen habe«, warf André ein. »Zuerst hat er gewendet und wollte es sich holen, aber sein Arm hing ganz schlaff herunter, als könnte er ihn nicht bewegen. Der erste Schuss, also Daisys, hat ihn wohl in der linken Schulter erwischt, und meine Kugel ging in den linken Arm. Ich vermute, er ist Linkshänder, weil er danach völlig unkoordiniert herumgekurvt ist, als könnte er die Maschine mit der Rechten nicht richtig halten.«

»Hast du gesehen, in welche Richtung er gefahren ist?«, fragte Rafe.

André nickte. »Er dürfte eine Blutspur hinterlassen haben. Ich wollte ihm folgen, aber mir war zu schwindlig, verdammt.«

Gideon wählte ein weiteres Mal den Notruf, damit DJ Belmont und seine Geländemaschine zur Fahndung ausgeschrieben wurden, ehe er nachhakte, wann der Krankenwagen eintreffen würde.

Mercy blickte wieder Amos an, dessen Atmung besorgniserregend flach geworden war. »Wie lange dauert es noch, bis Hilfe kommt, Gideon?«, drängte sie, als er aufgelegt hatte.

»Sie schicken einen Rettungshubschrauber, der bald hier sein sollte«, sagte Gideon. »Sie fliegen Amos und die zwei angeschossenen Kollegen ins Krankenhaus, für Agent Molina und Damien schicken sie einen Krankenwagen.«

»Ich sollte mit Amos fliegen«, sagte Mercy mit dünner Stimme. »Er ist verletzt worden, weil er mich retten wollte. Er darf nicht sterben, ich habe ihn doch gerade erst wiedergefunden.«

»Noch atmet er«, meinte Daisy, »deshalb darfst du die Hoffnung nicht verlieren.«

Sacramento, Kalifornien

Mittwoch, 19 . April, 22 .30  Uhr

Ein plötzlicher Schmerz ließ Mercy zusammenzucken. Sie sah das kleine Mädchen an, das ihre Hand umklammert hielt, als hänge sein Leben davon ab. Vielleicht ist es ja sogar so. Abigail starrte auf das Schild an den Türen zur Intensivstation des UC Davis. Ihr Körper war so angespannt, dass Mercy fürchtete, er zerberste jeden Moment. Ich verstehe dich so gut, meine Süße.

»Was bedeutet das?«, fragte Abigail so leise, dass Mercy es selbst in der Stille des Familienwarteraums der Intensivstation kaum hören konnte.

Langsam ließ Mercy sich auf ein Knie sinken, das sich steif und wund anfühlte, nachdem sie es sich bei Amos’ Rettungsversuch aufgeschürft hatte. Er hat mir das Leben gerettet.

Und nun kämpfte er um sein eigenes. Durch den enormen Blutverlust hatte er praktisch sofort das Bewusstsein verloren, als die Kugel aus DJs Gewehr in seinen Hals eingedrungen war. Daisy war an seiner Seite geblieben, als man ihn mit dem Hubschrauber nach Sacramento geflogen und sofort in den OP gebracht hatte. In dieser ganzen Zeit hatte er kein einziges Mal das Bewusstsein wiedererlangt, was leider kein gutes Zeichen war.

Mercy hob ihre und Abigails miteinander verschlungene Hände hoch, um einen Kuss auf die Fingerknöchel des kleinen Mädchens zu drücken. »Intensivstation bedeutet, dass dort Patienten betreut werden, auf die die ganze Zeit jemand genau aufpassen muss.«

Es war gewiss nicht der richtige Ort für eine Siebenjährige, doch Abigail sei nicht davon abzubringen gewesen, hatte Irina gesagt, die sie selbst hergebracht hatte … gemeinsam mit Karl, der seine Frau nach allem, was vorgefallen war, keine Sekunde aus den Augen ließ. Der sonst so gastfreundliche und gütige Mann war immer noch blass und zittrig, obwohl sein Sohn sich halbwegs gut fühlte, nachdem die Wirkung von Ephraims Medikament allmählich nachließ. Damien hatte eine Gehirnerschütterung erlitten, war jedoch nach einer kurzen Untersuchung nach Hause entlassen worden, wo seine Frau ihm Irina zufolge nicht von der Seite wich.

Mercy nahm an, dass Irina genauso die Fassung verlieren würde wie Karl, sobald ihr das Ausmaß der Geschehnisse erst richtig bewusst wurde. Für den Moment befand sie sich in einem Zustand der gnädigen Benommenheit, die sie davor bewahrte, beim Anblick von Abigails angstverzerrtem Gesicht in Tränen auszubrechen. Das kleine Mädchen schien geradezu an ihren Lippen zu hängen, als glaubte es jedes Wort, das Mercy sagte, während es zugleich verzweifelt hoffte, dass es jene Worte waren, die zu hören sie sich so sehnlich wünschte.

»Wird er sterben?«, flüsterte Abigail.

Mercy hätte beinahe Nein gesagt, doch sie wollte Abigail nicht belügen. Das hatten schon zu viele Menschen getan. »Ich hoffe nicht«, antwortete sie stattdessen und strich Abigail eine Haarsträhne hinters Ohr. »Papa ist ein starker Mann.« Das stimmte. »Er liebt dich sehr und wird darum kämpfen, hier bei dir zu bleiben, aber wenn die Verletzungen zu schwer sind …« Mit einem Seufzer löste sie ihre Hand aus Abigails und zog das Mädchen an sich. Ohne zu zögern, schlang Abigail ihr die Arme um den Hals und klammerte sich an sie. »Sollte er nicht wieder aufwachen, liegt es nicht daran, dass er nicht für immer bei dir bleiben möchte. Verstehst du, was ich damit meine?«, fragte Mercy.

Abigail nickte kurz, doch Mercy spürte, wie sie zitterte. Sie weinte. Ach, Schatz . »Es tut mir leid, Abigail. So unendlich leid.«

Abigail schüttelte den Kopf. »Du warst ja nicht diejenige, die auf ihn geschossen hat«, sagte sie in Mercys Haar hinein.

Nein, das habe ich nicht . »Manchmal sagt man ›Tut mir leid‹, weil man sich für etwas entschuldigen will, manchmal weil man etwas bedauert. Ich hatte Letzteres gemeint.«

Wieder nickte Abigail kurz. »Können wir jetzt reingehen?«

Mercy löste sich von Abigail und wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Meine Mama hat das bei mir auch immer gemacht«, sagte sie leise. »Dann hat sie mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Darf ich das bei dir auch tun?«

Abigail lehnte sich vor, um Mercy ihre Stirn hinzuhalten. Mercy musste ein Lächeln unterdrücken, als sie einen Kuss darauf drückte. »Dein Papa wäre sehr stolz auf dich. Du bist ein sehr tapferes Mädchen.«

»Du auch. Du hast geholfen, deine Freundin zu retten. Das hat sie gesagt.«

Farrah und André waren nach Granite Bay gebracht worden, um sich dort im Schoß der restlichen Sokolov-Familie ein wenig auszuruhen. Sie fühle sich wie zu Hause, hatte Farrah Mercy geschrieben.

»Farrah ist meine beste Freundin, deshalb ist es doch klar, dass ich geholfen habe. So etwas tut man für die Menschen, die man liebt.«

»So wie mein Papa dich gerettet hat.«

Mercy schluckte. »Ja, genau.« Und im Zuge dessen hatte er auch Rafe gerettet, was ihm einen Platz am Tisch der Sokolovs auf Lebenszeit einbrachte. Sofern er aufwacht. Bitte, Amos, wach auf. Abigail braucht dich.

Ich brauche dich.

»Wird er …«, begann Abigail und wurde stocksteif. »Wird er überall von Blut bedeckt sein?«

Mercys Herz verkrampfte sich. »Nein, Schatz. Die haben ihn sauber gemacht, aber um den Hals hat er einen Verband, und überall sind Apparate und Schläuche, was ziemlich beängstigend aussieht.«

Abigail nickte ruhig. »Das hat Miss Irina mir schon gesagt. Sie meinte, er hätte einen Schlauch im Mund, damit er besser atmen kann.«

Wieder küsste Mercy Abigails Stirn. Die Haut des Mädchens fühlte sich klamm vor Angst an. »Das stimmt, und ich will dich nicht belügen, es sieht wirklich alles ziemlich Furcht einflößend aus. Ich … ich hatte auch Angst, Abigail, und das ist immer noch so.« Deshalb war Rafe ihr nicht von der Seite gewichen, als sie in Amos’ Zimmer auf der Intensivstation gegangen war, wo er auch jetzt auf sie beide wartete, sein verletztes Bein auf dem Sessel neben Amos’ Bett.

»Hast du Angst, dass er stirbt?«

Du darfst sie nicht anlügen, dachte Mercy. »Ja«, flüsterte sie. »Aber ich habe auch Hoffnung, und die solltest du auch haben, Abigail. Und sollte es hier zu schlimm für dich werden, und du möchtest lieber zu Karl und Irina zurück, kannst du das gerne tun. Niemand wäre dir deswegen böse, vor allem dein Papa nicht, versprochen.«

Abigail reckte trotzig das Kinn. »Ich will ihn sehen.«

»Dann machen wir das jetzt.« Mercy stand auf, nahm Abigails Hand und drückte mit der anderen auf den Türöffner zur Intensivstation.

Armer Rafe. Sie selbst hatte leichte Schmerzen, doch bei ihm sah die Sache völlig anders aus. Beim Eintreffen im UC Davis hatte einer der Ärzte ihn untersucht, weil zu befürchten stand, die durch die Schussverletzung vor sechs Wochen zerfetzten Bänder könnten neuerlich Schaden genommen haben, und Rafes Miene hatte verraten, dass auch er diese Befürchtung hatte, auch wenn er sich bemüht hatte, sich nichts anmerken zu lassen. Der heutige Tag würde ihn in seinem Physio-Therapieplan ein großes Stück zurückwerfen, wodurch sich auch seine Rückkehr in den aktiven Dienst noch weiter verzögern würde.

Sofern er überhaupt jemals wieder als Polizist arbeiten konnte. Seine Besorgnis war Mercy mächtig an die Nieren gegangen. Doch nun stand erst einmal Abigail an erster Stelle. Eine Schwester öffnete ihnen die Tür und führte sie zu Amos’ Zimmer. Sie hatten eine Sondergenehmigung gebraucht, und Irina hatte all ihre Beziehungen spielen lassen, damit man ihnen eine Stunde Besuchszeit gewährte. Abigail drückte Mercys Hand ganz fest und hielt sich dicht neben ihr, als sie das Krankenzimmer betraten.

Rafe blickte mit einem müden Lächeln auf. »Hi, Abigail.«

Abigail nickte nur. Ihr Blick hing wie gebannt auf Amos im Bett, dessen Brust sich mithilfe des Beatmungsgeräts rhythmisch hob und senkte. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Laut drang hervor, und sie war sogar noch bleicher als zuvor.

Mercy trat ans Bett und berührte mit ihrer freien Hand Amos’ Finger. »Abigail ist hier«, sagte sie leise zu ihm. »Sie ist so tapfer, Amos. Du hast ein wunderbares Mädchen großgezogen und bist so ein wunderbarer Papa.«

»Kann er uns hören?«, flüsterte Abigail.

Mercy lächelte sie an. »Vielleicht. Falls er es kann, sollten wir ihn wissen lassen, dass wir hier sind, okay?«

Abigail trat neben Mercy. »Hi, Papa. Ich … bin hier. Ich bin hier, Papa. Hoffentlich kannst du mich hören.«

»Ich glaube schon«, meinte Rafe leise. »Als ich mich von meiner Operation erholt habe, konnte ich hören, wie Mercy die ganze Zeit mit mir gesprochen hat.«

Abigail sah Rafe an, der auf der anderen Seite von Amos’ Bett saß, sorgsam darauf bedacht, das halb von der Beatmungsmaske verdeckte Gesicht nicht zu genau zu betrachten. »Und was hat sie gesagt?«, fragte sie.

»Ich glaube, meistens hat sie mir vorgelesen.«

Mercy sah ihn überrascht an. »Das hast du gehört?«

»Ja. Was genau du vorgelesen hast, weiß ich zwar nicht mehr, aber ich habe deine Stimme gehört, und das hat mir Halt gegeben.«

»Es war ein Buch über Astronomie«, sagte Mercy und setzte sich auf die andere Bettseite, wobei sie einen erschöpften Seufzer unterdrücken musste. »Komm, Abigail.« Sie tätschelte ihr Knie. Abigail kletterte auf ihren Schoß und legte den Kopf an Mercys Schulter. »Es war das einzige Buch, das ich in der Handtasche hatte. Ich hatte es für die Tochter meines Halbbruders John gekauft, die Astronautin werden will.«

Abigail sah sie fragend an. »Was ist das?«

Ohne auf Rafes verblüffte Miene einzugehen, antwortete sie ruhig, da sie ganz genau wusste, was man Abigail in der Schule beigebracht – und welche Lügen man ihr aufgetischt hatte: »Das ist jemand, der ins Weltall fliegt. Es gab sogar Männer, die zum Mond geflogen sind, aber das war lange vor meiner Geburt. Ich bin noch nicht mal sicher, ob dein Papa damals schon auf der Welt war.«

Abigail schürzte die Lippen. »Aber das stimmt nicht. Meine Lehrerin sagt, das ist nur im Film passiert. In Hollywood. Die Regierung lügt.«

»Was hat sie sonst noch als Lüge bezeichnet?«, fragte Mercy geduldig, als Rafe nach Luft schnappte.

»Telefone. Aber … na ja, die gibt’s ja wirklich.« Abigail runzelte nachdenklich die Stirn. »Bigfoot? Einer der Jungs hat behauptet, er lebt im Wald und versteckt sich dort.«

Mercy konnte sich ein Lachen nicht verbeißen, und Rafe hatte ebenfalls Mühe, nicht breit zu grinsen. »Tja, also bei Bigfoot bin ich mir auch nicht so sicher«, sagte sie und strich Abigail das Haar aus der Stirn. »Wahrscheinlich gibt es ihn tatsächlich nicht, aber Astronauten gibt es. Ganz sicher sogar. Ich kann dir Bücher geben, dann kannst du es selbst nachlesen.«

Abigail ließ sich wieder gegen Mercys Schulter sinken. »Kannst du dann jetzt auch Papa vorlesen?«

Mercy spielte mit Abigails Zopfbändern herum, dann zog sie sie ab und strich ihr mit der Hand über die Wellen. So wie Mama es bei mir immer gemacht hat . »Wie wär’s, wenn ich euch beiden etwas vorlese?«

Abigail gähnte. »Was für ein Buch hast du denn? Ich habe Ramona, die Landplage in der Bibliothek gelesen. Gerade als ich mit dem nächsten anfangen wollte, kam Irina. Und dann das FBI

»Lass mal sehen.« Mit einer Hand öffnete Mercy ein Browser-Fenster auf ihrem Handy und suchte nach dem nächsten Band der Serie, der sich mühelos finden ließ. »Das hier? Damit wolltest du gerade anfangen?«

Abigail sog scharf den Atem ein und starrte auf das Display. Ihr Zeigefinger verharrte direkt über der Oberfläche aus Angst, sie zu berühren. »Ja. Und ist das in deinem Telefon?«

»Noch nicht, aber gleich.«

Abigail starrte auf das Handy. »Aber wie passt es da rein?«

Kurz überlegte Mercy, wie sie dem Mädchen den Begriff »Daten« erläutern sollte, doch sie war zu müde dafür. »Kann ich dir das später erklären? Für den Moment kannst du dich ja vielleicht damit zufriedengeben, dass ganz viele Bücher in ein Handy passen.«

»Wie viele?«

Mercy blinzelte. »Mindestens ein paar Tausend. Rafe?«

»Mindestens.« Rafe hatte bereits die Suchmaschine aktiviert. »Rund zwanzigtausend, mehr oder weniger.«

Abigails Augen wurden so groß wie Untertassen. »Wirklich?«

»Wirklich.« Mercy war heilfroh, dass das Handyverbot auf der Intensivstation gelockert worden war und sie das Buch herunterladen konnte. »Willst du vorlesen, oder soll ich das übernehmen?«, fragte sie Abigail.

Abigail sah ihren Vater an. »Ich. Er soll hören, dass ich hier bin. Kann ich dein Handy halten?«

»Natürlich.« Mercy zeigte ihr, wie man über das Display wischte, und staunte über die Fähigkeit des kleinen Mädchens, im Handumdrehen Neues zu erlernen. Sie zog sie an sich, drückte ihr einen Kuss aufs Haar und lauschte dann ihrer klaren, kräftigen Stimme.

Die jedoch immer leiser und schläfriger wurde. Irgendwann musste Mercy ihr Handy retten, als es Abigails Kinderhand zu entgleiten drohte. »Ich muss sie zu deinen Eltern zurückbringen«, sagte Mercy leise zu Rafe und stellte fest, dass auch er eingenickt war.

»Wir sind hier«, sagte Irina, die mit Karl an ihrer Seite im Türrahmen stand. »Wir haben nur gewartet, bis sie fertig ist, damit wir sie nach Hause bringen können.« Mit einem liebevollen Blick auf den schlafenden Rafe trat sie neben den Sessel und ging in die Hocke. »Abigail?« Sie berührte das kleine Mädchen vorsichtig an der Schulter. »Komm. Zeit, nach Hause zu fahren und in einem richtigen Bett zu schlafen, ja?«

Abigail murmelte etwas Unverständliches und schmiegte sich in Karls Arme, als er sie hochhob.

»Du kannst morgen wiederkommen«, sagte er leise und lächelte Mercy zittrig zu. »Wie geht es dir?«

»Gut. Ein bisschen ramponiert, aber gut.« Sie warf Amos einen Blick zu, dessen Zustand unverändert war. »Ich habe das Gefühl, als würde mir allmählich bewusst, was eigentlich passiert ist, aber für den Moment geht es mir gut.« Sie stellte fest, dass sie dreimal nacheinander »gut« gesagt hatte. »Na ja, eigentlich vielleicht doch nicht ganz so gut.«

Karl hielt Abigail auf einer Hüfte und strich ihr mit der freien Hand über die Wange. »Du hast dich heute tapfer geschlagen, hast gegen Ephraim aufbegehrt und dich deiner größten Angst gestellt. Und gesiegt.«

Wieder fiel ihr Blick auf Amos. »Mag sein, aber zu welchem Preis?«

»Er wird es schaffen«, erklärte Irina entschieden. »Du musst nur daran glauben, ljubimaja

»Was heißt das eigentlich? Ljubimaja? «

»Es bedeutet, dass du geliebt wirst«, antwortete Karl.

Mercys Augen brannten. Nicht schon wieder. Nein, sie würde jetzt nicht wieder weinen, deshalb zwang sie sich zu einem Lächeln. »Spasibo«, erwiderte sie mit der Aussprache, die sie im Internet recherchiert hatte, erhob sich und umarmte Irina. »Danke.«

Irina strahlte. »Du hast es ganz korrekt ausgesprochen. Das ist schön. Ich nehme an, du willst die Nacht über hierbleiben.«

»Ja. Ich will nicht, dass er allein ist, wenn er aufwacht.«

»Dann soll Rafe auch bleiben. Er wird sich ohnehin weigern, mit uns zu gehen, deshalb wecke ich ihn gar nicht erst.«

Sie und Karl verließen mit Abigail das Krankenzimmer, als kurz darauf Gideon erschien. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie alle ihre Aussage bei Agent Molinas Stellvertreter gemacht hatten.

Fünf Agents waren tot: vier Mitglieder des SWAT -Teams sowie Agent Schumacher. Alle getötet von DJ Belmont. Der immer noch frei wie ein Vogel war.

Noch hatte sie sich nicht gestattet, allzu viel über ihn nachzudenken, und auch jetzt fehlte ihr die psychische Stärke dafür, deshalb legte sie jegliche in seine Richtung gehenden Gedanken in eine Kiste und stellte sich vor, wie sie sie vernagelte. Immer eines nach dem anderen. Zuerst war Amos an der Reihe, dann konnte sie ihr Augenmerk auf DJ richten, der zweifellos wieder auftauchen würde. Das FBI hatte Wachleute vor der Intensivstation postiert, damit sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, deshalb konnte sie sich auf die Menschen konzentrieren, die sie liebte.

Dem armen Gideon war dieser Luxus verwehrt geblieben. Molinas Nummer zwei hatte ihn mit Fragen über DJ traktiert und Gideon stundenlang Formulare ausfüllen und Berichte schreiben lassen. Bislang hatte er keine ruhige Minute gehabt.

»Hey«, sagte sie. »Möchtest du dich setzen?« Sie deutete auf ihren Sessel. Ihr Bruder sah fürchterlich aus, ausgezehrt und am Rande der Erschöpfung.

Er zog einen Plastikstuhl heran und ließ sich darauf fallen. »Nein, nein, bleib nur sitzen. Ich kann ohnehin nicht lange bleiben, sondern wollte nur kurz sehen, wie es ihm geht.« Er nickte in Richtung Amos.

»Unverändert. Der Arzt meinte, sie hätten die Rupturen an der Arterie beseitigen können, allerdings wissen sie nicht, ob Nerven geschädigt wurden. Zum Glück wurde das Rückenmark nicht getroffen. Ein Zentimeter weiter Richtung Mitte, und er wäre jetzt tot. Sie machen weitere Untersuchungen, wenn er wach wird.«

Wach auf, Amos.

Gideon atmete tief durch. »Ich dachte ernsthaft, er sei derjenige gewesen, der Ephraim den Todesschuss versetzt hat, ich schwöre. Und das Letzte, was er von mir gehört hat, waren Vorwürfe.«

»Er wird es verstehen«, erwiderte Mercy im Brustton der Überzeugung. Zumindest in diesem Punkt war sie sich ganz sicher. »Wie geht es Agent Molina?«

»Sie hat Schmerzen«, antwortete Gideon. »Er hat sie ins Bein geschossen und den Knochen getroffen. Sie fällt bestimmt mehrere Monate aus. Und sie ist stocksauer.« Er wand sich bei dem Gedanken. »Aber nicht auf uns. Zumindest nicht sehr. Es hat sie verärgert, weil wir dich mitgenommen haben, aber wir haben sie ja über alle unsere Schritte auf dem Laufenden gehalten, deshalb kommen wir wahrscheinlich mit einem Klaps auf die Finger davon – Tom und ich, meine ich. Am meisten bringt sie auf die Palme, dass sie Schmerzen hat. Und dass DJ sie erwischen und kaltstellen konnte. Sie möchte wissen, wo er ausgebildet wurde.«

»Die Frage muss man sich tatsächlich stellen«, meinte Mercy. »Er hat acht Feds niedergestreckt, Gideon. Molina und zwei der SWAT -Jungs werden zwar überleben, aber er hat sie außer Gefecht gesetzt. Und er hat fünf Agents getötet.« Wie es aussah, hatte er sie mit einem Scharfschützengewehr von einem Baum aus erwischt. »Jemand muss ihn gezielt ausgebildet haben. Söldner bei einer größeren Organisation kann er nicht sein, weil er Eden nur für seine Liefer- und Versorgungsfahrten verlassen darf.« Oh. »Er beliefert doch regelmäßig Drogendealer. Könnte er dort gelernt haben, so zu schießen?«

Gideon schien beeindruckt zu sein. »Guter Gedanke. Ich kann mir vorstellen, dass er sich dort seine Fähigkeiten als Schütze angeeignet hat. Er wusste jedenfalls, dass man auf die unbedeckte Stelle im Nacken zielen muss, denn sowohl Molina als auch die Leute vom SWAT -Team haben ballistische Schutzausrüstung getragen. Dasselbe gilt für Schumacher. Und für Amos.«

Und für mich. Er hatte es auf mich abgesehen.

Nein. Nicht jetzt darüber nachdenken. Pack es in die Kiste . »Allerdings erklärt das nicht, woher er wusste, wo wir sind.«

Rafe regte sich in dem Sessel. »Er muss Ephraim gefolgt sein«, sagte er gähnend. »Als Erstes hat er Ephraim getötet, bevor er sich uns vorknöpfen wollte. Na ja, nachdem er Molina und das Team ausgeschaltet hatte.«

Beim Gedanken daran, wie Amos blutüberströmt auf der Straße gelegen hatte, überlief Mercy ein Schauder. So viel Blut. »Ein Glück, dass Daisy da war. Hätte sie ihn nicht angeschossen, wäre alles womöglich noch viel schlimmer ausgegangen.«

»Sie ist wütend, weil sie ihn nicht getötet hat«, erklärte Gideon müde. »Sie hat Angst, dass er zurückkommt, was durchaus berechtigt ist. Aber jetzt ist er erst einmal vertrieben, und wir müssen uns nun sammeln und unsere Sicherheit neu organisieren. Aber darum soll sich das FBI kümmern. Ich bin gerade zu müde dafür.« Er massierte sich die Schläfen. »Du hast völlig recht, Rafe. DJ hatte sich an Ephraims Fersen gehängt. Am Fahrgestell des Escalade, mit dem Ephraim unterwegs war, war ein Tracker angebracht.«

»Aber wie konnte DJ den anbringen?«, fragte Mercy. »Und wie ist Ephraim an den Escalade gekommen?«

Gideon seufzte. »Der Escalade gehörte Belinda Franklins Arzt. Die Polizei hat ihn tot in seinem Haus aufgefunden. Genickbruch, so wie bei Ephraims anderen Opfern. Ephraims Fingerabdrücke wurden an einer Kaffeetasse im Haus des Doktors sichergestellt, aber noch wissen wir nicht, wie DJ in die ganze Sache verwickelt ist.«

Mercy konnte nicht einmal daran denken, dass sie um ein Haar Farrah, André und Damien verloren hätten, deshalb verbannte sie auch diese Gedanken in ihre Kiste. Inklusive zugehämmertem Deckel. Konzentrier dich auf die Fakten, nicht auf deine Angst . »Aber folglich muss DJ gewusst haben, dass Ephraim zum Arzt seiner Mutter fahren würde.«

»Wir haben das Handy des Arztes gefunden«, sagte Gideon. »Noch muss es erst geknackt werden, aber dafür gibt es ja Software. Wir finden schon heraus, wer ihn angerufen hat und wann.«

»Was ist mit dem Bankschließfach?«, fragte Mercy. »Und mit dem Schlüssel, den ich von der Mutter bekommen habe.«

Gideon setzte ein wölfisches Grinsen auf. »Wir haben den Durchsuchungsbeschluss und werden das Fach gleich morgen früh öffnen. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich erfahre, was die Kollegen vorfinden.« Sein Grinsen verflog. »Offiziell darf ich nicht einmal anwesend sein, wenn sie den Inhalt des Schließfachs durchsuchen, weil ich durch meine Nähe zu dem Fall als nicht objektiv gelte. Ich musste die Ermittlung wegen Befangenheit abgeben. Schon wieder«, erklärte er finster.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Rafe. »Zurück an die Arbeit und versuchen, jemanden zu finden, der dir etwas verrät?«

»Genau«, antwortete Gideon nur und lächelte, als Rafe ein Schnauben ausstieß. »Ernsthaft. Irgendwer wird mir schon erzählen, was sie gefunden haben. In der Zwischenzeit mache ich meine Arbeit und übersetze irgendwelches Verbrechergequassel, bin aber ganz Ohr, falls der Verkauf von Psilocybin zur Sprache kommt.«

Mercy beugte sich vor und berührte behutsam Amos’ Hand. »Danke für den Tipp, Amos. Wir sind dir was schuldig.«

»Ja, genau, danke«, brummte Gideon. »Und es tut mir leid, dass ich dachte, du hättest Ephraim getötet.« Er seufzte tief. »Und danke, dass du Mercy gerettet hast. Dafür werde ich immer in deiner Schuld stehen.«

Mercy lehnte sich gegen Gideons Oberarm. »Ich stehe in euer aller Schuld, weil jeder von euch mich mindestens einmal gerettet hat«, sagte sie leichthin.

Rafe suchte über das Krankenbett hinweg ihren Blick und zwinkerte ihr langsam zu. »Das war’s wert.«

Gideon zögerte kurz, dann zog er Mercy an sich und hielt sie so fest, dass sie zusammenzuckte. »Ja, das war es wert«, sagte er leise. »Ich bin so verdammt froh, dass du hier bist.« Er räusperte sich. »Und du auch, Amos. Ich bin froh, dass du Eden den Rücken gekehrt und Abigail hierhergebracht hast. Dass du bei uns bist. Deshalb … geh bitte nicht weg, okay? Und hab keine Angst, wir sorgen dafür, dass Abigail nichts passiert und sich immer jemand um sie kümmert, bis du hier rauskommst.«

Mercy gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Das war sehr süß von dir.«

Gideon verstärkte seinen Griff um Mercy, bis sie einen leisen Schmerzensschrei ausstieß. Verlegen ließ er von ihr ab. »Entschuldige. Ihr beide solltet jetzt ein Weilchen schlafen. In einem anständigen Bett, meine ich, nicht in einem Krankenhaussessel. Ich gehe jetzt. Und ihr beide solltet das auch tun. Zu Rafe nach Hause sind es nicht mal zehn Minuten. Sobald sich hier etwas tut, melden die sich schon.«

»Ich will nicht, dass Amos allein ist, wenn er zu sich kommt«, sagte Mercy und berührte behutsam Amos’ Hand.

»Aber wenn du krank wirst, weil du nicht geschlafen hast, lassen die dich überhaupt nicht mehr herein«, bemerkte Rafe.

Gideon reckte den Daumen hoch. »Gutes Argument. Also, Mercy?«

Widerstrebend stand Mercy auf. Rafe musste tatsächlich dringend in einem richtigen Bett schlafen. »Also gut. Aber wenn die Schwestern anrufen, musst du mich herbringen, selbst wenn du gerade im Tiefschlaf warst. Es sei denn, du erlaubst mir, dass ich mir ein Uber kommen lasse.« Denn inzwischen war nur noch Sashas Mini übrig, alle anderen Fahrzeuge waren als Beweismittel sichergestellt worden oder Ephraims Spurenbeseitigung zum Opfer gefallen. In ein paar Tagen bekämen sie zwar Rafes Subaru und Gideons Suburban wieder zurück, aber bis dahin waren sie auf die Hilfe von anderen angewiesen. Angesichts der Gefahr, die DJ für sie alle darstellte, würde sie das FBI wohl noch eine ganze Weile nicht aus den Augen lassen, und der Vorschlag, ein Uber zu nehmen, war natürlich ein Scherz gewesen.

Den allerdings weder Gideon noch Rafe zu begreifen schienen, wie ihre Mienen verrieten.

»Uber? Auf keinen Fall«, sagte Rafe, schnappte sich den Aluminiumstock, den er wieder in Gebrauch genommen hatte, nachdem ihm auch der zweite Holzstock als Beweismittel abgenommen worden war. »Aber ich werde aufwachen und dich hierherbegleiten, ganz egal, wie.«

Mercy beugte sich über das Bettgestell und küsste Amos auf die Stirn. »Wach bald auf, Papa«, sagte sie zärtlich. »Abigail braucht dich. Und ich auch.«

Gideon strich ihr übers Haar. »Daisy ist bei Agent Molina. Ich hole sie, dann können wir los.«

Sacramento, Kalifornien

Donnerstag, 20 . April, 01 .40  Uhr

Völlig erschöpft hängte Mercy ihren Mantel in Rafes Garderobenschrank. Zwar hatte Agent Molinas Stellvertreter Personenschutz für sie arrangiert, doch es hatte eine ganze Weile gedauert, bis der Agent eingetroffen war, um sie abzuholen. Nun saß er draußen im Wagen und hielt Wache. Und alles nur wegen DJ , diesem elenden Drecksack.

Mercy wollte nicht mehr länger an DJ Belmont denken, weil sie fürchtete, in tausend Teile zu zerbrechen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die kleinen Dinge, die sie selbst in der Hand hatte. »Ich will etwas von dem Essenspaket, das deine Mutter uns mitgegeben hat. Danach eine lange, heiße Dusche mit einer Seife, die nicht nach Krankenhaus riecht, und dann schlafen, am besten gleich zwei oder drei Tage lang.«

Rafe war kreidebleich vor Erschöpfung, als er sich auf sein Sofa fallen ließ. »Hört sich gut an. Ich wärme uns die Reste in der Mikrowelle auf.«

»Nein, du bleibst sitzen. Ich gebe einfach etwas in den Ofen, und dann muss ich mir noch mal die Haare waschen.«

Er schnitt eine Grimasse, die zeigte, dass er verstand. Seine Schwester Meg war ihre Retterin in der Not gewesen und hatte ihnen saubere Sachen ins Krankenhaus gebracht, während sie gewartet hatten. Man hatte ihnen sogar erlaubt zu duschen, weil sie alle etwas von Ephraims Hirnmasse abbekommen hatten. So überglücklich Mercy über Ephraims Tod war, so wünschte sie sich doch, das Ganze wäre nicht ganz so … Übelkeit erregend abgelaufen.

Wahllos nahm sie einen Auflauf aus dem Kühlschrank und stellte den Topf in den Ofen, wobei sie hoffte, dass ihr Appetit anhalten würde. Er war ihr den ganzen Abend über jedes Mal schlagartig vergangen, wenn sie sich den Anblick von Ephraims Leiche in Erinnerung gerufen hatte.

Arme Farrah. Sie hatten auf der Fahrt mehrmals anhalten müssen, damit sie sich übergeben konnte – eine üble Mischung aus dem Trauma der Entführung, dem Gefühl einer Waffe an der Schläfe und dem Anblick von Ephraims abscheulichem Ende.

Und ich? Mercy drehte die Dusche auf und zog sich aus. Die Polizei hatte ihre Kleider als Beweismittel gesichert, aber das war okay. Sie würde sie ohnehin nie wieder anziehen, und sollte sie sie zurückbekommen, würde sie sie vielleicht in einer Art rituellem Reinigungsritual verbrennen.

Ephraim war tot. Und es tut mir nicht leid.

Sie hatte ihn selbst beinahe getötet. Auch das tut mir nicht leid.

Vielleicht sollte sie es bedauern. Tue ich aber nicht.

Sie stieg unter die Dusche und erschauderte, als das warme Wasser an ihr hinunterlief. Ihr war so kalt gewesen. So unfassbar kalt. Hundemüde.

Und halb verrückt vor Angst.

»Ich habe immer noch Angst«, sagte sie leise.

»Ich auch.« Die Tür zur Duschkabine wurde geöffnet. Rafe starrte sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. »Ist es zu aufdringlich, wenn ich frage, ob ich reinkommen darf?«

»Nein«, flüsterte sie und wiederholte es lauter, als er sie nicht zu hören schien. »Nein. Das Wasser ist herrlich.«

Augenblicke später lagen Rafes Kleider auf einem Haufen neben ihrem. »Das heiße Wasser tut meinem Bein gut.«

»Dann stell dich direkt unter den Strahl.« Sie trat zur Seite, doch er wollte nichts davon hören.

Er lehnte sich gegen die Wand, zog sie in seine Arme und vergrub das Gesicht an ihrem Hals. »Ich kann nicht mal genau sagen, wie ich mich fühlen soll«, gestand er leise.

Sie legte die Handflächen auf die Muskeln in seinem Rücken und ließ sie in langsamen Bewegungen auf und ab gleiten. Sie musste ihn berühren. Dass sie beide nass und nackt waren und er den schärfsten Körper besaß, den sie je gesehen hatte, war … zweitrangig. »Geht mir ähnlich. Ich habe Angst. Bin traurig. Und wütend.« Einen Moment lang standen sie schweigend da, dann stieß sie einen Seufzer aus. »Was ist, wenn Amos nicht wieder aufwacht?«

»Er wird schon wieder aufwachen«, erklärte Rafe fest. »Er wird darum kämpfen, zu Abigail zurückzukehren. Und zu dir und Gideon.«

»Falls«, sagte sie. »›Falls er aufwacht‹, haben die Ärzte gesagt. Aber falls nicht, wer kümmert sich dann um Abigail?«

»Meine Mutter«, antwortete Rafe wie aus der Pistole geschossen.

»Oder … ich.«

Er löste sich von ihr und sah sie kurz an, dann drehte er sie an den Schultern so, dass der Wasserstrahl sie nicht im Gesicht traf. »Dass du es könntest, steht fest«, meinte er und strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht. »Aber würdest du es auch wollen?«

Sie nickte. Die ganze Zeit, während Molinas Stellvertreter sie ins Gebet genommen hatte, war sie mit den Gedanken bei dem kleinen Mädchen gewesen. »Ja. Ich weiß, was man Abigail ihr ganzes Leben lang erzählt hat. Was ihr bevorsteht, was sie alles neu lernen muss … und auch wenn wir nicht blutsverwandt sind, ist sie trotzdem meine kleine Schwester.«

Er lächelte. »Und das von der Frau, die sagt, sie wüsste nicht, wie sie Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen soll.«

Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Das tue ich auch nicht. Genau deshalb habe ich ja Angst.«

»Aber Mom weiß, wie es geht. Ich weiß es. Du hättest also von allen Seiten Hilfe.« Er hielt inne und schürzte die Lippen.

»Was?«

Er drückte etwas Shampoo aus einer Flasche, die Daisy zurückgelassen hatte, und massierte ihr die Kopfhaut. Mercy summte genüsslich.

»So müssen Rory und Jack-Jack sich fühlen, wenn ich sie kraule«, murmelte sie und ließ die Stirn gegen seine Brust sinken, um sich ganz und gar den Bewegungen seiner Hände hinzugeben. »Du solltest Geld dafür kassieren. Bestimmt hättest du morgen schon eine Schlange vor der Tür stehen.«

»Lieber nicht. Es sei denn, es stört dich nicht, wenn andere mich nackt sehen.«

Sie hob abrupt den Kopf und zuckte zusammen, als sie Shampooschaum in die Augen bekam, den sie mit einer ungeduldigen Geste wegwischte. »Äh, doch. Ich bin sogar strikt dagegen, dass dich andere nackt sehen.« Wieder summte sie, als er sie neuerlich umdrehte, um das Shampoo auszuwaschen, und dabei mit der Hand ihre Augen abschirmte. Genau wie ihre Mama es früher immer gemacht hatte.

Niemand hatte sich mehr auf so liebevolle Art um sie gekümmert, seit sie ein Kind und damit noch zu klein gewesen war, um zu begreifen, wie besonders es war.

Sie lächelte ihn an, als er Spülung in ihrem Haar verteilte. »Du machst das wirklich gut.«

»So etwas habe ich noch nie bei jemandem gemacht«, gestand er.

»Das heißt, ich kann mich nur noch glücklicher schätzen. Aber zurück zu meiner Frage, bevor du mich mit der Kopfmassage ablenken wolltest. Du sagtest, ich bekäme eine Menge Hilfe von allen Seiten, und dann hast du ein Gesicht gemacht, als hättest du in eine Zitrone gebissen.«

Mit einem Seufzer shampoonierte er seine eigenen Haare, wofür er allenfalls zehn Sekunden brauchte. »Du hättest von uns allen Hilfe, aber wir sind nun mal hier

»Oh.« Sie verstand. »Die Romeros würden sie ebenfalls von Herzen lieben. Und mich lieben sie auch.«

Er küsste sie auf die Stirn. »Vielleicht machst du dir ja völlig unnötig Gedanken. Amos wacht bestimmt wieder auf.«

»Aber selbst wenn, würde ich nicht erleben, wie sie heranwächst.« Falls ich zurückgehe . Nach allem, was sich in den letzten Tagen ereignet hatte, war sie sich da nicht mehr so sicher.

»Aber du hast deine Sibs um dich, wenn du nach New Orleans zurückgehst.« Er lächelte traurig. »Das wird eine schwierige Entscheidung.«

Nein, eigentlich nicht . Weil Rafe dann hier wäre. »Ich habe einen Plan.«

Er küsste sie. »Und wie sieht dieser Plan aus?«

»Die Romeros haben Quills Trauerfeier auf Sonntagnachmittag verlegt. Ich werde also nach New Orleans fliegen und daran teilnehmen und bei der Gelegenheit gleich ein paar Sachen zusammenpacken, bevor ich zurückkomme und den Rest meiner Auszeit hier verbringe. Eine Bedingung, damit ich meine Arbeit wiederaufnehmen darf, ist zwar eine Therapie, aber die könnte ich ja auch hier machen. Lass uns einfach diese siebeneinhalb Wochen genießen und dann …« Sie zuckte die Achseln. »Sehen, wie es weitergeht.«

In seinen braunen Augen spiegelte sich eine Mischung aus Sehnsucht und Hoffnung, die ihr den Atem verschlug. »Du überlegst also, ob du bleiben könntest? Auch danach noch?«

»Ja. Ich bin nicht blöd, Raphael Sokolov. Was du und ich haben, ist etwas ganz Besonderes. Gideon ist hier, und jetzt auch noch Amos. So sehr ich meine Familie in New Orleans liebe, aber Gideon, Amos und ich – und nun auch noch Abigail –, wir alle haben eine gemeinsame Geschichte. Erinnerungen, die uns verbinden. Und dann gibt es da noch dich.«

»Ja, dann gibt es noch mich.« Er hob die Brauen. »Und was willst du dahin gehend unternehmen?«

Sie lachte. »Das ist eine Suggestivfrage, Detective Sokolov. Gib mir ein bisschen Zeit, dann schreibe ich dir eine Liste. Aber für den Moment? Für den Moment möchte ich mit dir ins Bett und dich diesen Tag eine Weile vergessen lassen. Ist das okay?«

»Mehr als okay.«

Wieder küsste er sie, ausgiebig und voller Süße. »Wenn du willst, begleite ich dich nach New Orleans. Zur Trauerfeier.«

»Das würdest du für mich tun?«

»Es gibt nicht viel, was ich nicht für dich tun würde«, erwiderte er beiläufig, doch die Intensität in seinen Augen strafte seine Lässigkeit Lügen. »Ich bin noch mindestens zwei Monate dienstunfähig. Wir können uns also alle Zeit der Welt lassen, um herauszufinden, wohin die Reise geht.« Er zögerte, dann verlagerte er das Gewicht so, dass das warme Wasser geradewegs auf sein versehrtes Bein prasselte. »Vielleicht kann ich ja auch gar nicht mehr als Detective arbeiten.«

Eine mitfühlende Bemerkung lag ihr auf der Zunge, doch sie verkniff sie sich, weil es nicht das war, was er jetzt brauchte. Stattdessen küsste sie sein Kinn und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen weiteren Kuss auf den Mund zu drücken. »Ich weiß. Vielleicht können wir uns ja Alternativen für dich überlegen, nur für alle Fälle. Und für uns … gemeinsam.«

Das war die richtige Erwiderung gewesen, denn er sank gegen die Fliesenwand und schloss mit unübersehbarer Erleichterung die Augen. »Ja.« Er schluckte. »Wir gemeinsam. Das gefällt mir.« Er griff hinter sich, um das Wasser abzudrehen.

»Hey«, protestierte sie. »Ich war noch nicht fertig.«

»In etwa vier Sekunden wäre das Wasser eiskalt geworden.«

»Oh. Gut zu wissen … für die Liste all der Dinge, die ich gern mit dir machen möchte, meine ich. Ausgiebige Duscheinheiten werden dann wohl nicht draufstehen.« Sie öffnete die Kabinentür und nahm zwei Handtücher vom Haken. »Trockne dich ab, und dann ab ins Bett. Ich hole unser Essen. Und dann schlafen wir. Morgen früh nach dem Aufwachen ist immer noch Zeit genug, sich Sorgen zu machen.«

Sacramento, Kalifornien

Donnerstag, 20 . April, 12 .15  Uhr

Die brutale Realität zeigte sich in Form eines lauten Klopfens an der Apartmenttür. Stöhnend hob Rafe den Kopf. Er war bereits wach gewesen und hatte überlegt, Mercy auf dieselbe Weise zu wecken, wie sie es kurz vor dem Morgengrauen getan hatte – indem er ihren ganzen Körper mit Küssen bedeckte. Er wollte keinen Besuch.

Mercy regte sich neben ihm. »Was ist?«

»Jemand ist an der Tür«, brummte er.

Wieder klopfte es. »Mach auf, Rafe!«

Er stöhnte erneut. »Das ist Sasha.«

»Ich habe etwas zu essen!«, rief sie. »Oh! Hi, Gideon!«, trompetete sie so laut, dass Rafe und Mercy es drinnen hören konnten. »Ich habe genug für alle dabei, aber mein liebes Bruderherz will ja nicht aufmachen. Ich warne dich, Rafe, ich habe einen Schlüssel!«

»Wage es nicht!«, schrie Rafe. »Eine Minute.«

Mercy setzte sich im Bett auf, splitternackt und wunderschön. Ihr Haar stand in sämtliche Richtungen ab, was Rafe absolut hinreißend fand, doch er wusste, dass sie ihm in dem Punkt nicht zustimmen würde, deshalb behielt er den Gedanken für sich.

»Ich gehe schon«, sagte sie und ging zur Tür, wobei sie ihm einen prachtvollen Ausblick gewährte, als sie sich über ihren Koffer beugte und etwas Frisches zum Anziehen herausnahm.

»Sasha verdirbt mir den ganzen Spaß«, maulte er, woraufhin Mercy lachte.

»Sie bringt etwas zu essen.« Nicht einmal dreißig Sekunden später hatte Mercy ihre herrliche Nacktheit mit Jeans und einem Rollkragenpullover verdeckt. »Komme schon, Sasha«, rief sie, als es ein weiteres Mal klopfte. Sie warf Rafe eine Jogginghose zu und zog die Schiebetür vor, um ihm etwas Privatsphäre zu gewähren.

»Hey, Mercy. Ein Blick in den Spiegel wäre vielleicht ganz gut, bevor du die Tür aufmachst.«

Ein halb unterdrückter Schrei hallte durch die Wohnung. Mercy kam zurück, schnappte sich mit finsterer Miene eine Bürste und bearbeitete ihr Haar damit, wobei sie etwas à la »ein ganz großer Fehler, mit nassen Haaren ins Bett zu gehen« murmelte. Dann riss sie die Tür ganz auf. »Sasha«, rief sie im Singsang.

»Mercy«, trällerte Sasha zurück. »Ist er angezogen?«

»Mehr oder weniger«, rief Rafe, der sich hinter der Schiebetür in seine Jogginghose quälte. Der Duft nach Hühnchen und Waffeln zog durch die Wohnung. Prompt knurrte ihm lautstark der Magen. Er sah an sich hinunter und beschloss, dass ein Oberteil vielleicht ganz hilfreich wäre, da Mercy sicherlich nicht erfreut wäre, wenn alle Welt die Spur aus winzigen blauen Flecken zu sehen bekäme, die sie auf seiner Brust hinterlassen hatte.

Selten war er so angenehm geweckt worden, und er hatte durchaus vorgehabt, in diese Richtung weiterzumachen, doch Sasha hatte seine Pläne jäh zerstört.

Er zog ein T-Shirt heraus, hob seinen Stock vom Boden und schob die Tür zurück, um festzustellen, dass Gideon und Daisy ebenfalls inzwischen hereingekommen waren. Mercy deckte den kleinen Tisch, während Sasha das Frühstück auspackte. Mit den fünf Personen war das Apartment reichlich voll.

Rafe nahm sich vor, sich auf die Suche nach einer großzügigeren Bleibe ohne Treppe zu machen. Gleich nach einem Karriere-Brainstorming.

Eigentlich hätte er sich mies fühlen müssen, doch als er Mercy in der Küchenzeile hantieren sah, als gehöre sie hierher … Sie überlege, ob sie in Sacramento bleiben solle, hatte sie gemeint. Dass wir etwas ganz Besonderes sind.

Mit einem Mal war die Vorstellung, eine andere berufliche Laufbahn einzuschlagen, weit weniger beängstigend als gestern.

»Was macht das Bein?«, erkundigte sich Gideon.

Mit einem Achselzucken ließ Rafe sich auf den Stuhl sinken. »Tut weh. Ich muss dringend einen Termin bei meinem Arzt vereinbaren. Außerdem habe ich heute Nachmittag eine Behandlung bei Cash. Ich habe diese Woche zwei Termine versäumt, deshalb wird es ohnehin schmerzhafter werden als sonst.«

Mercy öffnete den Mund, doch Rafe war schneller. »Sag jetzt nicht, dass es dir leidtut«, warnte er. »Dass ich meinen Termin abgesagt habe, damit wir nach Snowbush fahren können, hatte nichts mit dir zu tun, und nach allem, was passiert war, konnte ich gestern unmöglich eine Therapiesitzung wahrnehmen. Also, was gibt es zu essen, Sasha?«

»Hühnchen und Waffeln aus dem Forty-Niner«, antwortete Sasha.

»Mein Lieblingsfrühstück«, meinte Daisy und bediente sich erfreut. »Was ist?«, fragte sie, als die anderen lachten. »Ich bin seit fünf Uhr auf und habe schon einen Arbeitstag hinter mir, während ihr alle noch geschlummert habt.« Sie warf Rafe einen vielsagenden Blick zu. »Oder anderweitig beschäftigt wart.«

»Können wir das bitte lassen?«, stöhnte Gideon.

Mercy lachte. »Schon gut.« Ihr Lächeln verflog jedoch, als sie ihr Handy checkte. Das bedeutete entweder keine Nachrichten von Amos oder zumindest keine guten.

»Und?«

»Nichts«, sagte Mercy. »Ich muss im Krankenhaus anrufen, für den Fall, dass er aufgewacht ist und sie noch keine Zeit hatten, sich zu melden.« Sie drückte Rafe einen flüchtigen Kuss auf die Wange und trat vor die Tür, um in Ruhe zu telefonieren.

Gideon sah ihr hinterher. »Eigentlich will ich nicht, dass sie in die Nähe der Glastür da draußen kommt, weil die nicht kugelsicher ist, aber das ist übertrieben, oder?«

Daisy lachte leise. »Ist es«, sagte sie mit vollem Mund. »Vor allem, weil ein Fed draußen Wache hält. Wo sind eigentlich Farrah und André?«

»Bei Mom und Dad«, antwortete Rafe. »Mom wollte André im Auge behalten, bis sein Körper das Schlafmittel vollends abgebaut hat. Sie kommen später vorbei.«

»Da sind sie schon«, sagte Mercy, die in diesem Moment das Apartment wieder betrat, dicht gefolgt von Farrah und André. Und Tom Hunter, der sie offensichtlich hergefahren hatte.

Glücklicherweise hatte Sasha genug zu essen mitgebracht, denn als alle verköstigt waren, war nichts mehr übrig.

»Das war so lecker«, stöhnte Mercy. Rafe ertappte sich bei dem Wunsch, mit ihr allein zu sein, um dieses Stöhnen in einem anderen Zusammenhang zu hören, doch die anderen vor die Tür zu setzen, wäre unhöflich gewesen, deshalb biss er die Zähne zusammen.

Und zeigte Sasha den Mittelfinger, als sie vielsagend grinste.

Tom legte seine Serviette weg. »Also. Inzwischen weiß ich ein wenig mehr.«

Alle hielten inne. »Und zwar?«, fragte Mercy.

»Und zwar, was in dem Bankschließfach war. Wir haben einen Spiralblock voll handschriftlicher Notizen gefunden. Von zwei Personen, Ephraim und Edward. Oder Harry und Aubrey. Es war eine Liste all ihrer Vergehen, sowohl in Eden als auch vorher. Aber nicht nur von ihnen beiden, sondern auch Pastors und Waylons Sünden waren haarklein aufgeführt. Bis ins letzte Detail.«

»Wie das?«, fragte Farrah. »Weshalb sollten sie das schriftlich festhalten?«

»Als Totmann-Einrichtung beziehungsweise Lebensversicherung«, warf André ein. »Sollte einer von ihnen auf ungeklärte Weise zu Tode kommen, würden die Unterlagen öffentlich gemacht werden, entweder durch die Medien oder die Polizei. Das ist eine typische Vorgehensweise in Verbrecherkreisen. Ohne so eine Rückversicherung hätten sie sich schon lange gegenseitig verpfiffen.«

»Deshalb hat Belinda Franklin gesagt, sie hätte den Schlüssel nie benutzt«, sagte Mercy leise. »Sie meinte, ihr Junge sei tot, aber sie hätte den Schlüssel nicht benutzt. Weil Aubrey nicht von einem der anderen Gründerväter getötet worden war.«

Gideons Lippen wurden schmal. Daisy legte die Hand um seinen Arm und drückte einen Kuss auf seinen Bizeps. »Ich bin froh, dass er tot ist«, erklärte sie eindringlich, trotzdem glitt Gideons Blick flüchtig zu Mercy, ehe er ihn wieder abwandte.

»Gideon. Sieh mich an.« Mercy griff über den Tisch und zog an seinem Hemdärmel, bis er ihr in die Augen sah. »Und jetzt hörst du mir zu. Ich bin froh, dass du ihn getötet hast. Und dass du entkommen konntest. Und hätte ich die Wahrheit damals schon gekannt, wäre ich trotzdem froh gewesen, dass du aus Eden fliehen konntest.«

»Aber du bist nicht entkommen«, erwiderte er.

Sie legte den Kopf schief, ließ seinen Ärmel los und ergriff stattdessen seine Hand. »Doch, am Ende schon. Und es war furchtbar, das will ich gar nicht abstreiten. Aber ich sage auch, dass ich trotzdem froh darüber gewesen wäre, hätte ich damals schon gewusst, was ich heute weiß. Und das solltest du dir gut merken, weil es die Wahrheit ist und wir mit der Vergangenheit erst abschließen und nach vorne blicken können, wenn wir diese Angelegenheit erledigt haben.«

Gideons Mundwinkel zuckten. »Ja, Ma’am.«

Mercy nickte entschieden. »Gut. Also, Tom, was stand sonst noch in den Notizbüchern?«

Tom räusperte sich. Der Dialog zwischen den beiden Geschwistern schien ihm mächtig an die Nieren gegangen zu sein. Rafe wusste nur zu gut, wie er sich fühlte. Er liebte Gideon wie einen Bruder, und Mercy … nun ja, so gar nicht wie eine Schwester. Die beiden hatten unfassbares Leid ertragen müssen, und Rafe wünschte sich sehnlich, er könnte sie heilen, doch ihm blieb nur, für sie da zu sein.

Und ihnen zu helfen, die Dreckschweine dingfest zu machen, die ihnen all das angetan hatten. Einen haben wir, fehlen noch zwei.

Ein entschlossener Ausdruck erschien in Toms Augen, und Rafes Instinkt sagte ihm, dass der junge Fed der Schlüssel zu Edens Ende und Niedergang sein würde.

»Also gut«, fuhr Tom fort, nachdem er sich gefangen hatte. »Wichtig ist für den Moment, dass Pastor und Waylon sich tatsächlich in der Terminal Island Federal Correction Institution begegnet sind. Pastor wurde als Benton Travis, offenbar sein richtiger Name, wegen Betrugs und Geldwäsche zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, wo er Waylon kennengelernt hat, wie du bereits vermutet hattest. Laut Aubrey Franklin haben die beiden dort Drogen vertickt. Aubrey stieß etwas später dazu, und die drei haben sich angefreundet, deshalb hat Aubrey sich auch an sie gewandt, als er sich nach seinem zweiten Bankraub auf der Flucht befand. Waylon und Pastor hatten sich unterdessen nach Eden zurückgezogen und ließen Aubrey eine grobe Karte zukommen, die Ephraim in sein Notizbuch kopiert hat, deshalb werden wir den ursprünglichen Standort Edens bald finden.«

»Weshalb ist dieser Standort so interessant?«, fragte Mercy. »Dort ist doch keiner mehr.«

»Aber Amos meinte, dass sie manchmal zu ihren früheren Standorten zurückkehren, deshalb könnte es sein, dass sie dort auftauchen«, warf Gideon aufgeregt ein. »Was gibt es sonst noch Wichtiges zu wissen?«

»Dass Pastor das gesamte Geld, das ihm die neuen Mitglieder anvertraut haben, auf Offshore-Konten geschafft hat. Wie es aussieht, sitzen sie seit sage und schreibe dreißig Jahren auf diesem Geld, zumindest vermuten wir das. Die Summe sollte zwischen den sogenannten Gründervätern aufgeteilt werden.«

»Also Pastor, Waylon, Ephraim und Edward«, meinte Gideon.

Tom schüttelte den Kopf. »Wie es aussieht, gab es noch eine fünfte Person. Ephraim hat ihn in seinen Notizen erwähnt. Einen gewissen ›Doc‹, der anscheinend drei Jahre nach der Gründung gestorben ist, damals allerdings schon steinalt war, weshalb nichts auf irgendwelche miesen Machenschaften hindeutete.«

»Das ist mir neu«, meinte Gideon. »Andererseits sind wir ja erst einige Jahre danach nach Eden gekommen. Ich habe jedenfalls nie mitbekommen, dass ihn jemand erwähnt hätte. Aber zurück zum Geld. Woher wisst ihr, dass sie das Vermögen gebunkert haben? Sie könnten es ja auch ausgegeben haben.«

Tom schüttelte den Kopf. »Laut Ephraim Burtons Aufzeichnungen ist das nicht passiert. Er war regelmäßig auf der Bank und hat seine Notizen im Schließfach aktualisiert, wobei er sich als Eustace Carmelo ausgewiesen hat. Das letzte Mal vor etwa sechs Monaten. Pastor hatte ihm wohl das Kassenbuch vorgelegt, aus dem hervorging, dass ihr Vermögen auf rund fünfzig Millionen Dollar angewachsen war. Nachdem Waylon und Aubrey ja tot waren, würde es zwischen Pastor, DJ und Ephraim aufgeteilt werden.«

Mercy schnappte nach Luft. Und sie war nicht die Einzige. »Fünfzig Millionen? «

Rafe stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ein verdammt plausibles Motiv, weshalb Ephraim und DJ sich gegenseitig umbringen wollten.«

»Vor allem, da DJ im Hinblick auf meinen Tod gelogen hat«, warf Mercy ein, immer noch fassungslos über die gewaltige Summe. »Das hat Ephraim das perfekte Druckmittel verschafft, als er begriff, dass ich noch am Leben war. Er musste mich bloß nach Eden zurückbringen, dann hätte DJ einpacken können.«

Rafe sog scharf den Atem ein. »Dieses elende Dreckschwein.«

»Und DJ musste wiederum dafür sorgen, dass Ephraim stirbt, damit er ihn nicht verraten konnte«, folgerte Gideon grimmig.

»Wir beide wären die Kirsche auf der Torte gewesen, Gideon«, meinte Mercy. »Und könnten es immer noch sein. Solange ich am Leben bin, stelle ich eine Gefahr für seine Position innerhalb Edens dar. Zumindest wenn Pastor Wind davon bekommt, aber DJ weiß inzwischen bestimmt, dass wir nach Eden suchen. Fünfzig Millionen Dollar sind eine Menge gute Gründe, uns zum Schweigen zu bringen.«

»Mercy! So darfst du nicht reden!«, rief Farrah bestürzt.

Rafe wurde plötzlich eiskalt. »Wir müssen dich in einem Safehouse unterbringen«, platzte er heraus. Der Gedanke war ihm schon während der Nacht gekommen, nur war er zu müde gewesen, um ihn mit Mercy zu diskutieren, weil er gewusst hatte, dass sie Widerstand leisten würde. Doch nun war seine Angst vom Vortag mit voller Wucht zurückgekehrt, deshalb waren die Worte unwillkürlich über seine Lippen gekommen.

Mercy ergriff Farrahs Hand, während sie betrübt den Kopf schüttelte. »Nein. Mir ist klar, dass du uns in Sicherheit bringen willst, aber wir können uns nicht ewig verstecken. Irgendwann würde er uns erwischen. So kann niemand leben, Rafe. Ich bin zu weit gekommen, um mich jetzt irgendwo zu verkriechen. Nein, wir müssen Eden finden und DJ und Pastor unschädlich machen. Und dann sämtliche Mitglieder der Gemeinschaft befreien.«

Sie hatte recht, das war ihm bewusst, selbst als sein Frühstück in seinem Magen rebellierte. Er hatte sie endlich gefunden, deshalb durfte er sie jetzt nicht wieder verlieren, doch sie einzusperren, wäre der falsche Weg. »Also gut, finden wir Eden.«

Tom nickte. »Genau das ist meine Aufgabe«, erwiderte er schroff. Rafe musste sich zusammenreißen, um sich das Nein, verdammt zu verbeißen, das ihm auf der Zunge lag.

Gideon setzte sich stirnrunzelnd auf seinem Stuhl auf. »Nicht nur deiner, Tom.«

»Aber rein rechtlich gesehen, auch nicht deiner, Gideon, schließlich hast du dich wegen Befangenheit aus den Ermittlungen zurückgezogen, schon vergessen?«, warf Mercy ein.

»Ich weiß ja, aber …« Er seufzte. »Du hast recht. Wieso musst du eigentlich immer recht haben?«

»So oft kommt das gar nicht vor«, widersprach sie trocken. »Also lass mir den kleinen Triumph, okay?«

Gideon lachte. »Na gut. Wie können wir dich unterstützen, Tom?«

Tom erhob sich und strich seine Krawatte glatt. »Indem alle hier am Leben bleiben. Seid zur Stelle, wenn ich Antworten zu Eden brauche, und bleibt alle am Leben. Riskiert nichts, und geht nirgendwo hin, wo ihr ungeschützt seid. So wie in Snowbush. Für den Moment habt ihr noch Personenschutz, aber ich kann nicht sagen, wie lange das noch so bleiben wird, und von unserem neuen Boss können wir nicht viel erwarten. Der hält nur Molinas Stuhl warm, solange sie weg ist.« Er sah Gideon mit erhobener Braue an. »Zumindest habe ich es so gehört.«

Gideon hüstelte. »Ja, das stammt von mir, allerdings wäre es mir lieber, wenn der stellvertretende Special Agent in Charge nichts davon erzählt, dass das auf meinem Mist gewachsen ist.«

Tom lachte. »Meine Lippen sind versiegelt.«

»Aber werden wir denn auf dem Laufenden gehalten?«, fragte Rafe verärgert, weil auch er seines Platzes verwiesen worden war. Dabei war er davon ausgegangen, dass Hunter auf ihrer Seite stand. Und wann bin ich eigentlich zu einem Kleinkind geworden? Hierbei gibt es doch keine Seiten. Sondern Gerechtigkeit für Mercy und Gideon, und das ist alles, was zählt. »Was das angeht, sind deine Lippen doch hoffentlich nicht mehr versiegelt, oder, Tom?«

Tom lächelte. »Könnte sein, dass die Kochkünste deiner Mutter mich gesprächig machen.«

Rafe erwiderte das Lächeln. Das hörte sich schon besser an. »Dann betrachte dich zum allwöchentlichen Sonntagsessen eingeladen. Und bring Liza mit.«

»Sie kommt bestimmt gern«, meinte er und schob seinen Stuhl ordentlich an den Tisch. »Ich muss jetzt los. Meldet ihr euch, wenn Amos aufgewacht ist? Er ist ein anständiger Kerl.«

Mercy begleitete ihn hinaus – auch jetzt mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sie hier zu Hause, wie Rafe erfreut feststellte. »Was ist?«, fragte sie, als sie sich wieder neben ihn setzte und sein Lächeln bemerkte.

»Er ist völlig hin und weg von dir«, lachte Farrah. Noch lag ein Schatten der Traurigkeit in ihren Augen, doch das war nur allzu verständlich, schließlich war sie dem Tod beängstigend nahe gekommen. André wirkte ein wenig gefasster, doch Rafe war klar, dass sie schleunigst nach New Orleans zurückkehren mussten, wo sie im Kreis ihrer Familie das Erlebte verarbeiten konnten.

»Und wenn schon«, erwiderte Rafe nur.

Farrahs Miene wurde ernst. »Dann bin ich glücklich. Noch glücklicher wäre ich, wenn du in New Orleans leben würdest, aber …«

Mercy räusperte sich und zögerte kurz. »Ich fliege zu Quills Trauerfeier zurück. Rafe wird mich begleiten.«

»Ich komme auch mit«, meinte Gideon. »Ich möchte gern Farrahs Familie kennenlernen. Und natürlich John und die anderen.«

»Und dann kehrt ihr alle wieder zurück, inklusive Mercy«, sagte Farrah und drückte Mercys Hand. »Das habe ich mir schon gedacht. Es ist okay, Mercy. Ich verstehe es.« Sie lächelte, und diesmal erreichte das Lächeln auch ihre Augen. »Du musst mich aber besuchen kommen, weil meine Familie groß ist, wie du ja weißt. Und dir ist klar, dass du in absehbarer Zeit auch Patentante werden wirst.«

Andrés Augen wurden groß. »Was? Ich meine … sind wir …« Sein Bass drohte sich zu überschlagen. »Wann?«

»Nicht jetzt, zum Glück. Das wäre nach all dem Stress, den uns dieser Dreckskerl beschert hat, ein schlechter Zeitpunkt.« Farrah schüttelte den Kopf. »Aber bald, okay?«

André sah sie an, als sei sie sein Augenstern, was sie auch war. »Mehr als okay.«

Mercy wischte sich die Augen ab. »Du liebe Zeit, Farrah, jetzt hast du mich doch glatt zum Weinen gebracht.«

»Aber es sind glückliche Tränen«, erwiderte Farrah.

Mercy lachte. »Ja, sogar sehr glückliche. Jetzt muss nur noch Amos aufwachen, dann ist alles wunderbar.«