Das Europa, in dem ich Anfang der 1970er Jahre erwachsen wurde, lag nicht mehr in Trümmern, auch wenn in den Straßen der Städte jetzt viele hässliche neue Betonbauten dort standen, wo ältere zerbombt worden waren. Das Ganze erinnerte an einen alten Boxer, der einen Mund voller schlecht sitzender falscher Zähne präsentiert. Der Kontinent zeichnete sich nicht mehr dadurch aus, dass er zerstört war, sondern dass er zwischen »Ost« und »West« geteilt war, zwischen zwei Blöcken, die von ihren jeweiligen Supermächten, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, angeführt wurden. Zwar bekämpften sich die beiden Blöcke nicht auf europäischem Boden, aber sie befanden sich in einem Kalten Krieg, wie er treffend genannt wurde. Die meisten Trennlinien zwischen ihnen gingen auf das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück, doch das berühmteste Symbol des Kalten Krieges, die Berliner Mauer, hatte West-Berlin erst am 13. August 1961 von Ostdeutschland abgeriegelt. Als die ursprünglich provisorische Barriere aus Stacheldraht und Betonblöcken in eine massive Mauer verwandelt wurde, war die Ost-West-Trennung buchstäblich in Beton gegossen. Für die meisten, die hinter der Mauer aufwuchsen, schien sie auf ewig Bestand zu haben.

Fasziniert machte ich mich gleich nach dem Ende der Schulzeit auf, dieses geteilte Europa zu erkunden. Ich begann im Westen. Im Herbst 1973, mit achtzehn, arbeitete ich auf einem umgebauten Truppentransporter, der SS Nevasa, der britische Schulkinder durchs Mittelmeer schipperte. An einem Samstag, dem 17. November 1973, besuchten wir die Insel Kreta. In meinem Tagebuch habe ich festgehalten, dass ich während der Besichtigung der außergewöhnlichen bronzezeitlichen Ausgrabungsstätte von Knossos »über die Diktatur nachgedacht [habe]. Dann 4 Uhr nachmittags Ausgangssperre. 1000 Schüler zurück zum Schiff getrieben. Alles wegen der Studentenunruhen in Athen. Das ist Diktatur!«

Von »Studentenunruhen« würde ich heute nicht mehr sprechen. Tatsächlich nämlich war die Besetzung des Polytechnikums in Athen durch die Studenten ein entscheidender Moment in der Geschichte der Militärdiktatur, die sechs Jahre zuvor durch einen Putsch einer Gruppe von Offizieren errichtet worden war, die in der ganzen Welt als »die Obristen« bekannt geworden sind. Während in einem improvisierten Kurzwellensender (unter dem Namen »Radio Station of the Free and Fighting Students, The Free and Fighting Greeks«) »Wenn die Glocken läuten« und andere mitreißende Befreiungslieder von Mikis Theodorakis liefen, forderten die Studenten, die das Polytechnikum besetzten, »Brot — Bildung — Freiheit« und beschmierten die Wände mit Parolen wie »Alle Macht dem Volk«, »Nieder mit der Armee« und »Sexuelle Freiheit«. Auf einem anderen Graffito stand einfach nur »Mai ’68«, und dieser Protest hier an der Athener Universität war die etwas verspätete griechische Manifestation der speziellen 68er-Generation, die das gesellschaftliche und kulturelle Leben in Europa verändern sollte. Einer der führenden anarchistischen Demonstranten namens Aretoula soll »Ein Hoch auf die Orgien!« an die Wand gepinselt haben. »Wo waren die? Ich wünschte, die wären wirklich passiert«, sagte ein alternder ehemaliger Aktivist viele Jahre später traurig zu einem Historiker.

Doch in der Nacht vom 16. auf den 17. November fand der Befreiungszirkus ein jähes und bitteres Ende. Scharfschützen des Regimes töteten in den Straßen rund um das Polytechnikum rund 24 Zivilisten. Ein Panzer durchbrach das Haupttor, zermalmte der Studentin Pepi Rigopoulou die Beine und sorgte für das bleibende fotografische Dokument dieser Ereignisse. Dann verhängten die Obristen eine Ausgangssperre im ganzen Land, sogar auf der rund 500 Kilometer entfernten Insel Kreta, wo unsere Schiffsladung britischer Schulkinder davon überrascht wurde. Mein achtzehnjähriges Ich hatte also nicht unrecht, als es ausrief: »Das ist Diktatur!« Fünf Tage später sahen wir auf den großen Plätzen Athens ganze Busladungen von Soldaten.

Europa der Diktatoren lautet der Titel eines Buches über die 1930er Jahre, doch 1973 war ein Großteil unseres Kontinents immer noch ein Europa der Diktatoren. Zählt man die europäischen Republiken der Sowjetunion hinzu, so lebten etwa 389 Millionen Europäer in Diktaturen, aber nur 289 Millionen in Demokratien. (Die Türkei mit weiteren 37 Millionen Menschen lag irgendwo zwischen diesen beiden Regierungsformen.) Die meisten dieser Diktaturen waren kommunistisch regierte Staaten hinter dem, was Winston Churchill bereits 1946 als »Eisernen Vorhang« tituliert hatte, der die östliche Hälfte des Kontinents abtrennte.

Die rechtsgerichteten Diktaturen Südeuropas jedoch standen den 1930er Jahren sowohl vom Geist als auch von der historischen Kontinuität her am nächsten. So verboten die griechischen Obristen lange Haare, Miniröcke und das Studium der Soziologie. António Salazar, ein ehemaliger Professor für Nationalökonomie und zutiefst konservativer Katholik, regierte Portugal von 1932 bis zu seinem Tod im Jahr 1970. In den 1930er Jahren hatte er seine Bewunderung für den faschistischen Diktator Italiens, Benito Mussolini, zum Ausdruck gebracht. Seine allgegenwärtige politische Polizei wird von einem Historiker als »ähnlich wie die deutsche Gestapo, wenn nicht sogar von ihr ausgebildet« beschrieben, sie hatte in jedem Dorf und in jedem Büro ihre Spitzel.

In Spanien regierte General Francisco Franco, der 1939 aus einem langen, brutalen Bürgerkrieg als Sieger hervorgegangen war, bis zu seinem Tod im Jahr 1975. Während des Krieges war Franco mit einem gerahmten Bild von Adolf Hitler auf seinem Schreibtisch fotografiert worden. Noch Anfang der 1970er Jahre reckten Francos engste Vertraute, darunter seine Frau Carmen Polo und sein Leibarzt Dr. Vicente Gil Garcia, den rechten Arm zum faschistischen Gruß, wie er von Hitler und Mussolini eingeführt worden war. Als die SS Nevasa uns am 20. November 1973 von Kreta nach Athen brachte, nahm Franco an einem Gedenkgottesdienst für den faschistischen Helden und Gründer der Falange-Partei, José Antonio Primo de Rivera, teil. Pressefotos zeigen den Generalissimo — wie Franco in aller Bescheidenheit genannt wurde —, wie er in der paramilitärischen Uniform der Nationalen Bewegung die Stufen im monumentalen Tal der Gefallenen hinunterschreitet. Franco-Fahnen wurden geschwenkt, und die Menge sang die Falangisten-Hymne »Cara al Sol«. Halten wir einen Moment inne, und stellen wir uns vor, Italien wäre bis 1975 von einem gealterten Mussolini regiert worden.

Sowohl Salazar als auch Franco passten sich an die veränderten äußeren Umstände an und schlossen sich den westlichen Alliierten an, als klar wurde, dass Hitler und die Achsenmächte besiegt werden würden. Schließlich hassten auch die Faschisten die Kommunisten. Portugal wurde 1949 sogar Gründungsmitglied der NATO. In den frühen 1970er Jahren waren diese autoritären Regime zwar geschwächt, aber immer noch widerwärtig genug.

Als frischgebackener britischer Universitätsabsolvent ging Jonathan Keates 1970 mit 23 Jahren nach Porto, um dort englische Sprache und Literatur zu unterrichten. Zu seinem großen Erstaunen bestand eine seiner Klassen darauf, ihn zu einem Picknick in den Weinbergen und Olivenhainen des Douro-Tals einzuladen. Jonathan, heute ein angesehener Autor und leidenschaftlicher Europäer, erinnert sich:

Kaum hatten wir mit dem Essen begonnen, erzählte mir einer nach dem anderen aus der Gruppe auf Englisch von den verschiedenen Verbrechen und Schandtaten des Regimes. Einige von ihnen hatten Verwandte und Freunde, die Opfer von Polizeigewalt geworden waren, andere wussten von Menschen, die gefoltert oder in Internierungslager auf den Kapverdischen Inseln geschickt worden waren, wieder andere berichteten von den Nachteilen, die sie erlitten hatten, weil sie subversiver Ansichten oder Aktivitäten verdächtigt wurden. Ab und zu stand einer von ihnen auf, ging an den Rand des Feldes und schaute vorsichtig über die Trockenmauer — man wusste schließlich nie, wer da möglicherweise zuhörte, selbst in einem abgelegenen Olivenhain. Meine britische Selbstgefälligkeit fing in diesem Moment ein wenig zu bröckeln an.

Selbst nach dem Tod des portugiesischen Diktators gewann die postsalazaristische Nationale Volksaktion 1973 alle 150 Sitze in der Nationalversammlung. Nach der Ermordung eines Studenten durch die Geheimpolizei im Jahr zuvor hatte sich die Repression verschärft. In Portugal gab es 476 politische Gefangene, darunter 187 Studenten. Die Strafe für einen Mann, der seine ehebrecherische Ehefrau oder ihren Liebhaber oder beide zusammen ermordete, war lediglich eine sechsmonatige Verbannung aus dem Bezirk.

Und dann war da noch Griechenland. Ein paar Monate nachdem ich in die Ausgangssperre der Obristen geraten war, teilte ich mir in dem malerischen bayerischen Städtchen Prien am Chiemsee, wo wir beide Deutsch lernen sollten, ein Zimmer mit einem jungen Griechen, den ich nur als Giorgos kannte. Seine Eltern schickten ihm regelmäßig große Pappschachteln mit Pistazien, weil sie offenbar befürchteten, eine Ernährung mit bayerischem Bier und Weißwürsten könnte seiner Gesundheit irreparable Schäden zufügen. Er war in einer Villa in Kifisia, einem wohlhabenden nördlichen Vorort von Athen, aufgewachsen, aber einer seiner Onkel war während des Krieges Partisanenhauptmann gewesen und dann Kommunist geworden. »Warum?«, fragte ihn der kleine Giorgos einmal. Der alte Partisan antwortete, er habe nicht fünf Jahre lang in den Bergen dafür gekämpft, Griechenland von den Deutschen zu befreien, nur damit es »eine Kolonie der Amerikaner« werde.

Ein anderer Onkel war ein kommunistischer Gewerkschafter im Hafen von Piräus gewesen. Als es in der Nacht des Obristen-Putsches 1967 an seiner Haustür klingelte, floh er durch den Hinterausgang. Zwei Jahre verbrachte er im Untergrund und zog konspirativ von Haus zu Haus, genau wie meine Freunde in Polen unter dem Kriegsrecht. Seine Frau zog derweil zu Giorgos’ Familie in deren schöne bürgerliche Villa. Wenn sie abends auf der Terrasse saßen, sahen sie manchmal zwischen den Bäumen am Ende des Gartens Taschenlampen, mit denen die Polizei in den Blumenbeeten nach dem »Roten« suchte. »Sollen wir unseren Freunden einen Kaffee anbieten?«, scherzte die Familie.

Giorgos erzählte diese Geschichten mit großer Eindringlichkeit bei bayerischem Bier und griechischen Pistazien, aber er selbst war nicht besonders politisch. Während ich mit großem Ernst in die Tiefen von Friedrich Nietzsche und Thomas Mann eintauchte, widmete er seine Abende dem Knutschen mit den Mädchen in der örtlichen Disco zu den Klängen von »Schwarze Madonna«. Dieser vor Schmalz nur so triefende Schlager wendet sich an ein schönes Mädchen, das weinend an einem Fluss unter den Sternen sitzt. Wenn sie heute Nacht bei ihm bleibe, versprach da der jugoslawisch-deutsche Sänger Bata Illic mit einer unwiderstehlichen Drehung seiner Schlaghosen, »dann wird morgen früh schon für dich und mich die Sonne scheinen«. Und dann kam dieser Refrain, der mir bis heute wie eine verirrte Gräte im Hals steckt: »Es ist nie zu spät, das Glück kommt und geht. Schwarze Madonna!« Obwohl mir der Gedanke damals nicht kam, als ich in meiner eigenen hässlichen braunen Schlagjeans durch das Städtchen schlenderte, war die Allgegenwart dieses Liedes ein Zeichen für die rasch fortschreitende Säkularisierung in Westeuropa. Selbst im konservativen, katholischen Bayern konnte der Disco-Hit des Tages von einem Mann handeln, der versucht, eine »Schwarze Madonna« — eine Figur, die traditionell die Mutter Gottes darstellt und von den christlichen Europäern seit Jahrhunderten als »reinste Jungfrau« verehrt wird — gleich bei ihrer ersten Begegnung zu außerehelichem Sex zu überreden.

Eine solche Blasphemie wäre im staatlich kontrollierten Rundfunk und Fernsehen im Portugal von Salazar oder in Francos Spanien nie gesendet worden und wahrscheinlich auch nicht im konservativen, von der Kirche dominierten Irland. In den frühen 1970er Jahren verbot die Zensur im Franco-Land Spanien unter anderem »Good Vibrations« von den Beach Boys (»völlig erotische Stimmung«, schrieb der Zensor, »Lied spielt auf sexuelle Erregung an«), »Rock Steady« von Aretha Franklin (»der Text und der Rhythmus der Musik regen dazu an, die Hüften zu bewegen«), »Tiny Dancer« von Elton John (»despektierliche Stimmung«) und »Imagine« von John Lennon. Sonia Cuesta Maniar, eine spanische Geschichtsstudentin, die mir bei meinen Nachforschungen geholfen hat, kann keinen Hinweis auf ein ausdrückliches Verbot von »Schwarze Madonna« finden. Aber sie erzählt mir, dass ihre Großeltern, Ricardo und Julia Cuesta, sich daran erinnern, wie nervös sie waren, als sie aus Westdeutschland, wo sie sogenannte Gastarbeiter waren, zurückkamen und die spanische Grenze überquerten, während »Schwarze Madonna« im Autoradio lief. Sie waren nervös, weil sie aus einem freien Land in eine Diktatur zurückkehrten.

Giorgos nahm die Obristen eher auf die leichte Schulter, aber für viele junge Griechen, Spanier und Portugiesen prägten die Erfahrungen mit diesen Diktaturen und der Kampf gegen sie ihr politisches Engagement fürs ganze Leben. Es war der Treibstoff für ihre Erinnerungsmotoren. Einige von ihnen sollten bis ins frühe 21. Jahrhundert hinein Einfluss auf die europäische Politik haben. Maria Damanaki zum Beispiel, die Stimme des studentischen Radiosenders damals am Athener Polytechnikum, war zwischen 2010 und 2014 griechische EU-Kommissarin.

Präsident der Europäischen Kommission, der Maria angehörte, war der portugiesische Politiker José Manuel Barroso. An der Wand seines Büros im Berlaymont-Gebäude in Brüssel hing ein gerahmtes Foto aus einer Ausgabe des französischen Magazins Paris-Match vom Juni 1970. Es zeigte den Leichnam von Salazar in einem Sarg bei Kerzenlicht, daneben ein hellhäutiger Zwerg aus der damaligen portugiesischen Kolonie Angola und ein schwarzer Riese aus der anderen großen afrikanischen Kolonie Portugals, Mosambik. Die Bildunterschrift lautete: »Dieses Foto stammt nicht aus einem Film von [dem spanischen Filmregisseur] Buñuel«. Barroso erinnert sich, dass für ihn, den damals Vierzehnjährigen der Anblick dieses Bildes in Paris-Match der Moment politischen Erwachens war. Es führte ihm vor Augen, wie grotesk und rückständig sein Land im Vergleich zum modernen Europa jenseits der Pyrenäen wirkte. Ein paar Jahre später kam sein Lieblingslehrer am Gymnasium mit bandagiertem Kopf in die Klasse, Folge einer Prügelei mit der Bereitschaftspolizei, wie der Lehrer erklärte. Im Alter von achtzehn Jahren war José Manuel maoistischer Aktivist — auch bekannt als »Genosse Veiga« — an seiner Universität in Lissabon, denn der Maoismus war die bevorzugte antiautoritäre linke Bewegung in Portugal. Barroso bezeichnete später den 25. April 1974, den Tag, an dem die Post-Salazar-Diktatur im Zuge der »Nelkenrevolution« gestürzt wurde, als »den wichtigsten Tag in meinem Leben«.

Javier Solana, der 1999 der erste Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wurde, wird nie vergessen, wie er im Alter von siebzehn Jahren seinen älteren Bruder Luis im berüchtigten spanischen Gefängnis Carabanchel besuchte — »immer donnerstags und sonntags«, wie er sich erinnert. Luis war in einer Studentengruppe aktiv, die mit der verbotenen sozialistischen Partei in Verbindung stand. Seinen Mut bezahlte er mit zwei Jahren Haft, nachdem er von Francos Sicherheitspolizei verhört und geschlagen worden war. Das Beispiel von Luis inspirierte seinen jüngeren Bruder dazu, sich in der sozialistischen Politik im Untergrund zu engagieren, was dazu führte, dass Javier selbst 1963 von der Madrider Complutense-Universität verwiesen wurde. Nach Jahren in den Vereinigten Staaten, wo er sich von der Bürgerrechtsbewegung und den Protesten gegen den Vietnamkrieg inspirieren ließ, kehrte Solana zurück und wurde Anfang der 1970er Jahre eine führende Persönlichkeit in der nach wie vor illegalen sozialistischen Partei Spaniens.

Spanien, Portugal und Griechenland machten in den 1970er Jahren einen Begriff populär, der die nächsten fünfzig Jahre durchtönen sollte: Transition. Das Wort wurde zur Kurzformel für den »Übergang von der Diktatur zur Demokratie«, ein Prozess, der in der Folge in vielen Ländern Lateinamerikas, in Teilen Asiens und Afrikas, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa nach 1989 zu beobachten war und auf dessen Ergebnis liberale Europäer wie ich in anderen Teilen der Welt (oft vergeblich) hofften, etwa in Nordafrika und im Nahen Osten nach dem »Arabischen Frühling« von 2011.

In Südeuropa war dieser Übergang untrennbar mit einem anderen verbunden: dem Beitritt zu dem, was damals oft schlicht die Europäische Gemeinschaft genannt wurde. Griechenland wurde 1981 in aller Eile in die Gemeinschaft aufgenommen, weniger als sieben Jahre nach dem Sturz der Obristen. Nicht unwichtig dabei war, dass Griechenland von einer Generation noch klassisch gebildeter europäischer Spitzenpolitiker als die Wiege der europäischen Zivilisation angesehen wurde. »Zu Platon sagt man nicht Nein«, belehrte der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing hochmütig einen Beamten der Europäischen Kommission. Die platonlosen Länder Spanien und Portugal mussten mehr als ein Jahrzehnt lang kämpfen und gedeihen, bis sie 1986 endlich beitreten durften.

Für Südeuropäer wie Barroso und Solana war der Kampf um Freiheit, Demokratie und Europa ein und derselbe Kampf. Die Ankunft in »Europa«, also in der Europäischen Gemeinschaft, sollte den Übergang zur Demokratie konsolidieren. Freiheit bedeutete Europa, und Europa bedeutete Freiheit. Ein solches Denken ist den meisten Briten mit ihren ganz anderen historischen Erfahrungen völlig fremd. Für einen Mann wie meinen Vater stand England für Freiheit, und Europa war die Bedrohung dieser Freiheit. Aber vielen anderen Europäern ist die andere Denkweise durchaus vertraut.

Die meisten Menschen in der Republik Irland zum Beispiel erlebten den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1973, gleichzeitig mit Großbritannien, als eine Stärkung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit. Der irische Schriftsteller Fintan O’Toole erinnert sich daran, wie Anfang der 1970er Jahre eine neue Redewendung ins irische Englisch Einzug hielt: »We’re into Europe«, was so viel bedeutete wie »Alles ist gut«.

Man fragte: »How are things?«, und die Antwort lautete: »Ah sure, we’re into Europe.« Oder jemand sagte: »Isn’t it a grand day?«, und man antwortete: »Oh, it is, sure, we’re into Europe.«

Gleiches galt für die meisten Mittel- und Osteuropäer, nachdem die Berliner Mauer gefallen war. Polen orientierte sich bewusst am Beispiel Spaniens, als es sich auf den Weg zu seinem eigenen doppelten Übergang machte, hin zur Demokratie und hin zu Europa. Diese beiden Nationen, die beide, Spanien wie Polen, im 16. und 17. Jahrhundert eine imperiale Macht waren, die beide ein stolzes aristokratisches Erbe haben und die beide stark von der katholischen Kirche geprägt wurden, hatten auch ein kompliziertes Verhältnis zu Europa gemeinsam. In verschiedenen Phasen ihrer Geschichte, bis weit in die jüngste Vergangenheit hinein, beharrten beide trotzig darauf, dass sie zu Europa gehörten — schon immer und für immer, Europa ist ohne sie undenkbar —, und ebenso beharrlich darauf, dass sie jetzt nach Europa zurückkehren müssten. Aber wie kann man dorthin zurückkehren, wo man bereits ist? Dieses nur scheinbare Paradoxon löst sich auf, sobald wir erkennen, dass die Europäer das Wort »Europa« in einer Bedeutungsvielfalt verwenden, zur Verwirrung von Außenstehenden und oft genug auch zur eigenen.