LESEPROBE


Usch Luhn
Pimpinella Meerprinzessin Band 1:
Ankunft im Muschelschloss
ISBN 978-3-473-36701-6

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1

Krokodilfüße zum Anfassen

„Nella!“

Keine Antwort.

„Nella, komm ins Haus! Es gibt Sturm heute.“

Nella musste sich anstrengen, um nicht laut loszukichern und ihr Versteck zu verraten.

Zu komisch sah Oma Ida aus. Weil sie gerade Kuchen backte, klebte noch ein Rest Teig an ihrer Wange und ihr blauer gepunkteter Rock war mit Mehl bestäubt. Scheinbar hatte sie sich in aller Eile eine zu große gelbe Regenjacke geschnappt und Opa Josts Pudelmütze windschief über ihre kurzen schwarzen Haare gezogen. Ihre bloßen Füße steckten in grünen Gartenschuhen aus Gummi und sahen aus wie Krokodilmäuler.

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Nella lag bäuchlings im hohen Gras und verbarg ihren feuerroten Lockenkopf so tief wie möglich hinter den buschigen Dünenrosen. Dabei achtete sie sorgsam darauf, dass sie die zarten Blütenköpfe nicht zerquetschte. Bei ihren Rosen verstand Oma Ida nämlich keinen Spaß. Nun sah man kaum noch mehr von ihr als eine winzige weiße Nasenspitze.

Die Dünenrosen, aus denen Oma Ida im Herbst Hagebutten für leckeren Tee trocknete, trugen denselben ungewöhnlichen Namen wie Nella: Pimpinella.

„Nella! Mach keinen Unsinn. Wo steckt diese Krabbe nur schon wieder?“ Oma Ida machte einen weiteren Schritt in den blühenden Garten.

Nella atmete tief ein und hielt die Luft an. Oma Ida roch nach frisch geschnittenen Äpfeln. Also gab es Apfelkuchen. Lecker!

Doch leider hatte Nella überhaupt keine Lust, ihren allerersten Ferientag drinnen im Haus bei Oma Ida zu vertrödeln. Auch wenn es ihren Lieblingskuchen zum Tee gab.

Oma Ida arbeitete als Krankenschwester in dem kleinen Fischerdorf, in dem Nella zusammen mit ihren Großeltern wohnte.

Sie hatte schon einmal dem Bürgermeister höchstpersönlich den oberen linken Backenzahn gezogen, als der Zahnarzt gerade im Skiurlaub gewesen war. Kein Wunder also, dass Oma Ida sehr beliebt war.

Allerdings, fand Nella, war Oma Idas wirklicher Beruf Apfelkuchenbäckerin. Mit ihrem köstlichen Apfelkuchen hatte sie schon dreimal hintereinander den Pokal beim Hafenfest gewonnen.

Ihr geheimes Apfelkuchenrezept lag sicher verwahrt in einer echten Schatztruhe, die Opa Jost von einer Weltreise mitgebracht hatte. Nur er selbst besaß einen Schlüssel dafür. Und diesen geheimnisvollen Schlüssel trug er sogar nachts an einem speckigen Lederband um seinen Hals. Bestimmt tausendmal hatte Nella Opa Jost, der von allen nur der Käpt’n genannt wurde, angebettelt, sie in die Truhe hineinschauen zu lassen.

Aussichtslos!

Immer wieder spann der Käpt’n neues Seemannsgarn und dachte sich die abenteuerlichsten Begründungen dafür aus, dass der heutige Tag auf gar keinen Fall für einen Blick in die Truhe infrage kam. Irgendwann war Nella deshalb richtig wütend geworden. Eines Nachts, als Oma Ida und der Käpt’n schliefen, hatte sie heimlich versucht, das Schloss mit einer spitzen Nagelschere aufzuknacken.

Vergeblich!

Opa Jost war viele Jahre um die ganze Welt geschippert, bis er das Herumreisen sattgehabt hatte und von einem Tag auf den anderen Leuchtturmwärter geworden war. Der beste Leuchtturmwärter weit und breit! Wenn Nella nicht zur Schule gehen musste, blieb sie manchmal einen ganzen Tag lang mit ihm auf dem Turm. Dann kletterte er mit ihr die dreihundertsechs Stufen bis unter das eiserne Dach hinauf und ließ sie durch sein Fernglas schauen. Nella war fest davon überzeugt, dass man dort oben bei gutem Wetter bis nach Australien gucken konnte.

Mittlerweile waren Oma Idas Krokodilfüße zum Anfassen nahe.

Echt witzig.

Oma Ida schüttelte besorgt den Kopf. „Das Kind wird sich doch nicht plötzlich unsichtbar machen können,“ murmelte sie. „Hoffen wir das Beste.“

Nella spürte ein nicht aufzuhaltendes Glucksen. Um nicht alles zu verderben, presste sie schnell beide Handflächen so fest wie möglich auf ihren Mund. Sie schüttelte sich lautlos vor unterdrücktem Lachen.

In Gedanken versunken ging Oma Ida ins Haus zurück und schloss die Tür.

Endlich!

Die Erwachsenen machten sich immer viel zu viele Sorgen um Kinder, dachte Nella. Immerhin war sie beinahe zehn Jahre. Steinalt also. Sie konnte sehr gut auf sich selber aufpassen.

Nella sprang ungeduldig auf. Ein kleiner Windstoß blies Pimpinella Ozeana Filomena Petersilie Seestern, wie Nella mit vollem Namen hieß, doch nicht ins Meer hinaus. Schließlich stammte sie aus einer waschechten Seemannsfamilie.

Übermütig hechtete sie über den Gartenzaun und stürmte barfuß hinunter zum Meer.

Sie hatte heute nämlich noch sehr viel vor.