Die Vorstellung, dass 1945 das Jahr oder die Stunde null für Europa war, enthält eine Wahrheit und zwei Fallen. Die wichtige Wahrheit ist, dass es für die meisten Europäer einen Moment gab, in dem sie sagten: »Endlich ist der Schrecken vorbei; lasst uns jetzt damit anfangen, aus den Trümmern wieder ein besseres Land aufzubauen.«
Die erste Falle besteht darin, dies als Ausgangspunkt zu nehmen, ohne Rücksicht auf das Jahr —1 oder das Jahr —10, also die Jahre, die zu diesem Punkt führten. Man kann die Schrecken, die unschuldigen Deutschen 1945 zugefügt wurden, nicht verstehen, wenn man nicht weiß, was Deutsche anderen Deutschen ab 1933 und anschließend dann anderen Europäern seit dem »Anschluss« Österreichs und von Teilen der Tschechoslowakei im Jahr 1938 angetan haben. Für die Völker der Sowjetunion gab es die Brutalität seit Beginn der sowjetischen Herrschaft im Jahr 1917. Im russischen Bürgerkrieg, der mancherorts bis in die 1920er Jahre hinein dauerte, starben mindestens acht Millionen Menschen, im Zuge der ukrainischen Hungersnot zu Beginn der 1930er Jahre noch einmal fast vier Millionen. Um diese Entwicklungen zu verstehen, muss man mindestens bis 1914 zurückgehen und die Ursachen, den Verlauf und das Erbe des Ersten Weltkriegs in den Blick nehmen. Einige der Streitigkeiten zwischen Staaten und Völkern, die in der Zeit nach 1989 wieder aufkamen, hatten ihre Ursprünge in der Auflösung des Osmanischen und des Habsburger Reiches vor 1914 und in der Friedensregelung, die die siegreichen Alliierten am Ende dieses Krieges durchsetzten.
Die zweite Falle ist die Annahme, dass alle Europäer dasselbe Jahr null hatten, nämlich 1945. Für Süditalien war das Jahr null 1943, nach der Invasion der Alliierten. Für einen Großteil Osteuropas begann es 1944, als die Rote Armee vorrückte, endete aber definitiv nicht 1945. In der Ukraine und in Polen gab es bis in die späten 1940er Jahre hinein heftige Kämpfe zwischen kommunistischen und antikommunistischen Kräften sowie zwischen Polen und Ukrainern. In Jugoslawien und Griechenland kam es zu ebenso erbitterten Kämpfen, wobei die britischen Streitkräfte die kommunistischen Partisanen in Jugoslawien unterstützten, während andere britische Streitkräfte die kommunistischen Partisanen in Griechenland bekämpften.
Es gab keine klare Trennlinie zwischen dem heißen und dem kalten Krieg. Österreich wurde erst mit dem Staatsvertrag von 1955 ein fester Teil des Westens. In Estland kämpften die außergewöhnlichen »Waldbrüder« bis weit in die 1950er Jahre hinein von ihren Waldverstecken aus gegen die russische Besatzung. Der letzte überlebende Waldbruder, August Sabbe, starb, als der KGB ihn 1978 verhaften wollte. In der gesamten Sowjetunion setzte das riesige Netz von Lagern, das wir unter dem Namen Gulag (dem russischen Akronym für »Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien«) kennen, die von Alexander Solschenizyn in Der Archipel Gulag beschriebenen Qualen fort. Der Gulag wurde 1960 offiziell geschlossen, doch spezielle Arbeitslager für politische Häftlinge gab es bis in die 1980er Jahre hinein.
Ab Mitte der 1950er Jahre waren die Unterdrückung und Brutalität, der die meisten Menschen im Sowjetblock ausgesetzt waren, weniger extrem als in den 1930er und 1940er Jahren. Doch wie der tschechische Dissident und Dramatiker Václav Havel immer wieder betonte, war der »Frieden«, den die Menschen in einem Land wie der Tschechoslowakei erlebten, nicht mit dem Frieden vergleichbar, den die Bürger in Frankreich, den Niederlanden oder Belgien genossen. Er wurde durch die sowjetischen Invasionen in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 sowie durch die Ausrufung des »Kriegszustands« in Polen 1981 unterbrochen und war von alltäglicher polizeilicher Repression durchsetzt.
Es handelte sich dabei freilich nicht nur um einen Ost-West-Gegensatz. Portugal und Spanien lebten weiterhin unter faschistischen Diktaturen, weshalb ihr Jahr null erst mit dem Ende dieser Diktaturen Mitte der 1970er Jahre kam. Vielleicht sollte man besser sagen, sie hatten zwei Nullerjahre. Griechenland geriet 1967 unter die Militärherrschaft der Obristen, die es erst 1974 wieder abschütteln konnte.
Als ich ein paar Tage nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 den ostdeutschen Teil der Friedrichstraße hinaufspazierte, traf ich einen Mann, der euphorisch erklärte: »28 Jahre und 91 Tage!« — exakt so lange hatte seine Familie hinter der Mauer festgesessen. Er erzählte mir, er habe gerade ein handgeschriebenes Plakat gesehen, auf dem stand: »Erst heute ist der Krieg wirklich vorbei.« Für die Gesellschaften in der sowjetisch dominierten östlichen Hälfte Europas war 1989 ihr zweites Jahr null.
Kaum hatten wir all das »abgehakt«, kam all das im ehemaligen Jugoslawien mit voller Wucht zurück. Krieg, ethnische Säuberungen, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Konzentrationslager, Terror und Lügen. Ich werde nie vergessen, wie ich 1995 in Sarajewo mit einem Zeitschriftenredakteur zusammensaß, der ausgiebig über die Zeit »nach dem Krieg« sprach und sich gelegentlich abwandte, um einen primitiven Ofen mit zersägten alten Möbelstücken zu füttern. Einen Moment lang glaubte ich, er meinte die Zeit nach 1945; dann wurde mir klar, dass er mit »nach dem Krieg« die Zeit nach 1995 meinte.
Während ich dies hier schreibe, tobt in der Ukraine ein großer Landkrieg, den Wladimir Putin im Februar 2022 mit einer groß angelegten Invasion vom Zaun gebrochen hat und der von den russischen Streitkräften mit rücksichtsloser Brutalität geführt wird. Wenn die Menschen dort irgendwann »nach dem Krieg« sagen können, dann meinen sie damit die Zeit nach 2023 oder wann immer dieser Krieg endlich endet. Das wird ein weiteres Jahr null sein. In Europa ist die Null eine immer wiederkehrende Zahl.