18

»Die unappetitlichen Arbeiten habe ich schon erledigt«, sagte Rashid Kaleem. Er blickte zu Sidana auf, und sie war überrascht, wie gut sie seinen Gesichtsausdruck lesen konnte, obwohl er komplett in Schutzkleidung gehüllt war. »Ich habe noch nie eingesehen, warum sich irgendjemand außer mir mit so etwas wie Mageninhalten beschäftigen sollte.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen.« Sidana erwiderte das Lächeln. »Ich muss zugeben, dass ich da auch nicht unbedingt scharf drauf bin.« Auch sie trug Maske und Schutzanzug, aber schon jetzt spürte sie, wie die Kälte der Leichenhalle durch die Schichten ihrer Kleidung drang. Sie zwang sich, den Blick von Rashid loszureißen und auf den nackten Leichnam zu richten, der vor ihr auf der Bahre lag. Neel Chowdhury löste bei ihr nicht die gleiche instinktive Betroffenheit aus, die sie bei Sasha Johnsons Anblick empfunden hatte. Und dennoch hatte der Körper dieses älteren Mannes, wie er da nackt und bloß mit all seinen unwürdigen Makeln vor ihr lag, etwas Mitleiderregendes und Verletzliches an sich. Niemand, ganz gleich, wie unsympathisch er gewesen sein mochte, hatte es verdient, dass ihm sein Leben so jäh entrissen wurde und seine sterblichen Überreste diesem kalten klinischen Blick ausgesetzt wurden.

Rashid hatte den Y-förmigen Schnitt schon wieder vernäht, mit sauberen, regelmäßigen Stichen, die an die Zähne eines Reißverschlusses erinnerten. Unterhalb von Chowdhurys linker Brustwarze waren zwei Wunden zu erkennen. Wie bei dem Stich, der Sasha getötet hatte, waren sie kleiner als ein Bleistiftradiergummi.

Die Wunde weiter außen am Brustkorb war jedoch eher wie ein Tropfen als wie ein Kreis geformt. »Das scheint der erste Stich gewesen zu sein«, sagte Rashid und berührte die tropfenförmige Verletzung mit der Spitze einer langen Pinzette. »Die Klinge ist von seiner fünften Rippe abgeglitten und hat den Herzbeutel geritzt, aber die Verletzung wäre höchstwahrscheinlich nicht tödlich gewesen, wenn er einigermaßen schnell Hilfe bekommen hätte. Dieser Stich jedoch« – er zeigte mit der Pinzette auf die andere, rundlichere Wunde näher am Brustbein – »war schon problematischer: sehr tief und mit deutlich mehr Kraft ausgeführt. Die Klinge hat die Rippe glatt verfehlt und ist in die rechte Herzkammer eingedrungen. Er hätte dennoch überleben können, aber nur, wenn er sehr schnell versorgt worden wäre.«

Sidana beugte sich vor, um die zweite Wunde aus der Nähe zu inspizieren. »Die Haut ist um den Einstich herum etwas dunkler. Ist das ein Bluterguss?«

»Gut beobachtet«, sagte Rashid, als ob sie eine Musterschülerin wäre. »Das ist eines der Anzeichen dafür, dass der Tod nicht sofort eingetreten ist.«

»Aber es sieht sehr regelmäßig aus. Fast wie ein Muster.«

»Wieder gut erkannt. Sehen Sie sich das mal an.« Rashid wandte sich zu dem Computer auf einem der Arbeitstische um und öffnete ein Foto der Wunde. Mit ein paar Mausklicks vergrößerte er es, bis es den ganzen Bildschirm ausfüllte. Das Muster trat jetzt deutlicher hervor.

»Es sieht fast aus wie ein Gänseblümchen«, sagte Sidana. »Was könnte so ein Muster hinterlassen haben?«

»Das Heft der Stichwaffe, würde ich sagen – was immer es gewesen sein mag. Es war ein tiefer Stich. Wir werden sehen, was das Labor noch ans Licht bringt.«

Sidana trat von der Bahre zurück und blickte auf den Leichnam. »Was glauben Sie, Rashid? Haben wir es mit einem Doppelmord zu tun?«

»Das Labor kann noch präzisere Messungen vornehmen, aber ich halte es für mehr als wahrscheinlich, dass es dieselbe Waffe war, die beim Mord an Sasha Johnson verwendet wurde – allerdings würde ich sagen, dass die Angriffsmethode eine andere war.«

»Inwiefern?«

»Es geht um die Platzierung der Wunden und die Einstichwinkel. Das erste Opfer, Sasha Johnson, wurde von jemandem erstochen, der vor ihr stand. Etwa so.« Er ergriff wieder die lange Pinzette und schloss die Faust um das Instrument. Dann hielt er es auf Brusthöhe, den Ellbogen gebeugt, und tat so, als ob er zustäche. »Ich denke, dass der Täter in diesem Fall Glück hatte. Es war ein kalkuliertes Risiko. Wenn der Stich sie verfehlt oder nur verletzt hätte, wäre er einfach in der Menge untergetaucht. Der Stich war nicht besonders tief – es war Sasha Johnsons Pech, dass er genau die Aorta traf. Aber das hier«, fuhr er fort und tippte mit der Pinzette auf Chowdhurys Leiche, »das war etwas anderes. Schauen Sie sich das an.« Er berührte Chowdhurys Hals knapp unterhalb der rechten Kinnseite. »Ist ein bisschen schwer zu erkennen wegen der Bartstoppeln, aber da sind ein paar leichte Hämatome. Kombinieren Sie das mit dem Winkel der beiden Stichwunden, und Sie bekommen das hier.«

Rashid nahm die Pinzette wieder in die rechte Hand, doch diesmal machte er eine ausgreifende Bewegung mit dem linken Arm, bis seine linke Faust unter seinem Kinn war, und mimte dann mit der Pinzette eine Stichbewegung von unten nach oben auf seinen Körper zu.

»Chowdhury wurde von hinten überfallen?«

»In der Tat. Und festgehalten, während er sich wehrte. Aber angesichts seines Blutalkoholspiegels war er wohl kaum in der Lage, großen Widerstand zu leisten.«

Vor ihrem inneren Auge sah Sidana den dunklen Platz, sah Chowdhury die Straße entlangtorkeln, während der Mörder wartete, bis sein Opfer durch die großen Müllcontainer auf dem Gehsteig verdeckt war, um Chowdhury dann von hinten den Arm um den Hals zu legen. Sie hoffte, dass Rashid nicht bemerkt hatte, wie sie erschauderte, und sagte: »Der Mörder ist also ein Opportunist, falls es sich um ein und dieselbe Person handelt. Aber es ist nicht jemand, der es ausschließlich auf junge Frauen abgesehen hat.«

»Nein.« Rashid sah sie an, und die Besorgnis in seinen dunklen Augen war selbst durch den Gesichtsschutz zu erkennen. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Sein offener Blick machte es ihr unmöglich, ihre Reaktion mit einem Schulterzucken abzutun. »Es ist nur, weil ich gestern noch mit ihm gesprochen habe, im Krankenhaus. Es ist … verstörend, ihn jetzt so zu sehen.«

»Das ist verständlich. Sollen wir in mein Büro …«

»Nein. Es ist schon in Ordnung, wirklich.« Sie sah auf Chowdhurys reglose Gestalt hinunter und runzelte die Stirn. Ein paar spärliche schwarze Haare auf der Brust, der Ansatz eines Rettungsrings um die Hüften, die schrumpeligen Genitalien … Sie richtete den Blick stattdessen auf das Gesicht, doch es wirkte ebenfalls nackt ohne seine Brille. Sidana erinnerte sich, dass sie am Tatort gefunden worden war. Jetzt konnte sie eine kleine Schürfwunde an der Nasenwurzel ausmachen. »Ist das bei dem Kampf passiert?«

»Möglicherweise – aber vielleicht auch, als er stürzte.«

Hatte Chowdhurys Mörder ihm aufgelauert? Aber woher hätte er wissen können, dass sein Opfer um diese nächtliche Stunde nach Hause wanken würde? »War er ein Gewohnheitstrinker?«, fragte sie.

»Es gibt keinerlei sichtbare Anzeichen für chronischen Alkoholmissbrauch. Aber auch da werden uns die Laborergebnisse mehr Klarheit bringen.«

Sie erinnerte sich an Kincaids Ermahnung und fragte: »Was ist mit seinem Mageninhalt? Hatte er kurz vorher noch etwas gegessen?«

»Nein, es sei denn, Sie nennen ein paar Oliven eine Mahlzeit. Ich würde sagen, dass er seit dem Frühstück gestern Morgen nichts mehr zu sich genommen hatte.«

Sidana schauderte wieder. Die Kälte setzte ihr mehr und mehr zu.

»Sie frieren ja«, sagte Rashid. »Ich habe alles, was in seinen Taschen war, eingetütet und etikettiert, und falls es hier nichts mehr gibt, was Sie noch sehen möchten, lassen Sie uns doch rübergehen, damit Sie sich aufwärmen können.«

Rashid warf mit routinierter Behändigkeit ein Laken über Chowdhurys Leichnam und nahm dann einen Plastikbeutel, der mit kleineren beschrifteten Tüten gefüllt war, von einem Rollwagen neben der Tür.

Zehn Minuten später hatten sie ihre Schutzkleidung abgelegt und es sich in Rashids Büro bequem gemacht, wo er für sie beide Kaffee machte. Er hatte einen weißen Kittel über seine OP -Kleidung angezogen, und sie war froh um die professionelle Fassade. Sie konnte jedoch gerade so den oberen Teil seines T-Shirts im V-Ausschnitt seines Kasacks sehen, und sie hätte zu gerne gewusst, was diesmal darauf stand.

»Das sollte helfen«, sagte er, während er ihr einen Becher reichte und sie die Hände darum schlang. »Es ist mir lieber, wenn meine lebenden Besucher nicht blau anlaufen. Auf die zusätzliche Arbeit kann ich gerne verzichten«, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

»Es tut mir leid. Es ist nur so, dass ich eine ziemlich kurze Nacht hatte.« Sie überraschte sich selbst, indem sie ihm spontan von ihrem Besuch in dem Club in Soho mit Gemma erzählte. »Ich dachte, wir hätten da eine Spur zum Mord an Sasha«, schloss sie, »die zu ihrem Bruder und seinen Freunden führt. Aber jetzt kann ich nicht erkennen, wie das alles mit dem Mord an Neel Chowdhury zusammenhängen soll.«

»Die einzige Verbindung zwischen den zwei Opfern ist, dass sie im selben Krankenhaus gearbeitet haben, oder?«

»Soviel wir wissen, ja. Aber inzwischen haben wir erfahren, dass Sasha Johnson an dem Abend, bevor sie ermordet wurde, Chowdhury in seiner Wohnung aufgesucht haben könnte.«

Stirnrunzelnd begann Rashid in dem großen Beweismittelbeutel zu kramen, den er auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. »Ich habe da tatsächlich etwas Merkwürdiges gefunden«, sagte er, während er eine transparente Hülle im A4-Format hervorzog und ihr reichte.

Sidana inspizierte den Inhalt. Ein weißer Standard-Briefumschlag, beschriftet mit Chowdhurys Namen, aber ohne Adresse. »Laserdrucker«, murmelte sie. Der Umschlag war zerknittert, als wäre er in der Mitte gefaltet gewesen. Daneben lag ein quadratischer Zeitungsausschnitt.

»Der Ausschnitt war in dem Umschlag«, erklärte Rashid. »Das Labor wird beides noch auf Fingerabdrücke untersuchen.«

Sidana sah, dass es sich um eine Todesanzeige handelte, die Druckbuchstaben winzig und etwas verwischt. Rashid reichte ihr eine Lupe. »Sie sind ja ein richtiger Pfadfinder«, sagte sie und nahm das Vergrößerungsglas dankbar entgegen. Die Todesanzeige stammte vom vergangenen Monat. S andra Beaumont, Krankenschwester, dreiundfünfzig, hinterlässt eine Tochter und einen Enkel, beide ebenfalls wohnhaft in Brighton . Eine Todesursache war nicht angegeben.

»Noch eine Krankenschwester.« Sie blickte zu Rashid auf. »Das war in seiner Tasche?«

»In seinem Anorak, ja. Sonst war da nichts außer dem Üblichen – Schlüssel, Portemonnaie, eine Packung Kaugummi, ein Taschentuch.«

»Er war also nicht der Typ, bei dem sich alles Mögliche in den Taschen ansammelt«, dachte Sidana laut nach. »Das macht es wahrscheinlich, dass er den Umschlag gerade erst bekommen hatte, vielleicht sogar erst gestern.«

»Aber nicht mit der Post.«

»Nein.« Sidana erinnerte sich an Chowdhurys Wohnung. »Er könnte durch den Briefschlitz in seiner Wohnungstür geworfen worden sein. Dann hätte er ihn gefunden, als er gestern Morgen das Haus verließ.«

»Wenn der Zeitungsausschnitt eine Art Drohung war, könnte das den leeren Magen erklären«, sagte Rashid. »Vielleicht hat er nichts gegessen, weil er zu besorgt war.«

»Das könnte auch den ungewöhnlichen Alkoholexzess erklären.« Sidana trank mit Bedauern den letzten Schluck ihres Kaffees und machte dann mit ihrem Handy eine Nahaufnahme des Zeitungsausschnitts, ehe sie Rashid den Beweismittelbeutel zurückgab. »Könnten Sie mir auch noch eine Kopie hiervon machen und mir mailen? Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, was es mit dieser Krankenschwester in Brighton auf sich hat. Und unsere Sichtung der Überwachungsvideos vor Chowdhurys Gebäude auf die frühen Morgenstunden des gestrigen Tags ausweiten.« Während sie aufstand, fügte sie hinzu: »Danke für den Kaffee. Ich glaube, ich muss vielleicht in so eine Maschine investieren.«

Rashid erhob sich ebenfalls, dann zögerte er. »DI Sidana …«

»Ich finde, Sie können Jasmine zu mir sagen.«

»Also gut, Jasmine.« Er lächelte, und sie merkte, wie ihr einen Moment lang der Atem stockte. »Wir haben beide einen langen Tag hinter uns. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin am Verhungern. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, mit mir ein Curry essen zu gehen.«

Vor dem Wohnheim blieb Doug zunächst unschlüssig stehen. Ray Porter hatte ihm den Namen des Dozenten genannt, dessen Vorlesungen die mysteriöse Chelsea besuchte, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er den Professor am späten Sonntagnachmittag an der Uni antreffen würde, ging gegen null. Die Sonne, die in Porters Zimmer geschienen hatte, war schon hinter den Dächern der Universitätsgebäude versunken, und bald würde es ganz dunkel sein.

Er machte sich auf den Weg zurück zum Revier Holborn, doch als er sich dem British Museum näherte, kam ihm ein Gedanke: Wenn Tyler mit diesem Mädchen zusammen war, hatte Sasha sie vielleicht gekannt – und Sasha könnte sie Tully gegenüber erwähnt haben. Er sah auf die Uhr – es war kurz vor fünf.

Es war nur ein kleiner Umweg, und als er die Fußgängerzone in der Museum Street erreichte, sah er, dass in der Galerie noch Licht brannte. Als er die Tür öffnete, ertönte ein leises Bimmeln, aber niemand erschien.

Er nahm an, dass Tully nur kurz nach hinten in die Werkstatt gegangen war, und sah sich interessiert im Ausstellungsraum um. Die Keramikarbeiten waren sehr ästhetisch in offenen weißen Regalen und auf schlichten weißen Tischen präsentiert. Auf diskreten Schildchen waren die Namen der Künstlerinnen und Künstler vermerkt, und in einer Ecke standen einige von Tullys Puppen mit ihren einzigartigen individuellen Gesichtern. Nachdem er gesehen hatte, was einige der anderen Stücke kosteten, hätten ihn die Preise der Puppen nicht weiter überraschen sollen, aber er stieß dennoch einen leisen Pfiff aus.

Er begutachtete gerade eine dunkelblaue Schale – das erste Stück, das er sich ernsthaft in seinem Haus vorstellen konnte –, als er Stimmen hörte. Eine Tür hinter der Kasse – vermutlich die Verbindungstür zur Werkstatt – stand einen Spaltbreit offen.

Doug wollte sich gerade bemerkbar machen, als eine Männerstimme laut und vernehmlich sagte: »Das ist der Deal, auf den wir uns geeinigt haben. Du nutzt die Werkstatt und den Brennofen, und deine Arbeit unterstützt die Galerie.« Es war der Galerieinhaber, den er gestern kennengelernt hatte: David Pope.

»Du weißt, wie viel der Betrieb dieses verdammten Brennofens kostet«, fuhr Pope fort. »Das muss ich irgendwie wieder reinholen.«

»Ich habe nie zugestimmt, nichts für mich selbst zu machen. Das ist einfach Quatsch, David. Du hast kein Recht, dir meine Arbeiten zu nehmen, ohne um Erlaubnis zu fragen.« Das war Tully, ihre Stimme hoch und schrill.

»Ich glaube, dir ist nicht ganz klar, was du an diesem Arrangement hier hast. Du hast die Chance, dir einen Namen zu machen, dir einen Ruf als Keramikerin aufzubauen. Glaubst du, das würdest du irgendwo anders bekommen? Aber gut, wenn du es nicht zu schätzen weißt, dass du hier arbeiten darfst …«

»Du willst mich rausschmeißen, David? Wo ich nicht mal weiß, ob ich noch ein Dach über dem Kopf habe?«

»Beruhig dich, Tully. Du bist überreizt …«

»Und ich habe verdammt noch mal allen Grund, überreizt zu sein, also red nicht in diesem überheblichen Ton mit mir.« Es tat einen dumpfen Schlag.

»Es hilft weder dir noch mir, wenn du die ganze Ware kurz und klein schlägst.«

»Das ist mir scheißegal«, stieß Tully mit tränenerstickter Stimme hervor.

Doug fand, dass es an der Zeit war, einzuschreiten. Er ging zurück zum Eingang und zog die Tür so schwungvoll auf, dass die Glocke laut bimmelte. Dann rief er. »Hallo? Tully? Ist da jemand?«

Nach einem kurzen Moment trat David Pope aus der Werkstatt. »Was kann ich für Sie tun? Wir haben eigentlich geschlossen.« Dann runzelte er die Stirn, als er Doug wiedererkannte. »Ach, Sie sind’s. Sergeant … Entschuldigung, ich habe Ihren Namen vergessen.«

»Doug Cullen. Detective Sergeant. Ist Tully auch da?«

Pope drehte sich zur Werkstatt um und rief: »Tully, die Polizei ist wegen dir hier.« Er ließ es so klingen, als wären Uniformierte gekommen, um sie zu verhaften.

Doug schob sich an Pope vorbei und schaute zur Werkstatttür hinein. »Hätten Sie kurz Zeit für mich?«

Tully stand an ihrem Werktisch, inmitten von offenen Kartons und zusammengeknülltem Zeitungspapier.

»Ist es okay, wenn ich reinkomme?«, fragte Doug.

»Klar, kein Problem.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Machen Sie nur die Tür hinter sich zu.«

Doug war froh, dass ihr finsterer Blick offenbar nicht ihm galt. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er, nachdem er die Tür mit Nachdruck zugemacht hatte. »Oder ist das eine dumme Frage?«

Damit erntete er ein zaghaftes Lächeln. Sie wischte sich die Hände an ihrer mit Ton bekleckerten Latzhose ab. »Ich würde sagen, dass ich einen miserablen Tag hatte, aber ich will nicht gereizt klingen.«

»Tun Sie ganz und gar nicht. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Ich … Also, wäre es möglich, dass wir uns woanders unterhalten?«

Doug erinnerte sich an das Pub ein paar Häuser weiter, an dem er vorbeigekommen war – das Plough. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen.« Und dann, mit nur einem flüchtigen Gedanken an Melodys Kritik von gestern Abend, fügte er hinzu: »Wie wär’s, wenn ich Ihnen einen ausgebe?«

Kincaid hatte Sidana nach Hause geschickt, nachdem sie vom Royal London Hospital zurückgekommen war. Sie hatte ungewöhnlich abwesend gewirkt, aber er hatte es auf ihre kurze Nacht zurückgeführt und vorgeschlagen, dass sie sich ein wenig ausruhte.

Doug war noch nicht von seinem Besuch in Tyler Johnsons Studentenunterkunft zurück. Simon sichtete die Überwachungsvideos, die Darrell Cherry ihnen wie versprochen zur Verfügung gestellt hatte, doch es war eine zähe Angelegenheit. Lucy McGillivray war gerade von einem weiteren Besuch bei den Johnsons in der Great Western Road zurück und schien ungeduldig auf eine Gelegenheit zu warten, mit ihm zu sprechen.

Er sah auf die Uhr – es war schon nach fünf. »McGillivray«, rief er. »Ich statte den Angehörigen von Mr Chowdhury einen Besuch ab. Möchten Sie fahren?«

»Gerne, Sir.« Sie strich ihre Jacke glatt und schob eine widerspenstige Haarsträhne in ihren akkuraten Dutt zurück.

»Die Adresse ist in Willesden. Sie können mich hinterher zu Hause absetzen und den Poolwagen zurückbringen, oder Sie fahren damit heim, wie es Ihnen lieber ist.«

»Alles klar, Sir.«

Als sie in dem silberfarbenen Astra saßen und in Richtung Westen fuhren, vor sich eine lange Schlange von roten Rücklichtern, sah er zu ihr hinüber. »So, jetzt erzählen Sie mir mal, was da bei den Johnsons los ist.«

Nach kurzem Zögern antwortete sie: »Vielleicht mache ich ja irgendwas falsch, aber ich habe den Eindruck, dass sie mich gar nicht bei sich haben wollen. Ich verstehe ja, dass sie trauern, aber irgendwie kommt es mir … komisch vor.«

»Inwiefern?«

»Na ja, sie finden immer irgendeinen Vorwand, um mich aus dem Zimmer zu schicken. Und wenn ihre Tochter Kayla da ist, höre ich sie flüstern, und sobald ich wieder reinkomme, verstummen sie. Es ist, als ob ein verdammter Mantel des Schweigens über … oh, tut mir leid, Sir.«

Kincaid lächelte. Selbst im schwachen Licht des Innenraums glaubte er zu erkennen, wie sie vor Verlegenheit rot wurde.

»Haben Sie eine Ahnung, worüber sie miteinander reden?«

»Ich habe gehört, wie der Name des Bruders fiel. Ich wusste ja, dass sie sich Sorgen machen, weil er sich noch nicht gemeldet hat, aber jetzt frage ich mich, ob er nicht in irgendwelche kriminellen Aktivitäten verwickelt ist. Oder ob sie glauben, dass er etwas mit dem Mord an Sasha zu tun hat. Und dann« – sie hielt kurz inne, um den Blinker zu setzen und zügig die Spur zu wechseln – »ist heute Nachmittag ein Mann dort gewesen, der nach Tyler gefragt hat. Ich habe die Tür aufgemacht, und als ich es Mr Johnson meldete, sagte er mir, ich solle den Mann wegschicken. Und anschließend haben die Johnsons mich rausgeschmissen.«

»Können Sie den Mann beschreiben?«

»Mitte vierzig. Weiß. Stämmig gebaut. Die Haare so kurz geschoren, dass ich die Farbe gar nicht richtig erkennen konnte. Vielleicht braun, mit grau durchsetzt. Londoner Akzent, glaube ich.«

Neugierig fragte Kincaid: »Klingen alle Londoner für Sie gleich?«

»Weil sie nicht schottisch klingen, meinen Sie?« McGillivray grinste. »Also, DI Sidana ist eindeutig Londonerin. DS  Cullen klingt ein bisschen nach Upperclass, deswegen ist er schwerer einzuordnen, aber ich würde mal auf die Home Counties tippen.« Sie sah Kincaid an. »Und ich glaube nicht, dass Sie gebürtiger Londoner sind, Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Da ist eine Spur von Nordengland in ihrem Akzent.«

»Gut erkannt«, meinte Kincaid beeindruckt. »Ich stamme tatsächlich aus Cheshire, aber ich lebe seit mittlerweile zwanzig Jahren in London.«

»Also jedenfalls«, fuhr McGillivray fort, »dieser Typ, der war nicht ganz sauber, wissen Sie? Ich habe genug von dieser Sorte gesehen, als ich noch Streife gefahren bin. Wenn er mich nicht als Polizistin erkannt hätte – und da bin ich mir ziemlich sicher, obwohl ich nicht in Uniform war –, kann ich mir vorstellen, dass er sich gewaltsam Zutritt verschafft hätte.«

Kincaid erinnerte sich an Sidanas Schilderung der männlichen Gäste im Club. »Legen Sie doch morgen früh DI  Sidana die Beschreibung vor, vielleicht erkennt sie ihn ja als einen der Männer, die sie in Gibbs’ Lokal gesehen hat.«

Sie fuhren jetzt durch Kincaids Viertel und hatten gerade den Sainsbury’s in der Ladbroke Grove passiert, wo er oder Gemma normalerweise den Wocheneinkauf erledigten. Die dunkle Fläche zur Linken war der Friedhof Kensal Green.

Wenige Minuten später erreichten sie eine Straße nahe dem Willesden-Sportzentrum und hielten vor einer Doppelhaushälfte in einer Art Pseudo-Tudor-Stil. Alle Parkplätze am Straßenrand waren belegt – nicht verwunderlich um sechs Uhr an einem Sonntagabend –, also bog McGillivray in die Grundstückseinfahrt ein und parkte hinter einem Motorrad und einem betagten kleinen Renault.

Als sie ausstiegen, fiel ihm auf, dass die Grundstücksmauer einen neuen Anstrich nötig hatte, ebenso wie die Fassade des Hauses, doch ansonsten wirkte alles sauber und gepflegt. Nachdem sie beide ihre Jacken glatt gestrichen hatten, läutete McGillivray an der Tür. Von drinnen konnte er die vertraute Erkennungsmelodie der Six O’Clock News hören.

Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, wirkte alles andere als erfreut. »Sie dürfen hier nicht parken«, sagte sie. »Und was immer Sie zu verkaufen haben, ich will es nicht. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie verschwinden, bevor ich die Polizei rufe.« Sie wollte die Haustür wieder schließen, doch McGillivray trat dazwischen.

»Mrs Nira Gupta?« McGillivray hielt ihren Dienstausweis hoch. »Wir sind die Polizei. Dürfen wir reinkommen?«

Kincaid schätzte Gupta auf Mitte vierzig, in etwa so alt wie Neel Chowdhury. Sie war dünn, mit knochigen Handgelenken und Schultern, und ihre Kleider verströmten den unverkennbaren Geruch von schalem Zigarettenrauch.

Sie starrte sie einen Moment lang verständnislos an, dann flog ihre Hand an ihre Brust. »Mein Mann! Ist meinem Mann etwas zugestoßen?«

Nachdem Kincaid sie beruhigt hatte, bat die Frau sie herein. Das Wohnzimmer war überladen, aber gemütlich, dominiert von einem großen Flachbildfernseher, den Mrs Gupta sogleich stumm schaltete.

Sie bedeutete ihnen, auf dem schwarzen Kunstledersofa Platz zu nehmen, und räumte einen Korb mit Wäsche weg, um sich in den dazu passenden Sessel setzen zu können.

Sie hatten sich darauf verständigt, dass McGillivray die Befragung eröffnen würde. »Mrs Gupta«, begann sie, »wir haben leider schlimme Nachrichten über Ihren Cousin Neel Chowdhury. Er wurde heute Morgen in der Nähe seiner Wohnung tot aufgefunden. Sie waren in den Akten des Krankenhauses als nächste Angehörige aufgeführt.«

Gupta zog entgeistert die dunklen Augenbrauen zusammen. »Neel? Tot? Großer Gott. Aber wie? War es ein Unfall?«

»Leider nicht, Ma’am. Wir gehen von einem Verbrechen aus. Wir möchten Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Gupta blinzelte und schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie. Ich brauche nur einen Moment, um das zu verdauen.« Ihre Finger wanderten zu der Tasche ihrer grauen Strickjacke, in der sich eine Zigarettenschachtel abzeichnete. Sie betastete sie, ehe sie die Hand wieder in den Schoß sinken ließ. Aus dem Fehlen eines Aschenbechers auf dem Couchtisch schloss Kincaid, dass sie nicht im Haus rauchte.

»Wie wäre es mit einer Tasse Tee, Ma’am?«, schlug McGillivray vor. »Wenn Sie mir zeigen, wo die Küche ist, kann ich …«

»O nein.« Mrs Gupta stemmte sich aus dem Sessel hoch. »Wo bleiben meine Manieren? Bitte, bleiben Sie sitzen. Ich setze nur rasch Wasser auf.«

Ehe McGillivray ihre Hilfe anbieten konnte, verschwand sie durch die Tür, die zur Küche führte. Kincaid hörte das Klicken des Schalters am Wasserkocher, dann das Klappern von Geschirr und schließlich das Schlagen einer Tür.

»Sollte ich ihr helfen, Sir?«, flüsterte McGillivray.

Kincaid schüttelte den Kopf. »Rauchpause. Lassen Sie ihr ein bisschen Zeit.«

Wenige Minuten später kam Mrs Gupta mit einem Tablett zurück, auf dem drei Becher Tee mit Milch standen, noch mit den Tetley’s-Teebeuteln darin, sowie ein Teller mit Custard Creams.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie, während sie sich auf die Kante des Sessels sinken ließ. »Dass Neel tot ist. Wir sind die Einzigen, die auf dieser Seite der Familie übrig sind. Unsere Mütter waren Schwestern. Wir waren nur ein paar Monate auseinander, deshalb mussten wir als Kinder immer miteinander spielen.«

Kincaid fiel ihre Formulierung auf. »Haben Sie sich mit Ihrem Cousin nicht verstanden?«, fragte er und nahm einen der Becher entgegen.

Mrs Gupta verzog das Gesicht. »Das klingt jetzt furchtbar, aber Neel war schon immer ein richtiger kleiner Widerling, schon als Kind. Eine Petze und ein Stänkerer, wissen Sie? Aber trotzdem hätte ich ihm nie … den Tod gewünscht. Können Sie mir nicht sagen, was mit ihm passiert ist?«

»Mr Chowdhury wurde von einem oder mehreren unbekannten Tätern überfallen.« Verwandte hin oder her – er wollte verhindern, dass sich die Nachricht von einem zweiten Messermord herumsprach. »Wissen Sie von irgendjemandem, der Grund gehabt hätte, Ihrem Cousin etwas anzutun?«

»Oh.« Guptas Augen weiteten sich. »Nein, eigentlich nicht. Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendjemandem wichtig genug war, als dass …« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Gott, wie sich das anhört …«

»Keine Frauen in seinem Leben? Oder Männer?«

»Ich glaube, Frauen mochte er nicht besonders. Aber andererseits hatte ich auch nie den Eindruck, dass er auf Männer steht.«

Kincaid dachte an die sonderbare Sammlung von Staffordshire-Hunden in Chowdhurys Wohnung. Das war immerhin etwas, was der Mann gemocht hatte. »Wir haben bemerkt, dass er offenbar ein Faible für Porzellanhunde hatte. Staffordshire, wenn ich mich nicht irre.«

»Ach, die.« Gupta seufzte. »Das hatte er wohl von unserer walisischen Großmutter. Die hatte ein halbes Dutzend von diesen Scheußlichkeiten. Neel war als Kind ganz fasziniert davon, aber er durfte sie nicht anfassen. Sie hat ihm mit dem Lineal eins übergezogen, wenn sie ihn dabei erwischt hat. Ich weiß nicht, was nach ihrem Tod aus den Hunden geworden ist. Vielleicht hat Neel ein paar davon bekommen.«

»Haben Sie Ihren Cousin in letzter Zeit mal getroffen?«, fragte McGillivray. Sie hatte unauffällig ihren Notizblock hervorgeholt.

»Nicht mehr seit der Beerdigung seiner Mutter, das ist jetzt zwei Jahre her. Ehrlich gesagt hatten wir nicht besonders viel miteinander zu tun. Ich nehme an, dass ich mich jetzt um … die Beerdigung und so weiter kümmern muss?«

Kincaid gab ihr seine Karte. »Wir melden uns bei Ihnen, sobald die Beisetzung organisiert werden kann und die Untersuchung seines Computers und seiner Papiere abgeschlossen ist. Sie wissen nicht zufällig, wer sein Anwalt war?«

»Ich kann Ihnen den Namen des Anwalts geben, an den sich unsere Mütter immer gewendet haben – Mr Jenkins.« Sie begann die Sachen auf dem Couchtisch nach einem Zettel zu durchsuchen, bis McGillivray schließlich einen Zettel von ihrem Block abriss.

Nachdem sie ihnen den Namen des Anwalts aufgeschrieben hatte, sagte Kincaid: »Vielen Dank, Sie waren uns eine große Hilfe, Mrs Gupta. Eine Sache noch, wenn Sie gestatten.« Er entfaltete die Kopie, die er sich von der Todesanzeige aus Chowdhurys Anoraktasche gemacht hatte. »Wissen Sie, ob es eine Verbindung zwischen Ihrem Cousin und dieser Frau gab – Sandra Beaumont?«

Gupta runzelte die Stirn, während sie die Anzeige las. »Ihr Name kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht … oh, warten Sie. Ich weiß, wo ich ihren Namen schon einmal gesehen habe. Er stand in dem Zeitungsartikel über diesen großen Skandal an Neels letztem Krankenhaus. Deswegen hatte Neel seinen letzten Job gekündigt, glaube ich – wegen der negativen Publicity. Sie« – Gupta tippte auf den Zeitungsausschnitt – »hatte auf derselben Station gearbeitet.« Sowohl Kincaid als auch McGillivray mussten sie verständnislos angestarrt haben, denn sie schüttelte ungehalten den Kopf. »Sie wissen schon, da gab es doch so einen Riesenwirbel um diesen Ebola-Fall.«