14

Eine Woche lang hatte sie immer wieder auf ihrer Privatnummer angerufen. Anfangs waren die Anrufe auf die Mailbox gegangen. Beim Klang seiner Stimme hatte sie tief durchatmen müssen, um sich zu beruhigen. Das Warten auf einen Rückruf war noch schlimmer gewesen.

Dann wechselte die Ansage zu »Mailbox voll«. Ihre E-Mails kamen als unzustellbar zurück. Es gab keinen Festnetzanschluss, auf dem sie es hätte versuchen können – er hatte ihn stilllegen lassen, bevor sie nach Afrika abgereist war.

Am sechsten Tag teilte ihr eine Automatenstimme mit, dass seine Mobilnummer nicht mehr aktiv sei. Inzwischen drehte sie fast durch. Es gab niemanden sonst, den sie hätte bitten können, nach ihrer Tochter zu sehen. Wie konnte sie irgendjemandem erklären, wie er wirklich war? Was sie befürchtete, dass er getan hatte?

Sie hatte geglaubt, sie könnte die Dinge aus einem neuen Blickwinkel sehen, wenn sie eine Auszeit nahm, und dann würde sie vielleicht erkennen, dass sie sein Verhalten unverhältnismäßig aufgebauscht hatte – vor allem, wenn sie ihr Leben mit dem der Menschen verglich, die wirklich Not litten.

Aber sie hatte sich getäuscht, und jetzt hatte sie Angst. Sie würde nach Hause fahren müssen, würde all ihren Mut zusammennehmen und ihm sagen müssen, dass sie die Trennung – nein, die Scheidung wollte, und dann würde sie sich den Konsequenzen stellen müssen.

Ein leises Rattern stahl sich nach und nach in Kincaids Bewusstsein. Schlaftrunken schlug er ein Auge auf. Es war dunkel im Zimmer bis auf den schwachen Schein des Nachtlichts. Gemma lag mit dem Rücken an seine Seite geschmiegt, die Bettdecke war verrutscht, und ihre nackte Schulter lag frei.

Er lauschte ihren tiefen, regelmäßigen Atemzügen, während die Erinnerung an den Abend in kleinen Bruchstücken zurückkam. Gemma war beschwipst gewesen – eigentlich mehr als nur beschwipst –, und er hatte keinen Widerstand gegen ihre leidenschaftliche Begrüßung geleistet. Im Gegenteil. Lächelnd legte er eine Hand auf die Rundung ihrer Hüfte und zog mit der anderen die Bettdecke über ihre Schulter. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ er sich aufs Kissen zurücksinken und schlief wieder ein.

Dann setzte das Rattern aufs Neue ein. Nein, kein Rattern, eher ein Summen, wie von einem wütenden Insekt. Jetzt war er wirklich wach und riss die Augen auf. Sein Handy, das er mit dem Display nach unten auf den Nachttisch gelegt hatte, als er sich hastig ausgezogen hatte, vibrierte auf dem harten Untergrund.

Halblaut fluchend nahm er das Telefon und schlüpfte aus dem Bett. Und dann fluchte er noch einmal, als er in der kalten Schlafzimmerluft sofort eine Gänsehaut bekam. In zwei großen Schritten war er im Bad, wo er fröstelnd in seinen Bademantel schlüpfte. Dann erst warf er einen Blick auf das Display. Es war halb sieben. Und sämtliche verpassten Anrufe waren von Simon Gikas. Ihm schwante Übles.

Er setzte sich auf den Rand der Wanne und rief Simon zurück.

Der nahm beim ersten Läuten ab. »Chef. Tut mir leid, dass ich Sie an einem Sonntag in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt habe.«

»Was ist passiert?«

»Es hat wieder einen Toten gegeben – möglicherweise erstochen. Diesmal am Soho Square. Ein Mann, der frühmorgens mit seinem Hund unterwegs war, hat jemanden reglos im Rinnstein liegen sehen. Als er feststellte, dass der Mann nicht ansprechbar ist, hat er den Notruf alarmiert. Die Kollegen von der Streife sind vor Ort.«

»Ist er schon identifiziert?«

»Ich glaube, Sie haben erst gestern mit ihm gesprochen, im Krankenhaus. Ein gewisser Neel Chowdhury. Ein Kollege vom Revier Westminster hat mich angerufen, als der Name in deren System auftauchte. Ich hatte Chowdhury als Verdächtigen im Fall Johnson in die HOLMES -Datenbank eingetragen.«

Jetzt war Kincaid hellwach. Er sprang auf. »Rufen Sie Doug an. Und Sidana. Wer ist diensthabender Rechtsmediziner?«

»Ich habe Rashid angerufen.«

»Gut gemacht.« Kincaid rieb sich das stopplige Kinn. »Ich komme, so schnell ich kann.«

Als er wenige Minuten später ins Schlafzimmer tappte, hatte Gemma sich im Bett aufgesetzt. Sie knipste die Nachttischlampe an, strich sich die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht und blinzelte ihn an. »Was ist, Schatz? Ich hab die Dusche gehört.«

»Wieder ein Todesfall. Diesmal in Soho.«

»Doch nicht wieder eine junge Frau?«

»Nein, ein Mann. Und zwar der Pflegedienstleiter von Sasha Johnsons Station. Doug und ich haben ihn gestern vernommen.« Er zog ein Baumwoll-T-Shirt an und darüber ein Oberhemd, um gegen die Kälte gewappnet zu sein. »Wir wollten heute noch mal mit ihm reden.«

»O nein. Das lässt Schlimmes befürchten, nicht wahr?«

»Allerdings.« Er setzte sich aufs Bett, um seine Krawatte zu binden. »Habt ihr gestern Abend etwas in Erfahrung bringen können?«

»Tyler Johnson ist im Club aufgekreuzt. Jon Gibbs war stinkwütend auf ihn – er scheint zu glauben, dass Tyler irgendwie für Sashas Tod verantwortlich ist. Und Tyler hatte Angst, aber nicht vor Gibbs. Da waren noch ein paar andere Männer, und Tyler hat sie allem Anschein nach mit Mädchen verkuppelt.«

»Du meinst, wie ein Zuhälter?«

Gemma runzelte die Stirn und zwirbelte ihr Haar hoch, wobei ihr die Bettdecke von der Brust herunterrutschte. »Nicht direkt. Die Mädchen waren ganz normale Gäste – und sie waren betrunken.«

»Haben sie euch durchschaut – Gibbs und Johnson?«

»Ach was!« Gemma lachte. »Ich würde sagen, wir waren ziemlich überzeugend als zwei alte Freundinnen, die mal wieder zusammen einen draufmachen wollen.«

Er schlüpfte in sein Tweedjackett. Der Soho Square war nur ein paar Häuserblocks von dem Club in der Archer Street entfernt. Gab es da eine Verbindung?

Die Schlafzimmertür knarrte, als Geordie sie mit seiner langen Schnauze aufstieß. »Ich muss los«, sagte Kincaid zu Gemma. »Aber hier ist jemand, der dir Gesellschaft leistet.« Er beugte sich vor, um ihr einen raschen Kuss zu geben, doch dann verweilte er noch einen Moment länger mit seinen Lippen auf ihren, während er in der Erinnerung an die Nacht schwelgte. Dann seufzte er und stand auf. »Ich ruf dich an, sobald ich kann.«

In den frühen Morgenstunden eines Sonntags wirkte London seltsam fremd, wie eine Geisterstadt, in der nur Lieferwagen unterwegs waren. Flackerndes Blaulicht erhellte den Pavillon im Tudor-Stil in der Mitte des Soho Square und ließ ihn wie eine Theaterkulisse wirken. Kincaid konnte sehen, dass die Tore des kleinen Parks noch verschlossen waren.

Der Platz – nur einen Steinwurf von der Oxford Street entfernt – war eine kleine grüne Oase, die tagsüber zu einem Spaziergang oder einem Picknick einlud. Das kleine Häuschen im Herzen der Grünanlage stammte tatsächlich aus den 1920er-Jahren und war errichtet worden, um den oberirdischen Eingang des Umspannwerks Charing Cross zu verbergen.

Kincaid fuhr um den Platz herum, vorbei an der katholischen Kirche und lenkte das Auto in eine Parklücke. Ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht versperrte den südlichen Eingang des Parks, und ein uniformierter Constable hatte auf der Straße Posten bezogen. Kincaid hob die Hand zum Gruß und zeigte seinen Dienstausweis vor.

»Die anderen warten sicher schon auf Sie, Sir«, sagte der Constable und deutete mit dem Kopf auf die kleine Gruppe, die zwischen dem Eisenzaun des Parks und einer Reihe großer schwarzer städtischer Mülltonnen stand.

Als er näher kam, erspähte er den Einzigen, der keine Uniform trug – es war Simon Gikas. Der Fallmanager seines Teams trug einen wasserfesten Anorak über einem alten Uni-Sweatshirt. Seine Haare sahen aus, als wäre er nur kurz mit den Fingern durchgefahren, und sein Kinn war von dichten, dunklen Stoppeln bedeckt.

»Hallo, Chef. Ich habe mir gedacht, es sollte vielleicht noch jemand die Stellung halten außer den Uniformierten«, sagte Gikas und wies mit dem Kopf auf die Kollegen. »Die anderen sind unterwegs.«

Im diffusen grauen Licht der Morgendämmerung konnte Kincaid gerade so eine dunkle Gestalt ausmachen, die zwischen den schwarzen Tonnen und dem Bordstein lag, doch er ging nicht näher heran. »Wer hat den Fund gemeldet?«

»Ein M r Quirk.« Simon zeigte auf einen der Streifenwagen, und Kincaid sah, dass jemand auf dem Rücksitz saß. »Ich habe ihn gebeten, auf Sie zu warten. Er dachte, es wäre ein Betrunkener, der seinen Rausch ausschläft, und wollte ihn wachrütteln. Als ihm klarwurde, dass alles Rütteln vergeblich war, hat er die 999 gewählt.«

»Schon wieder ein guter Samariter. Der zweite binnen zwei Tagen.«

»Er sagte, er habe zur Frühmesse gehen wollen.« Simon deutete auf die Kirche. »Er wohnt hier in der Nähe.«

»Sanitäter?«, fragte Kincaid.

»Sind schon wieder weg. Sie haben so wenig wie möglich an der Leiche verändert.«

»Was ist mit der Todesursache?«

»Da war ziemlich viel Blut, aber sie haben die Verletzungen nicht untersucht.«

»Dann müssen wir wohl auf Rashid warten«, meinte Kincaid.

Wie aufs Stichwort umrundete ein Scheinwerferpaar den Platz, und ein Auto parkte neben Kincaid ein. Einen Augenblick später kam Rashid um die Ecke getrabt, seine Tasche in der Hand. Er sah genauso zerzaust aus wie Gikas. »Eigentlich mag ich keine Leichen vor dem Frühstück«, begrüßte er sie.

»Ist wohl spät geworden gestern, Rashid?«, fragte Kincaid grinsend.

Rashid rollte mit den Augen. »Aber nicht so, wie du denkst. Ein betagter Nachbar ist gestürzt und hat sich das Becken gebrochen.« Während er redete, schlüpfte er in seinen Tyvek-Anzug, dann zog er Füßlinge über und setzte eine Maske auf. Nachdem er eine kleine Stirnlampe über seiner Kapuze aufgesetzt hatte, streifte er Handschuhe über. »Dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben.«

Kincaid versah sich ebenfalls mit Handschuhen und Füßlingen und folgte Rashid. Während er in gebührendem Abstand stehen blieb, merkte er, dass seine Hände und Füße eiskalt waren. Die unbewegte, feuchte Luft verstärkte den Geruch nach Hundeurin und verrottendem Müll aus den Tonnen, vermischt mit einer Andeutung von Blut und menschlichen Exkrementen.

Er konnte jetzt sehen, dass Chowdhury auf der Seite lag, mit dem Rücken gegen die mittlere Tonne gelehnt. War er dort zusammengebrochen oder noch ein paar Schritte gewankt? Oder hatten die Sanitäter ihn bewegt, um an seinen Ausweis zu kommen? Mithilfe der Taschenlampe seines Handys inspizierte Kincaid den Gehsteig und fand ein paar dunkle Flecken. »Ist das Blut?«, fragte er.

Rashid kauerte sich zwischen die Tropfen und die Leiche. »Spritzer möglicherweise.«

Kincaid sah sonst nichts auf den Gehsteigplatten außer ein paar Zigarettenkippen und einer weggeworfenen Mohnblüte aus Papier.

»Er ist ganz kalt«, sagte Rashid, als er mit der Untersuchung begann. »Die Totenstarre ist schon weit fortgeschritten. Seine Kleidung ist feucht, aber der Boden unter ihm ist trocken – wenn es in der Nacht geregnet hat, dürfte das bei der Eingrenzung des Todeszeitpunkts helfen.«

»Ich überprüfe das mal«, warf Gikas ein.

»Nach meiner vorläufigen Einschätzung«, fuhr Rashid fort, »würde ich sagen, dass er seit mindestens vier Stunden tot ist, aber wahrscheinlich nicht mehr als sechs oder sieben.«

»Also nach Mitternacht«, sagte Kincaid.

»Seine Brille ist zerbrochen«, stellte Rashid fest, während er das verbogene Drahtgestell löste und in einen Beweismittelbeutel steckte. »Vielleicht bei einem Kampf.«

Im zunehmenden Tageslicht konnte Kincaid sehen, dass Chowdhury eine Art Regenjacke und eine helle Hose trug.

Rashid schlug vorsichtig die Jacke zurück und legte das Kleidungsstück darunter frei. »Das sieht aus wie ein Kasack.«

Kincaid runzelte die Stirn und fragte: »Was hat er wohl mitten in der Nacht am Soho Square gewollt, immer noch in Arbeitskleidung?«

»Auf jeden Fall hatte er getrunken. Ich kann die Fahne immer noch riechen. Es sei denn, jemand hat seinen Drink auf ihn verschüttet. Das kann ich erst mit Sicherheit sagen, wenn ich seinen Magen geöffnet habe.«

»Ich habe hier seine Brieftasche.« Gikas zog Handschuhe an, ehe er sie aus einem Beutel fischte und aufklappte. »Die Adresse auf seinem Führerschein ist in der Dean Street – eine höhere Hausnummer, also nicht weit von hier. Er könnte auf dem Heimweg gewesen sein.«

»Wir haben gestern im Krankenhaus mit ihm gesprochen. Er wird doch nicht gestern Abend gegen Mitternacht immer noch im Dienst gewesen sein.«

»Hier steckt eine Quittung, zusammengefaltet über seiner Kreditkarte.« Gikas strich das Papier glatt. »Von einem Laden namens ›Bottoms Up‹, nur zwei Blocks von hier. Muss einer dieser Clubs sein, die bis in die frühen Morgenstunden geöffnet haben.«

Rashid hatte inzwischen den blutbefleckten Kasack geöffnet und sagte: »Er ist ziemlich übel zugerichtet, anders als das Opfer vom Russell Square.« Der Strahl seiner Stirnlampe glitt über Chowdhurys freigelegte Brust. »Ich glaube, es sind zwei Wunden – Stiche, keine Schnitte. Möglich, dass sie von ein und derselben Waffe stammen, aber die Stiche wurden nicht so sauber ausgeführt.« Rashid blickte auf. »Er war nicht sofort tot.«

Kincaid stellte sich vor, wie Chowdhury allein und verlassen auf dem kalten Pflaster gelegen hatte, während er sein Leben aushauchte, und schüttelte den Kopf. »Was ist mit seinen Händen?«, fragte er. »Kannst du irgendwelche Abwehrverletzungen sehen?«

»Da ist etwas Blut an seinem rechten Zeigefinger, aber nach der Lage seiner Hände zu schließen, ist es höchstwahrscheinlich sein eigenes.« Chowdhury hatte sich also die Brust gehalten, als er starb, dachte Kincaid.

»Viel mehr kann ich hier nicht tun.« Rashid begann seine Instrumente in die Tasche zu packen. »Ich sage Bescheid, wenn wir ihn für die Obduktion fertig gemacht haben.« Flackernde Lichter verkündeten die Ankunft des Transporters der Spurensicherung. »Ah, gutes Timing«, fügte er hinzu, während er aufstand.

Kincaid drehte sich um, als er hinter sich Schritte hörte.

»Chef«, rief Jasmine Sidana, als sie auf ihn zulief. »Entschuldigen Sie die Verspätung. Mein Auto ist nicht angesprungen.« Sie trug ihren gewohnten dunklen Hosenanzug und sah noch blasser und strenger aus als sonst. Verkatert, schlussfolgerte Kincaid. Dann erhellte plötzlich ein Lächeln ihre Züge. Kincaid war so verblüfft, dass er einen Moment brauchte, um zu merken, dass es nicht ihm galt.

»Inspector«, sagte Rashid. Er war von der Leiche zurückgetreten, um seine Maske abzunehmen und die Kapuze zurückzuschlagen. Einzig und allein Rashid, dachte Kincaid, konnte selbst in einem Strampelanzug noch eine gute Figur machen.

»Dr. Kaleem«, erwiderte Sidana, wieder ganz geschäftsmäßig, doch da waren immer noch diese verräterischen Fältchen um ihre Augenwinkel.

Doug traf ein, als Rashid aufbrach. Wie Sidana sah er ein wenig übernächtigt aus.

»Kurze Nacht, wie?«, fragte Kincaid, während er ihn musterte. Offenbar war er der Einzige, der einen ruhigen Abend verbracht hatte.

»Nicht direkt«, murmelte Doug und kniff die Lippen zusammen. Er nickte zu dem Tatortteam hin, das sich jetzt um die Leiche herum zu schaffen machte. »Simon hat gesagt, es wäre Chowdhury, der Krankenpfleger. Stimmt das?«

Kincaid berichtete ihm, was sie bisher wussten, und fügte hinzu: »Wir müssen uns diesen Club anschauen, aber ich rechne nicht damit, dass wir um diese Uhrzeit dort jemanden antreffen.«

Simon blickte von seinem Handy auf. »Ich habe gerade nachgeschaut. Die Bar öffnet erst um zweiundzwanzig Uhr, aber ich sehe mal, ob ich eine Kontaktperson ermitteln kann, mit der Sie schon eher sprechen können.«

»Damit haben wir zumindest ein Zeitfenster für Chowdhurys Ankunft in dem Lokal.« Kincaid überlegte eine Weile. »Wir müssen heute Morgen als Erstes mit dem Krankenhauspersonal sprechen, aber zuerst will ich mir seine Wohnung ansehen.« Er hatte sich von den Spurensicherern die bereits eingetüteten und etikettierten Schlüssel geben lassen, für den Fall, dass Chowdhury allein gewohnt hatte.

Sein erster Impuls war, Doug zu der Wohnung in der Dean Street mitzunehmen. Aber er war noch nicht dazu gekommen, sich von Sidana einen ausführlichen Bericht über den gestrigen Abend liefern zu lassen, und im Übrigen konnte es nicht schaden, die Wogen ein wenig zu glätten, nachdem er sie gestern so zusammengestaucht hatte. »Doug, schnapp dir einen der Constables und sieh zu, wen du im Krankenhaus zu fassen kriegst. Jasmine, Sie kommen bitte mit mir, um Chowdhurys Wohnung in Augenschein zu nehmen.«

Ehe Doug protestieren konnte, trat eine uniformierte Polizistin auf sie zu.

»Sir.« Sie war jung, mit frischem Teint und roten Haaren, die sie unter ihrer Mütze straff zurückgebunden hatte. »Der Mann, der die Leiche gefunden hat, möchte Sie sprechen.«

»Wenn Sie schon mal seine Personalien aufnehmen würden …«

»Hab ich schon gemacht, Sir. Er – Mr Quirk – sagt, er muss den zuständigen Beamten sprechen.« Sie holte tief Luft. »Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir: Er wartet schon eine Ewigkeit. Er muss wahrscheinlich pinkeln und würde gerne endlich frühstücken.« Ihr Akzent war reinstes Cockney.

Kincaid musste unwillkürlich lächeln. »Da haben Sie vermutlich recht. Sagen Sie ihm, ich komme gleich zu ihm.« Ehe sie sich abwenden konnte, fügte er hinzu: »Wie ist Ihr Name, C onstable?«

»Hawkins, Sir. Emily Hawkins.«

»Gute Arbeit, PC Hawkins.«

»Wahrscheinlich die künftige Polizeipräsidentin«, murmelte Sidana, als die Polizistin davoneilte.

Der besagte Mr Quirk war aus dem Streifenwagen ausgestiegen und blickte von der anderen Seite der Absperrung zu ihnen herüber.

Kincaid ging lächelnd auf ihn zu. »Mr Quirk, ich bin Detective Superintendent Kincaid. Es war eine gute Tat von Ihnen, dass Sie heute Morgen stehen geblieben sind, um zu helfen. Es tut mir leid, dass der Ausgang nicht erfreulicher war.«

»Der arme Mann.« Quirks Stimme war zittrig, dabei schätzte Kincaid ihn auf kaum älter als siebzig. Er war ein kleiner, gepflegter Mann mit angegrauten strohblonden Haaren, und er trug eine Anzugjacke mit Krawatte unter seinem Anorak.

»Sie waren heute Morgen schon sehr früh unterwegs«, sagte Kincaid. »Das muss so gegen …«

»Kurz nach sechs war es. Ich gehe sonntags immer in die Frühmesse, und natürlich muss ich vorher mit Wallace Gassi gehen.«

»Wallace?«, fragte Kincaid, doch dann fiel der Groschen, als der zottlige braune Terrier beim Klang seines Namens die Ohren spitzte. »Das ist ein großer Name für so einen kleinen Kerl.« Kincaid bückte sich und hielt dem Hund seine Hand zum Schnuppern hin, dann kraulte er ihm die Ohren.

»Nach William Wallace, wissen Sie. Wallace ist sehr mutig für seine Größe.«

»Das glaube ich Ihnen sofort, Mr Quirk …«

»Es war Wallace, wissen Sie? Ich wäre wohl vorbeigegangen – man mischt sich ja nicht gerne ein.« Quirk verzog das Gesicht. »Aber Wallace war ganz außer sich, hat gewinselt und an der Leine gezerrt. Ich dachte natürlich, es wäre jemand, der einen über den Durst getrunken hat. Aber als ich ihn wachrütteln wollte, war er … kalt. Ganz kalt. Und …« Quirk hielt inne und zupfte an seinem Krawattenknoten. Er schluckte und fuhr fort: »Und als ich sein Gesicht gesehen habe, wurde mir klar, dass ich ihn kenne.«