Mit dieser Enthüllung hatte Kincaid nun wirklich nicht gerechnet. »Das müssen Sie mir bitte näher erläutern, Mr Quirk.«
»Oh, natürlich. Ich wollte damit nicht sagen, dass ich mit ihm befreundet war. Eigentlich habe ich ihn auch gar nicht richtig gekannt. Es ist nur so, dass er im selben Gebäude wohnt …« Quirk schluckte. »… gewohnt hat wie ich. Ich kenne seinen Namen nur vom Klingelschild. Chowdhury heißt er.«
»Warum haben Sie uns das nicht schon eher gesagt?«
»Es … Es war dunkel, und er war … Sein Gesicht wirkte so …« Quirk stockte. »Sie finden das sicher lächerlich, aber ich hatte bisher noch nie einen Toten gesehen …« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Und ich wollte mich nicht blamieren, falls es jemand wäre, der ihm nur sehr ähnlich sieht. Aber je länger ich darüber nachdachte, und darüber, dass Wallace unbedingt zu ihm hinwollte, desto sicherer war ich mir.«
»Mochte er denn Hunde?«, fragte Kincaid.
Quirk überlegte einen Moment. »Nein, das glaube ich eher nicht. Er ist nie stehen geblieben, um mit Wallace zu reden, und Wallace ist mit jedem gut Freund.« Er sah zärtlich auf seinen Hund hinunter, der es sich auf dem kalten Pflaster bequem gemacht hatte, als ob er ein Schläfchen halten wollte. Dann blickte er sich zu den Spurensicherern um, die gerade die blauen Sichtschutzwände um die Leiche herum aufstellten. »Wurde er … Als ich ihn wachrütteln wollte, war da überall Blut.« Geistesabwesend rieb er sich mit der linken Hand die Finger der rechten.
Kincaid fragte sich, wie stark der Mann und sein Hund den Tatort kontaminiert hatten. »Mr Quirk, meine Kollegen von der Spurensicherung müssen leider noch Proben von Ihnen und Ihrem Wallace nehmen.« Als er Quirks bestürzte Miene sah, fügte er rasch hinzu: »Keine Sorge, es tut nicht weh, und es geht auch ganz schnell. Wir brauchen auch noch eine unterschriebene Aussage von Ihnen, aber da können wir auch einen Beamten zu Ihnen nach Hause schicken. Sie wohnen in der Dean Street, nehme ich an?«
Quirk nickte und nannte ihm die Adresse. »Er – Mr Chowdhury – hat die Nummer zwei. Ich wohne eins drüber.«
»Hat Mr Chowdhury allein gelebt?«, fragte Kincaid.
»Soviel ich weiß, ja. Ich habe niemanden sonst regelmäßig dort reingehen oder rauskommen sehen. Aber …« Quirk brach ab, und als Kincaid sich umblickte, sah er Sidana auf sie zukommen, begleitet von einem der Spurensicherer.
»Ich glaube, die Kollegen sind jetzt bereit für Sie«, sagte Kincaid. »Danke für Ihre Hilfe, Mr Quirk. Eventuell müssen wir noch einmal mit Ihnen sprechen.«
Eine halbe Stunde später, nach einem Abstecher zum Starbucks in der Wardour Street, gingen Kincaid und Sidana mit ihren Kaffeebechern in der Hand zurück zur Dean Street. Es war noch zu früh für die Straßenreinigung, und kleine Häufchen von Abfall hatten sich auf den Gehsteigen angesammelt. In der schmalen Gasse, die sie durchquerten, roch es so stark nach Urin, dass Kincaids Augen tränten.
Unterwegs lieferte Sidana Kincaid eine kurze und, wie er vermutete, aufbereitete Version der Ereignisse des Abends. »Ich glaube, dass Tyler Johnson in ernsten Schwierigkeiten steckt. Ob es irgendetwas mit dem Mord an seiner Schwester oder dem Tod von Chowdhury zu tun hat, kann ich nicht sagen.«
»Dank Ihnen und Gemma wissen wir jedenfalls, dass Johnson gestern Abend in Soho war. Um wie viel Uhr hat er den Club verlassen?«
»Gegen zehn, würde ich sagen.«
»Was ist passiert, nachdem er weg war?«
»Gibbs kam wieder herein, und er sah aus, als würde er jeden Moment explodieren. Ich dachte, er würde mit diesen Männern reden, aber er wurde an einen Tisch gerufen, und als er zurückkam, waren sie schon gegangen.«
»Und danach?«
»Gibbs ist in den hinteren Räumen verschwunden, und die Bedienung brachte uns die Rechnung. Wir waren gezwungen zu gehen, wenn wir keine Szene machen wollten. Ungefähr eine Stunde später haben wir noch mal vorbeigeschaut, um zu sehen, ob Johnson zurückgekommen war. Gemma behauptete, sie hätte ihr Handy verloren.« Sidana lächelte bei der Erinnerung. »Sie war richtig gut. Hat sehr überzeugend die Jungfrau in Nöten gespielt. Leider bestand das Publikum nur aus Marie, der Kellnerin. Kein Gibbs, kein Johnson weit und breit.«
Kincaid runzelte die Stirn. »Was haben Sie in der Zwischenzeit gemacht?«
»Wir haben bei einem Drink Manöverkritik gehalten. Im Soho Hotel, um genau zu sein.« Sidana deutete auf die schmale Passage, an der sie gerade vorbeigegangen waren.
Dann waren sie also nur wenige hundert Meter vom Soho Square und dem Schauplatz des Mordes an Chowdhury entfernt gewesen. Das gefiel ihm gar nicht. »Und Sie haben Gibbs oder Johnson ganz bestimmt nicht noch einmal gesehen?«
»Hundertprozentig«, erwiderte Sidana scharf. »Das wäre mir mit Sicherheit aufgefallen. Und wenn es Ihnen darum geht, ob einer der beiden am Tatort gewesen sein könnte: Rashid hat gesagt, dass Chowdhury wahrscheinlich nach Mitternacht getötet wurde, und um die Zeit haben wir schon zu Hause in unseren Betten gelegen.«
Kincaid warf einen Blick auf die Hausnummern und sah, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie waren knapp vor dem Pizza Express mit seinem renommierten Jazzclub im Untergeschoss. Es gab hier einen Gemischtwarenladen, ein traditionelles Pub, das auf Pies spezialisiert war, einen Zeitungsladen und ein Friseurgeschäft – Letzteres mit der Hausnummer, die in Chowdhurys Ausweis stand.
Über der Ladenfront erhoben sich drei Stockwerke eines schmalen Gebäudes aus braunem Backstein, von dessen weißen Fensterrahmen die Farbe teilweise abblätterte. Es war eindeutig das am wenigsten gentrifizierte in diesem Block – eines der wenigen Häuser ohne das allgegenwärtige Baugerüst, das auf laufende Renovierungsarbeiten hinwies.
Kincaid nahm Chowdhurys Schlüssel aus dem Beweismittelbeutel und schloss die Haustür auf. Sie traten ein, und er zog Handschuhe an, ehe er das Licht einschaltete. Der Fußboden bestand aus senfgelb gemustertem Linoleum im Stil der Siebzigerjahre, der Treppenläufer war aus abgetretener, aber noch gebrauchsfähiger Jute.
Als sie den ersten Stock erreichten, sagte er: »Wir klopfen lieber an, falls Mr Quirk sich geirrt hat und es doch einen Mitbewohner gibt.«
Sidana pochte energisch an die Tür, doch die einzige Reaktion war ein gedämpftes Jaulen von oben – Wallace der Terrier, wie Kincaid vermutete. »Hallo? Ist jemand zu Hause?«, rief sie. Als immer noch keine Antwort kam, schloss sie auf.
Sie traten ein, und Kincaid blieb einen Moment stehen, um sich in der Wohnung umzusehen. Sie befanden sich in einem Wohnzimmer, das zur Straße hin lag. Staubkörnchen tanzten in einem schwachen Streifen Sonnenlicht, doch der Rest des Raums lag im Schatten. Kincaid fand den Lichtschalter, und die Deckenlampe tauchte das Zimmer in grelles Licht.
Er brauchte einen Moment, um das chaotische Bild von zu vielen Möbeln – offenbar alle braun – auf allzu begrenztem Raum zu erfassen. Zwei Sofas standen einander gegenüber, dazwischen war ein langer Couchtisch eingezwängt, die Zeitungen darauf mit gelben Flecken von einem Fastfood-Behälter übersät – Curry, nach dem Geruch zu schließen.
Das alles hatte Kincaid mit einem Blick erfasst. Es war der Rest des Zimmers, der seine Aufmerksamkeit fesselte. Billige Bücherregale nahmen sämtliche verfügbaren Wandflächen ein, doch sie waren nicht etwa mit Büchern angefüllt, sondern mit Paaren über Paaren von Porzellanhunden. Noch mehr davon standen auf zwei Tischen am anderen Ende des Zimmers. Ein Hund lag mit dem Gesicht nach oben auf dem Couchtisch, seine gemalten schwarzen Augen starrten blind an die Decke.
»Du lieber Gott«, rief Sidana, während sie neben ihn trat. »Was ist denn das für ein Krempel?«
Aber Kincaid war inzwischen an das nächststehende Regal getreten und inspizierte die Figuren genauer. Manche waren angestoßen oder zerbrochen und wieder zusammengeklebt. Jedes der kleinen Gesichter hatte seinen individuellen Ausdruck – selbst innerhalb eines Paars gab es feine Unterschiede. Die meisten waren King-Charles-Spaniel, aber am Ende des einen Regals erspähte Kincaid ein relativ grob gefertigtes Dalmatiner-Paar.
Er wandte sich zu Sidana um. »Das ist kein Krempel, wenn Sie mich fragen. Das ist Staffordshire-Porzellan, und ich glaube nicht, dass es Imitate sind. Wenn ich mich nicht irre, sind manche davon« – er deutete auf die Dalmatiner – »einen Haufen Geld wert.«
Gemma machte Toby und Charlotte weich gekochte Eier mit Toastpferdchen zum Tunken, dann packte sie beide in dicke Jacken und ging mit ihnen hinaus in den Gemeinschaftsgarten. Es war trocken genug für ein schönes Spiel im Freien – Stöckchenholen für die Hunde, Fußball für die Kinder, wobei manchmal nicht ganz klar war, wer wen oder was jagte. Die Bewegung und die feuchte, kühle Luft vertrieben die letzten Reste des Katers aus Gemmas Schädel.
Nach einer halben Stunde hatten die Kinder rote Bäckchen und protestierten nicht allzu sehr, als sie wieder hineingehen sollten. Gemma machte Feuer im Wohnzimmerkamin, gab den Kleinen eine Beschäftigung und setzte sich dann mit ihrem Laptop und einer Kanne Tee an den Esstisch, um die Arbeit in Angriff zu nehmen, die sie gestern vernachlässigt hatte.
Kit kam auf dem Weg in die Küche vorbeigeschlurft, die Haare zerzaust, und hob nur im Vorbeigehen die Hand zur Begrüßung. Gedämpftes Gemurmel verriet Gemma, dass Charlotte sich zu ihm gesellt hatte, und bald war das rhythmische Tock-tock eines Messers auf einem Schneidebrett zu hören. Gemmas Lider wurden schwer, und ihre Hände, die auf der Tastatur lagen, fühlten sich an, als hätten sie keine Verbindung zum Rest ihres Körpers.
Erst als ihr der unverwechselbare Duft von scharfen Gewürzen und gebratenen Zwiebeln in die Nase stieg, merkte sie, dass sie im Sitzen eingenickt war. Sie schreckte hoch und blinzelte. Der Bildschirm ihres Laptops war dunkel. Wie lange hatte sie geschlafen? Und was kochten die Kinder da eigentlich?
Sie ging mit ihrem Becher und der alten Brown-Betty-Teekanne in die Küche. Kit und Charlotte standen Seite an Seite vor dem Aga-Herd, Charlotte auf ihrem Tritthocker, und rührten etwas in der großen Bratpfanne um. »Das duftet himmlisch«, sagte Gemma und lugte ihnen über die Schultern. »Was ist es?«
»Samosas«, antwortete Charlotte, wobei sie die mittlere Silbe in die Länge zog.
»Charlotte hatte mal wieder Lust darauf«, erklärte Kit. »Das ist die Füllung. Rote Zwiebeln, Blumenkohl und Erbsen.« Er schnitt den ausgerollten Teig in kleine Quadrate, um sie dann mit der Gemüsemischung zu füllen.
»Wir sollten so etwas öfter machen, und du bist ein Schatz, dass du daran gedacht hast«, sagte Gemma. Sie tätschelte ihm die Schulter und wollte gerade fragen, ob sie helfen könne, als es an der Tür läutete.
»Erwartest du jemanden?«, fragte sie in das einsetzende Hundegebell hinein, doch Kit schüttelte den Kopf.
Stirnrunzelnd ging Gemma zur Tür. Wesley Howard stand auf der Vortreppe, in einen grauen Kapuzenpulli gehüllt, ohne das gewohnte freundliche Lächeln im Gesicht. »Wes, komm rein«, sagte sie. »Wir waren gerade in der Küche.«
»Ich will eure Sonntagspläne nicht stören. Ich wollte nur kurz auf ein Wort vorbeischauen.«
Während sie in die Diele voranging, sagte sie: »Ich setze schnell Teewasser …«
Aber Wes schüttelte den Kopf. »Ich bleib nicht lange. Ich wollte nur fragen, ob ich mit Duncan sprechen kann.«
»Da muss ich dich leider enttäuschen, er ist nicht da. Er wurde heute Morgen in aller Frühe zu einem Fall gerufen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich habe gehört, was mit deiner Freundin passiert ist. Mein herzliches Beileid.«
Wes nickte nur, und Gemma sah, dass er Mühe hatte, die Fassung zu wahren. Nach einer Weile schluckte er und fragte: »Könntest du Duncan etwas von mir ausrichten?«
»Ja, natürlich.«
»Ich war ein bisschen kurz angebunden, als er gestern bei uns in der Wohnung war. Und da wollte ich mich entschuldigen.«
»Das wird er sicher verstehen. Sasha stand dir wohl sehr nahe?«
Er runzelte die Stirn. »Wir haben uns zuletzt nicht mehr so oft gesehen. Aber sie hat einfach immer dazugehört, seit wir klein waren, ich und meine Schwestern. Bloß in letzter Zeit …«
Gemma merkte, wie er zögerte, und wartete ab.
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »In letzter Zeit – keine Ahnung, da war sie irgendwie anders. Seit sie diesen neuen Job angetreten hatte. Irgendwie abwesend. Und vor zwei Monaten hat meine Schwester Des sie in einem Restaurant in Covent Garden gesehen. Sie war mit einem Typen zusammen, und sie haben sich offensichtlich gestritten. Als sie Des gesehen hat, hat sie sie einfach ignoriert. Das war total merkwürdig.«
»Des konnte den Typen nicht zufällig beschreiben?«
»Aufgewühlt , hat sie gesagt. Was nicht sehr hilfreich ist.« Wes schnupperte. »Ist das Kit, der da kocht?«
»Er macht Samosas. Bist du sicher, dass du nicht bleiben möchtest?«
»Ich habe meiner Mum versprochen, dass ich mit ihr zu den Johnsons gehe. Ich sollte mich besser sputen. Sag Kit, wir sehen uns morgen im Café, ja?«
»Vielleicht könnte ich mit Charlotte bei deiner Mutter vorbeischauen, nachdem wir Toby heute Nachmittag zu seiner Probe gebracht haben – wenn du denkst, dass sie dann zu Hause ist.«
»Wir bringen ihnen nur was zu essen. Und sie würde sich bestimmt freuen, euch zu sehen.«
Spontan umarmte Gemma Wes und drückte ihn kurz. »Du weißt, dass wir gerne helfen, wo immer wir können.«
Während sie ihm nachsah, wie er mit den Händen in den Hosentaschen davontrottete, bog ein vertrautes knallblaues Auto um die Ecke der Lansdowne Road. Wie es aussah, hatte Melody ihre Einladung zu einem morgendlichen Kaffeeplausch doch angenommen.
»Ernsthaft?« Ungläubig starrte Sidana die kleinen Hunde an. »Es gibt Leute, die für so etwas Geld ausgeben?«
»Sammler tun das offensichtlich. Wir kennen einen Antiquitätenhändler, der vor Kurzem ein Paar wie diese Dalmatiner dort in seiner Auslage hatte. Er wollte tausend Pfund dafür haben.« Kincaid deutete auf die Sammlung von Porzellanhunden. »Also, wenn man das alles mal zusammenrechnet …«
Sidana drehte sich im Kreis und machte große Augen. »Aber die hier sind ja nicht wie eine Sammlung arrangiert. Das ist doch nur ein wildes Durcheinander.«
»Vielleicht hat er sie auf eBay vertickt«, mutmaßte Kincaid.
»Kann sein.« Sidana runzelte die Stirn. »Aber auf mich wirkt es … keine Ahnung … wie eine merkwürdige Obsession. Als wäre er von einer bestimmten Sache besessen gewesen …«
»Saubermachen war jedenfalls nicht seine Leidenschaft«, meinte Kincaid mit einem Blick auf den Couchtisch. Er erinnerte sich an den Mitarbeiterraum im Krankenhaus mit den schmutzigen Bechern und den Kaffeeringen auf dem Tisch.
Er nahm sich vor, Alex Dunn anzurufen und ihn zu fragen, ob er die Staffordshire-Hunde schätzen könnte. Dann machten sie sich an die systematische Durchsuchung der Wohnung.
Sie enthielt ansonsten erstaunlich wenig Persönliches. Ein Flachbildfernseher war in eine Lücke oben auf einem Schrank gezwängt. Es gab keinerlei Familienfotos, keine Zeugnisse, keine Bilder oder Souvenirs. Der Computer auf dem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer war passwortgeschützt, sodass sie vorläufig nichts damit anfangen konnten, und die Post, die sich daneben stapelte, schien nur aus den üblichen Rechnungen zu bestehen.
Chowdhurys Garderobe, abgesehen von seinen Pflegeruniformen, war von gewöhnlicher Qualität, nichts Teures darunter. Sein einziger Lesestoff waren offenbar die Antiquitätenkataloge gewesen, die neben dem Bett lagen.
»Kein Hinweis auf Angehörige?«, fragte Sidana, als sie sich im Wohnzimmer wieder trafen.
»Ich habe nichts finden können. Die Personalabteilung des Krankenhauses müsste uns da weiterhelfen können. Mal sehen, was Doug dort in Erfahrung bringt, und die Forensiker sollen sich den Computer vornehmen.«
»Er hat nicht gekocht«, sagte Sidana. »So viel kann ich Ihnen sagen. Der Kühlschrank ist leer, und der Gefrierschrank ist voll mit billigen Fertiggerichten. Ach ja, und bis auf zwei Flaschen Bier ist auch kein Alkohol im Haus, also war er kein Gewohnheitstrinker.«
Kincaid dachte darüber nach. »Das macht seinen Besuch in der Bar noch eigenartiger – wenn wir davon ausgehen, dass er wirklich so betrunken war, wie er gerochen hat. Das muss Rashid uns sagen.« Er sah Sidana an. »Möchten Sie zur Obduktion gehen?«
»Ja, sicher«, antwortete sie prompt. Wenn er nicht genau hingeschaut hätte, wäre ihm das kleine befriedigte Zucken um ihre Mundwinkel entgangen.
»Wir kommen nicht viel weiter, solange wir nicht wissen, ob Chowdhurys Wunden von derselben Waffe stammen, mit der Sasha Johnson erstochen wurde«, sagte Kincaid. »Und dann …« Er hielt inne, als jemand leise an die Wohnungstür klopfte.
Als Kincaid aufmachte, stand Mr Quirk auf der Matte, die Hand erhoben, um nochmals anzuklopfen. »Ah, Mr Kincaid. Ich hoffe, ich störe nicht, aber mir ist noch etwas eingefallen.« Mit unverhohlener Neugier spähte er an Kincaid vorbei in Chowdhurys Wohnung. »Wenn Sie einen Moment Zeit hätten …«
Kincaid hatte nicht die Absicht, ihn hereinzubitten. »Wie wär’s, wenn wir zu Ihnen kommen, Mr Quirk? Wenn Sie sich noch ein paar Minuten gedulden würden …«
»Natürlich, natürlich.« Quirks eifriges Kopfnicken erinnerte Kincaid an einen Trinkvogel. »Ich setze nur rasch Teewasser auf, ja?« Mit einem letzten Blick in die Wohnung drehte er sich um und stieg wieder die Treppe hinauf, mit erstaunlich flinken Schritten für einen Mann mit Filzpantoffeln an den Füßen.
»Gehen Sie nur«, sagte Sidana, nachdem Kincaid die Tür zugezogen hatte. »Ich bleibe hier und verständige die Spurensicherung.«
»Es wird sicher nicht lange dauern.«
»Genießen Sie Ihren Tee«, rief sie ihm nach, und er hörte die Erheiterung in ihrer Stimme.
Er hatte wohl erwartet, dass Quirks Wohnung mit Nippes überladen sein würde, doch nachdem er Wallace den Terrier begrüßt hatte, bot sich ihm ein ganz anderer Anblick.
Das Wohnzimmer war lichtdurchflutet und wirkte trotz seiner bescheidenen Größe luftig. Die weißen Wände waren mit einer Reihe moderner Gemälde in leuchtenden Farben behängt, die dem Raum die Anmutung einer Galerie verliehen, und die Möbel waren neutral gehalten, sodass sie nicht von den Bildern ablenkten. Die Decke war höher als in Chowdhurys Wohnung, und die Wand von der Küche zum Wohnzimmer war durchbrochen, sodass die Räume ineinander übergingen.
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte Quirk, als er Kincaid hineinbat. »Ich kann auch Kaffee machen, wenn Sie möchten.« Aber Kincaid sah, dass auf dem gläsernen Couchtisch bereits eine Teekanne mit zwei Tassen und ein Teller Kekse standen.
»Tee ist wunderbar«, sagte er. »Vielen Dank.« Auf Quirks Aufforderung hin nahm er auf dem hellbeigen Sofa Platz. Quirk setzte sich in den Sessel gegenüber, während Wallace ein paarmal sein Hundebett in der Zimmerecke umkreiste und sich dann mit einem tiefen Seufzer darauf niederließ.
»War ein langer Vormittag für Wallace – und für Sie«, bemerkte Kincaid, während Quirk den Tee, der einen köstlichen Malzduft ausströmte, in die tiefblau glänzenden Tassen goss. Während Kincaid seine an sich nahm, bemerkte er, dass auf dem Couchtisch auch einige Bücher über Innenarchitektur lagen, daneben ein Stapel Radio-Times- Hefte. Quirk war entweder fernsehsüchtig oder ein Fan von Radio 4.
»Ich kann es immer noch nicht recht glauben.« Quirk schlang die dünnen Finger um seine dampfende Teetasse. Es war ein merkwürdiger Zufall, dachte Kincaid, dass Chowdhurys Leiche ausgerechnet von seinem Nachbarn aus der Wohnung darüber gefunden worden war.
»Nehmen Sie sich doch einen Keks«, forderte Quirk ihn auf und deutete auf die sorgfältig arrangierte Auswahl auf dem Teller. »Ich backe sie selbst.«
Kincaid tat ihm den Gefallen – und wurde angenehm überrascht. Es waren Ingwerplätzchen – dunkel, kross und so scharf, dass seine Zunge kribbelte. »Gehen Sie immer so früh aus dem Haus, Mr Quirk?«
»Ich schlafe nicht mehr so gut wie früher«, antwortete Quirk, »also sind wir meistens schon vor Tagesanbruch unterwegs. Aber nicht so früh wie am Sonntag. Wallace muss raus, bevor ich zur Messe gehe, wissen Sie?« Er trank einen Schluck Tee und runzelte die Stirn. »Ich habe in zwanzig Jahren nur selten eine Sonntagsmesse verpasst. Ich nehme an, dass Father Donovan später noch vorbeischauen wird, um sich zu vergewissern, dass ich nicht krank bin.«
»Dann wohnen Sie schon zwanzig Jahre hier?«, fragte Kincaid.
»Fünfundzwanzig sind es jetzt. Aber in den ersten Jahren bin ich nicht so regelmäßig zur Messe gegangen. Ich war ziemlich viel beruflich unterwegs.«
»In welcher Branche, wenn ich fragen darf?«
»Ich war über dreißig Jahre bei Sotheby’s beschäftigt und habe dort hauptsächlich Nachlassbewertungen gemacht.«
Aha, dachte Kincaid. Kein Wunder, dass Quirk so neugierig in Chowdhurys Wohnung gespäht hatte. »Dann kennen Sie sich bestimmt mit Porzellan aus?«
»Ich hatte vorwiegend mit Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts zu tun.« Quirk deutete auf die Wände. »Wie Sie sehen, ist das meine Leidenschaft, vor allem das Werk von Winston Branch.«
Der Name sagte Kincaid nichts, aber wenn diese Gemälde repräsentativ für sein Werk waren, würde er ihn sich merken müssen.
»Aber in diesem Geschäft bekommt man zwangsläufig von allen Bereichen etwas mit«, fuhr Quirk fort. »Waren das wirklich Staffordshire-Hunde, die ich da unten gesehen habe?«
Kincaid nahm sich noch ein Ingwerplätzchen. »Ja. Ich bin alles andere als ein Experte, aber ich denke, dass einige davon ziemlich wertvoll sein könnten. Haben Sie denn nicht mitbekommen, dass Ihr Nachbar sie – ich bin mir nicht sicher, ob ›gesammelt‹ der richtige Ausdruck ist …«
Quirk schüttelte den Kopf. »Ich habe bei meiner Arbeit schon so manche merkwürdige Ansammlung gesehen, aber ich hatte keine Ahnung, dass Chowdhury an so etwas interessiert ist. Obwohl« – Quirk tippte sich mit dem Finger an die Nase – »wenn ich’s mir recht überlege, hat er ziemlich regelmäßig Pakete bekommen.«
»Hatte er viel Besuch? Käufer vielleicht?«
»Nicht, dass ich es mitbekommen hätte. Jedenfalls nicht bis neulich abends. Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.«
Kincaid holte sein kleines Notizbuch hervor. »Wann war das genau?«
»Nicht gestern Abend, und auch nicht vorgestern, also muss es Donnerstag gewesen sein. Ziemlich spät. Die Zehn-Uhr-Nachrichten waren gerade zu Ende, deshalb war ich überrascht, als ich den Türöffner summen hörte. Ich habe aus dem Fenster geschaut, aber da war sie wohl schon reingegangen.«
»Sie? Sind Sie sicher, dass es eine Frau war?«
Quirk beugte sich vor, die Hände auf den Knien. »O ja. Sehen Sie, ich wollte gerade ein letztes Mal mit Wallace rausgehen – das wird so gegen halb elf gewesen sein. Das ist unsere übliche Zeit. Aber als ich die Tür aufmachte, hörte ich, wie eine Frau sich mit Chowdhury im Flur vor seiner Wohnungstür stritt. Ich wollte mich nicht einmischen, also bin ich wieder reingegangen und habe gewartet, bis ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel.«
»Wie lange haben Sie gewartet?«
Quirk zuckte mit den Schultern. »Fünf Minuten vielleicht.«
»Diese Frau – haben Sie sie weggehen sehen?«
Quirk drehte die Tasse in den Händen, dann ging sein Blick zum Fenster. »Ich will nicht, dass Sie denken, ich würde spionieren. Aber ich habe mal kurz rausgeschaut. Ich wollte nicht, dass es im Treppenhaus zu einer peinlichen Szene kommt, und ich wollte mich vergewissern, dass sie wirklich weg ist.«
»Natürlich. Das ist ganz verständlich«, pflichtete Kincaid ihm bei. »Haben Sie Chowdhurys Besucherin denn richtig sehen können?«
»Nein, leider nicht. Sie ist vom Haus weggegangen, deshalb konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. Aber sie hatte dunkle Haare, irgendwie lockig. Es war ein regnerischer Abend, und die Haare haben im Schein der Natriumdampflampen geglitzert. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, sie sollte die Kapuze ihres Anoraks hochschlagen. Es war so eine Daunenjacke mit Pelzbesatz.«