20

Sie glühte. Blasen, ihre Haut schlug Blasen von der Hitze. Die Sonne – oder war es ein Feuer? Stöhnend versuchte sie, das Gewicht auf ihren Beinen abzuschütteln. War es das Zelt? War es auf sie gefallen? Sie schnappte nach Luft und riss die Augen auf.

Nicht das Zelt.

Ein Zimmer. Ein gewöhnliches Zimmer. Ein gewöhnliches Bett, die Decke hing halb auf dem Boden. Ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank, ein Nachttisch, eine Straßenlaterne, deren Licht durch den Spalt im Vorhang fiel. Sie strich sich die verfilzten Haare aus dem Gesicht, setzte sich mühsam auf und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe.

Das hier war ihr Zimmer, jetzt fiel es ihr wieder ein. Das Hotelzimmer, das sie sich gestern Abend nahe dem Bahnhof Paddington genommen hatte, weil das Haus verschlossen war.

Verschlossen.

Wieso war das Haus verschlossen? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie warteten bestimmt auf sie – nein, das war nicht richtig. Ihr war jetzt kalt, sie fröstelte, ihre Zähne begannen zu klappern. Sie reckte sich nach dem Bademantel, der noch zusammengeknüllt am Fußende des Betts lag, und schaffte es, hineinzuschlüpfen, doch das Zimmer drehte sich, und sie hatte Durst, entsetzlichen Durst. Unsicher stand sie auf, schwankte einen Moment und stakste dann ins Bad.

Aber sie konnte nicht trinken, noch nicht. Da, in ihrem Waschbeutel, das altmodische Quecksilberthermometer, das sie immer bei sich hatte. Sie schob es sich unter die Zunge, und jetzt erst sah sie in den Spiegel. Die Augen gerötet, die Haut kreidebleich, aber mit feuerroten Flecken übersät. Sie schloss die Augen, versuchte die Minuten zu zählen, doch das Zimmer neigte sich bedenklich, also zog sie das Thermometer heraus und sah auf den Quecksilberfaden.

O nein. Das konnte nicht sein. Aber dieses Thermometer log nicht.

Als sie tief Luft holte, schmerzte ihr Hals. Du lieber Gott.

»Nein, bitte nicht«, flüsterte sie. Sie war am Flughafen in Kinshasa getestet worden. Kein Fieber, keine Symptome. Aber sie musste das Virus schon in sich getragen haben, es lauerte, brütete in ihr. Sie trank ein wenig Wasser aus dem Zahnputzbecher, dann hielt sie sich das kühle Glas an die Wange, während sie gegen die plötzliche Welle von Übelkeit ankämpfte.

Sie wusste nur zu gut, wie der Verlauf war. Sie brauchte Hilfe, und zwar schnell. Aber sie konnte es nicht riskieren, irgendjemanden der Ansteckungsgefahr auszusetzen, weder das Personal an der Hotelrezeption noch einen Taxifahrer oder die Besatzung eines Rettungswagens.

Zum Krankenhaus war es nicht weit. Sie würde zu Fuß gehen. Solange sie noch konnte.

»Weitergehen, Leute«, murmelte Doug, als er sich in den U-Bahn-Waggon zwängte. Die Pendlerzüge in die Londoner Innenstadt waren an einem Werktagmorgen immer eine Zumutung, aber an diesem feuchten und trüben Montag schienen seine Mitreisenden noch muffiger und zerstreuter zu sein als sonst. Es hatte genieselt, als er – noch in völliger Dunkelheit – über die Putney Bridge zur U-Bahn-Station gegangen war, der Fluss jenseits des Brückengeländers wie eine tiefschwarze Schlucht.

Gestern Abend hatte er dort am Geländer gestanden und gehofft, dass ihm ein paar Minuten im stummen Zwiegespräch mit den dunklen Fluten der Themse helfen würden, einen klaren Kopf zu bekommen und zu entscheiden, was er wegen Tully unternehmen sollte. Sie hatte ihn nicht direkt zur Verschwiegenheit verpflichtet, und ihr war sicherlich klar, dass er ihrer Geschichte würde nachgehen müssen. Und doch – sie hatte sich ihm anvertraut, und er glaubte es ihr schuldig zu sein, ein wenig zu recherchieren, bevor er die Information an Kincaid weiterleitete.

In dem Sommer, als Tully sechzehn wurde, hatte ihre beste Freundin in der Mittsommernacht das Elternhaus verlassen und war nicht mehr heimgekommen. Tully hatte ihre Erzählung unterbrochen und ihr Weinglas zur Seite geschoben, um ein reichlich zerknittertes Foto aus ihrer Brieftasche zu ziehen.

Doug hatte die zwei lachenden Mädchen betrachtet, die einander den Arm um die Hüfte gelegt hatten. Tully schien sich kaum verändert zu haben. Das andere Mädchen, R osalind Summers, war blass und dunkelhaarig, mit einem winzigen silbernen Ring in einem Nasenloch und einem koketten Lächeln.

Laut Tully hatte es keine Hinweise auf ein Verbrechen gegeben, doch auch in den folgenden Wochen und Monaten hatte von dem Mädchen jede Spur gefehlt. Tully und ihr Bruder waren wiederholt vernommen worden, aber beide waren zu Hause bei ihrer Mutter gewesen und hatten keine Ahnung, was mit Rosalind passiert war.

Dann bekam Tullys Mutter die Krebsdiagnose, und noch bevor Tully mit der Schule fertig war, starb sie. Tully nahm ihr Studium auf, und Jon zog ebenfalls nach London. Seitdem waren beide nicht mehr in ihrem Heimatdorf gewesen.

Durchaus verständlich, nahm Doug an, da ihre Mutter ja tot war. Aber was, wenn mehr dahintersteckte? Was, wenn Gibbs für das Verschwinden von Tullys Freundin verantwortlich war?

Was, wenn Tully und ihre Mutter gelogen hatten, um ihn zu schützen?

Was, wenn er nicht nach London gekommen war, um auf seine Schwester aufzupassen, sondern um sicherzustellen, dass sie ihr Wissen für sich behielt?

Und was, wenn Sasha irgendwie die Wahrheit über das verschwundene Mädchen herausgefunden hatte?

Die U-Bahn bremste ab, als sie in den Bahnhof Holborn einfuhr. Doug bekam das Bild der beiden Mädchen nicht mehr aus dem Kopf, Arm in Arm an einem Sommertag im Grünen, während sie eine Stange Zuckerwatte in die Kamera hielten. Nicht einmal der Geruch nach nasser Wolle, den sein in Nadelstreifen gehüllter Nebenmann im rappelvollen Waggon verströmte, konnte den Duft von Erdbeeren und gesponnenem Zucker ganz aus seiner Fantasie verbannen.

Er musste mit jemandem aus dem Team von Somerset reden, das wegen Rosalind Summers’ Verschwinden ermittelt hatte, aber das konnte er schlecht machen, ohne Kincaid zu informieren. Was er wirklich brauchte, war jemand, der sich mit der Recherche in Zeitungsarchiven auskannte. Mit anderen Worten: genau die Person, die er eben nicht um Hilfe bitten konnte.

Die Pressekonferenz war so gut gelaufen, wie man es unter den gegebenen Umständen erwarten konnte. Der Chief Super hatte der Bevölkerung versichert, dass die Polizei nicht davon ausgehe, dass der Mord an Sasha Johnson mit Bandenkriminalität in Verbindung stand, und man glaube auch nicht, dass ein zweiter Jack the Ripper in Bloomsbury Jagd auf junge Frauen machte. Man gehe verschiedenen Hinweisen nach und werde die Presse und die Öffentlichkeit weiter auf dem Laufenden halten. Dann hatte Kincaid übernommen und eventuelle Zeugen, die am Freitagabend am Russell Square etwas Verdächtiges beobachtet hatten, dazu aufgerufen, sich umgehend bei der Polizei zu melden. Und das war’s dann auch schon.

Von dem Mord an Chowdhury war zum Glück noch nichts an die Presse durchgesickert, aber das war nur eine Frage der Zeit.

Kincaid verließ unauffällig den Besprechungsraum, um dem Pulk der Journalisten auszuweichen – und auch, wenn er ehrlich war, seinem Chef. Er eilte die Treppe zum CID -Büro hinauf und lockerte im Gehen seine Krawatte.

Simon Gikas drehte sich vom Whiteboard weg, wo er gerade Fotos aufgehängt hatte. »Wie ist es gelaufen, Chef?«

»Ich glaube nicht, dass wir auf die Titelseite der Sun kommen. Noch nicht. Das ist die gute Nachricht. Aber noch besser wäre es, wenn wir allmählich mal Fortschritte machen würden.« Kincaid sah, dass Simon die kirschroten Turnschuhe von letzter Woche gegen ein neongrünes Paar getauscht hatte. »Was haben Sie für uns?«

Simon deutete auf das erste von zwei Fotos. »Ich bin die Überwachungsvideos aus der Manette Street durchgegangen. Ein Mann hat den Club kurz nach Chowdhury verlassen. Wie Sie hier sehen können« – er tippte auf das zweite Foto –, »hat er große Ähnlichkeit mit diesem Typen, der am Freitagabend den Russell Square durch den Nordausgang verlassen hat.«

Kincaid durchquerte den Raum, um die Fotos aus der Nähe zu betrachten. Beide zeigten einen Mann in einem dunklen Anorak mit Kapuze. Beide Aufnahmen waren verschwommen, und auf keiner war das Gesicht des Mannes zu sehen, auch nicht im Profil. Und dabei konnte man wegen seiner unauffälligen Kleidung, die die Konturen verbarg, nicht einmal sicher sagen, ob es überhaupt ein Mann war.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Simon, der Kincaids Einwände vorwegzunehmen schien. »Aber schauen Sie sich mal die Videos an.«

Kincaid folgte Simon zu seinem Arbeitsplatz, wo Simon ein paar Tasten drückte und zwei verschiedene Videos auf seinen großen, nebeneinander angeordneten Bildschirmen startete. Auf dem linken war der Ausgang des Russell Square zu sehen. »Das war zehn Minuten vor dem ersten Notruf«, erklärte Gikas.

Es war das übliche Feierabend-Gedränge, die Menschen eilten mit hochgeschlagenen Kapuzen oder aufgespannten Regenschirmen dahin, viele schauten nach unten – auf ihre Smartphones, vermutete Kincaid. Die meisten waren wahrscheinlich auf dem Weg zur U-Bahnstation Russell Square gleich um die Ecke. Die Gestalt mit der Kapuze, die Simon herangezoomt hatte, verschwand aus dem Bildausschnitt, und im nächsten Moment startete der Loop aufs Neue.

Kincaid wandte sich dem rechten Bildschirm zu. Die Kamera vor dem Bottoms Up in der Manette Street erfasste einen eng begrenzten Bereich direkt vor dem Eingang des Lokals und war leicht in Richtung Charing Cross Road gedreht. Man sah, wie die Tür des Clubs nach außen aufging und ein Mann herauskam. Dunkelhaarig, bekleidet mit einem Mantel, den er mit einer Hand unter dem Kinn zusammenraffte. Ein Aufblitzen, als seine Brillengläser das Licht reflektierten, dann wandte er sich nach rechts, schwankte ein wenig und stützte sich an der Hauswand ab, ehe er in Richtung Greek Street verschwand. Vorher jedoch hatte die Kamera ganz kurz sein Gesicht frontal erfasst. Es war Chowdhury.

Simon hob einen Finger. »Jetzt passen Sie auf.«

Auf dem Bildschirm ging die Tür erneut auf. Eine Gestalt füllte den Bildausschnitt aus. Ein dunkler Anorak, die Kapuze hochgeschlagen. Ohne einen Moment zu zögern, wandte die Gestalt sich nach rechts, in die Richtung, in die Chowdhury gegangen war, doch im Gegensatz zu ihm hielt diese Person den Kopf gesenkt, und ihr Gesicht blieb im tiefen Schatten der Kapuze verborgen.

Nachdem Kincaid sich beide Filme noch ein-, zweimal angesehen hatte, nickte er Simon zu, der daraufhin die Videos anhielt. »Zwei Dinge«, sagte er. »Oder vielmehr drei. Die Person auf beiden Videos ist ein Mann.« Selbst in diesen kurzen Ausschnitten hatte die Art, wie die Gestalt sich bewegte, etwas undefinierbar Männliches gehabt. »Und es ist ein und derselbe Mann, darauf wette ich eine Lokalrunde im Pub.« Zustimmendes Gemurmel von den anderen Detectives, die sich um Simons Computer geschart hatten, um zuzuschauen.

»Und das dritte?«, fragte Simon.

»Das Verbergen des Gesichts ist Absicht. Er weiß, dass er gefilmt wird, und will nicht erkannt werden.«

»Wenn er wegen Chowdhury dort war«, warf Doug ein, »hat er sich dann mit ihm getroffen, oder ist er ihm gefolgt?«

»Es würde sich lohnen, noch einmal mit Darrell Cherry vom Nachtclub zu reden und ihn zu fragen, ob ihm an diesem Abend noch andere Männer ohne Begleitung aufgefallen sind, und wenn ja, ob sie mit Kreditkarte bezahlt haben.« Kincaid wandte sich wieder an Simon. »Was ist mit den Videos aus der Dean Street? Irgendwas Interessantes gefunden?«

»Leider nicht, Chef. Die Kamera der Bank zeigt in die falsche Richtung, und von den anderen Geschäften hatte keines eine funktionierende.«

Für die Stadt der Big-Brother-Überwachung, dachte Kincaid, war es erstaunlich schwierig, an eine gute Aufnahme zu kommen, wenn man sie brauchte. »Gute Arbeit, Simon, danke. Also, weiter im Text.« Er trat wieder ans Whiteboard. »Doug, erzähl mal den anderen, was du gestern an der Uni in Erfahrung gebracht hast.«

»Tyler Johnson ist offenbar aus seinem Zimmer im Studentenwohnheim ausgezogen. Laut seinem Mitbewohner war Tyler der Ansicht, dass Studieren etwas für Schwachköpfe ist, und hatte größere Pläne. Der Mitbewohner sagte auch, dass Tyler anscheinend auf ein Mädchen namens Chelsea steht, das mit ihm – also dem Mitbewohner – in einer Vorlesung ist. Der Dozent ist ein Dr. Hawkins.«

Kincaid sah, dass die Namen schon am Whiteboard angeschrieben waren. »Simon, könnten Sie schon mal die Räder der Uni-Bürokratie in Bewegung setzen? Vielleicht können wir den vollen Namen und die Adresse des Mädchens aus deren Akten bekommen, ohne dass wir diesen Professor Hawkins ausfindig machen müssen. Und könnten Sie mit den Kollegen von der Abteilung Menschenhandel reden und fragen, ob sie etwas von einer Masche wissen, wie sie Jasmine in Gibbs’ Club beobachtet hat?«

Er wandte sich an McGillivray. »Lucy, wenn Sie Simon den Mann beschreiben könnten, der gestern bei den Johnsons geklingelt hat, und dann feststellen, ob es eine Übereinstimmung mit Jasmines Beschreibungen der Männer im Club gibt. Ich wüsste außerdem gerne mehr über Tyler Johnsons unternehmerische Ambitionen – wobei es sich für mich eher so anhört, als ob ihm die Sache über den Kopf gewachsen wäre.«

»Er dürfte ein ziemlich kleiner Fisch sein«, sagte Sidana nachdenklich. »Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass einer dieser Typen, so zwielichtig sie mir auch vorkamen, Johnsons Schwester ermorden würde, um ihm eine Lektion zu erteilen.«

»Ich bin geneigt, Ihnen zustimmen. Aber wir müssen dem dennoch nachgehen. Wir müssen auch noch einmal mit Jon Gibbs reden, aber ich denke, damit warten wir besser, bis wir Dougs Spur zu der jungen Frau nachgegangen sind. Und bis wir diese andere Frage geklärt haben«, fügte er mit einem Nicken in Sidanas Richtung hinzu.

Er hatte sie vor der Pressekonferenz abgefangen, als sie ins Revier gekommen war, und sie gefragt, ob es ihr am Samstagabend gelungen sei, ein Foto von Jon Gibbs zu machen.

»Ja, ich habe tatsächlich eins«, hatte sie geantwortet, »aber es ist nicht so toll.« In unausgesprochenem Einvernehmen hatten sie sich von den Aufzugtüren entfernt und in eine ruhige Ecke des Empfangsbereichs zurückgezogen. Dort hatte sie ihr Handy aus der Handtasche gezogen und rasch die Fotos durchgesehen. Auf einem hatte Kincaid kurz Gemma erblickt, wie sie lachend ihr Glas erhob, und er hatte sich unwillkürlich gefragt, wann er sie zuletzt so entspannt gesehen hatte.

»Ich konnte keine Frontalaufnahme riskieren«, fuhr Sidana fort, »deshalb ist dieses Halbprofil, wo er an einem der anderen Tische sitzt, das Beste, was ich hinbekommen konnte.« Sie hielt ihm das Display hin. Das Bild war ein wenig unscharf, aber man konnte Gibbs dennoch unschwer erkennen.

»Könnten Sie das Gemma schicken?« Er erzählte ihr von seiner Bekannten, die beobachtet hatte, wie sich Sasha Johnson in einem Restaurant in Covent Garden mit einem Mann gestritten hatte. »Sie wird es weiterleiten, und vielleicht gelingt es uns so, Sashas Begleiter zu identifizieren.«

»Was ist Ihr Eindruck von Gibbs?«, hatte er gefragt, während Sidana rasch eine Nachricht schrieb und abschickte. »Nach dem, was sie am Samstagabend beobachtet haben: Würden Sie es für möglich halten, dass er und Sasha ein Paar waren?«

Sie dachte eine Weile nach, ehe sie antwortete. »Ich würde sagen, dass er ehrlich betroffen war.«

»Mehr, als man es bei jemandem erwarten würde, der gerade vom gewaltsamen Tod einer guten Bekannten und Mitbewohnerin seiner Schwester erfahren hat?«

Sidana hatte mit den Schultern gezuckt und ihr Handy wieder in ihrer sehr aufgeräumten Handtasche verstaut. »Möglicherweise. Aber wenn er selbst für ihren Tod verantwortlich ist, könnte es sein, dass er einfach nur sehr gut schauspielert.«

Jetzt fragte sich Kincaid, was Gibbs tatsächlich getan hatte, als er zu dem Treffen mit Sasha im Perseverance nicht erschienen war. Er wandte sich wieder an Simon. »Was ist mit Gibbs’ Alibi für Freitagabend?«

»Wir haben im Großmarkt nachgefragt. Dort haben sie tatsächlich für Freitagabend eine Bestellung vom Bottle verbucht.« Simon schwenkte seinen Stuhl herum und schwang einen Knöchel auf das andere Knie, sodass seine grünen Turnschuhe so richtig zur Geltung kamen. »Wenn es Gibbs war «, fuhr er fort, »dann wird er sein Auto oder vielleicht einen Lieferwagen benutzt haben. Er könnte entweder auf dem Hin- oder auf dem Rückweg in der Nähe des Russell Square geparkt haben.«

»Und kurz aus dem Auto gesprungen sein, um Sasha zu erstechen?« Sidana schüttelte den Kopf. »Das klingt mir ziemlich weit hergeholt. Und woher hätte er wissen sollen, wo sie genau sein würde? Es sei denn, sie hätte ihn angerufen oder ihm eine Nachricht geschrieben.«

»Ah.« Mit einem selbstgefälligen Lächeln schwenkte Simon seinen Stuhl wieder zum Computer herum. »Dazu wollte ich gerade kommen. Die IT hat den Laptop noch nicht untersucht, aber sie haben das Handy knacken können. Sasha war offenbar ein richtiges Arbeitstier. Die meisten ihrer Text- und Sprachnachrichten betreffen die Arbeit oder ihre Familie. Es gibt keinen regelmäßigen Austausch von Nachrichten zwischen ihr und Jonathan Gibbs. Aber sie hat ihn – oder jedenfalls jemanden, der in ihren Kontakten als ›Jon‹ aufgeführt ist – am Freitagnachmittag um vierzehn Uhr zwei angerufen. Der Anruf dauerte keine ganze Minute, wir können also davon ausgehen, dass sie ihm eine Nachricht hinterlassen hat. Anschließend schickte sie ihm zwei Textnachrichten, um siebzehn Uhr fünfzehn und dann noch einmal zehn Minuten später, Wortlaut: ›Wo bleibst du denn?‹ Kurz darauf schickte sie eine Textnachricht an Tully Gibbs. Sie lautete: ›Kannst du bitte gleich zum Treffpunkt kommen? Muss mit dir reden. Wollte mich mit J treffen wegen Ty, aber er ist nicht gekommen.‹ Worauf Tully antwortete: ›Bin unterwegs.‹« Simon sah von seinem Computerbildschirm auf, seine dunklen Augen blickten ungewohnt ernst. »Sashas Nachricht an Tully war die letzte vor ihrem Tod.«

Kincaid sah alles ganz klar vor sich. Er wusste, wie unlogisch es war, und wurde dennoch das Gefühl nicht los, dass er irgendwie – er wusste selbst nicht, wie – Sashas Tod hätte verhindern können.

»Was ist mit ihrem Bruder?«, fragte er. »Hatte er sich bei ihr gemeldet?«

Simon grinste und tippte auf seinen Bildschirm. »Allerdings. Sie hatte am Donnerstag kurz nach zwölf Uhr mittags einen Anruf von Tyler. Das Gespräch dauerte etwa zehn Minuten.«

Kincaid erinnerte sich an seine Unterhaltung mit Howard Quirk. Wenn es sich bei Chowdhurys Besuch am Donnerstagabend um Sasha gehandelt hatte, was hatte er dann gemeint, als er sagte, sie könne nicht erwarten, dass er »für sie einspringt«? War es um den Dienst an diesem Tag gegangen? »Ich wüsste gerne, ob Sasha das Krankenhaus gleich nach diesem Anruf verlassen hat. Doug, du hast doch dort mit jemandem gesprochen. Sieh mal, was du herausfinden kannst, ja? Sind wir schon weiter, was Chowdhurys Alibi für Freitagabend betrifft?«, fügte er hinzu.

Doug schüttelte den Kopf. »Ich habe noch keine Rückmeldung von Schwester Baker. Ich schau gleich mal dort vorbei und rede mit ihr.«

»Eine Sache noch«, sagte Simon, nachdem alle schon begonnen hatten, ihre Sachen zusammenzuraffen oder sich ihren Computerbildschirmen zuzuwenden. »Letzten Mittwoch bekam Sasha Johnson eine Textnachricht, offenbar von einem Wegwerfhandy gesendet. Sie lautete: ›Du miese Schlampe. Lass die Finger von ihm, sonst wirst du es noch bereuen.‹«

Gemmas Montag hatte nicht gut angefangen. Irgendwann in den frühen Morgenstunden war Charlotte wieder schreiend aus einem Albtraum hochgeschreckt. Gemma war in ihren Morgenmantel geschlüpft und barfuß die Treppe hinuntergetappt. Sie hatte Charlotte auf der untersten Stufe vor den Kinderzimmern sitzend vorgefunden, die Arme um Geordie geschlungen, der winselte und ihr das Gesicht abzulecken versuchte.

»Oh, Schätzchen.« Gemma hockte sich neben sie.

Charlotte konnte nie in Worten ausdrücken, welche Monster sie in ihren Träumen verfolgten, doch ihre panische Angst war real. Gemma nahm sie auf den Schoß und wiegte sie sanft, bis die Schluchzer in ein Schniefen übergingen.

»Komm jetzt, Schätzchen, wir bringen dich wieder ins Bett.«

Und so war Gemma wenige Stunden später steif und verkrampft in Charlottes schmalem Bettchen aufgewacht, mit einem eingeschlafenen Arm, der unter Charlottes schweißfeuchtem Kopf gelegen hatte. Das Rumpeln in den Radiatoren verriet ihr, dass es nach sechs war und die Heizung angesprungen war.

Nachdem sie die Kinder geweckt und die Hunde rausgelassen hatte, war Gemma nach oben gegangen, wo Duncan bereits fertig geduscht und rasiert war und sich gerade die Krawatte band. »Du bist ja nicht angezogen«, sagte er, als er sie sah. »Geht es dir gut? Ich dachte, du wärst schon auf.«

»Es hätte dir vielleicht auffallen können, dass ich die halbe Nacht nicht im Bett war.« Als er sie verdutzt ansah, machte sie eine wegwerfende Handbewegung. »Vergiss es. Ist eine lange Geschichte.«

»Es tut mir leid, Schatz. Ich muss zur …«

»Pressekonferenz. Ich weiß. Geh nur.«

So blieb es an Gemma hängen, drei quengelige Kinder durch ein schnelles Frühstück zu hetzen und sie ins Auto zu packen, um sie zu ihren Schulen zu fahren. Als das endlich erledigt war und sie im Met-Präsidium am Victoria Embankment ankam, war sie fast so mies drauf wie die Kinder.

Nach einer Tasse schlechtem Kaffee wurde ihre Laune ein wenig durch eine Nachricht von Jasmine Sidana gehoben, die ihr ein Foto von Jon Gibbs schickte. Sie leitete es wie versprochen an Des Howard weiter, doch danach betrachtete sie noch eine ganze Weile das Foto, während sie über den Abend nachdachte und darüber, was für ein gutes Gefühl es gewesen war, endlich wieder richtige Ermittlungsarbeit zu machen.

Sie hatte sich gerade mit einem Seufzer wieder zu ihrem Computer umgewandt, als Melody ganz aufgelöst auf sie zugeeilt kam.

»Entschuldige bitte die Verspätung.« Melody sah aus, als ob sie sich in aller Eile angezogen hätte – die weiße Bluse unter ihrer Kostümjacke war schief geknöpft, und ihre Haare waren ungewohnt zerzaust.

»Alles in Ordnung?« Gemma zeigte auf ihre eigene Bluse und deutete dann mit einem Nicken auf Melody.

»Oh, Mist«, murmelte Melody, als sie nach unten schaute. »Ich bring das gleich auf dem Klo in Ordnung. Hab verschlafen«, fügte sie zur Erklärung hinzu und wandte sich zum Gehen.

An der Tür angekommen, hielt sie inne. »Gemma, wegen deinem Fall – ich meine, Duncans Fall – ich hab da ein bisschen über die Gibbs-Geschwister recherchiert.«

Gemma nickte unverbindlich. Sie fand, dass Melody irgendwie auf Tully Gibbs fixiert war. »Und?«

»Vor zehn Jahren waren die beiden in das Verschwinden eines sechzehnjährigen Mädchens in Somerset verwickelt.«

»Wie meinst du das – verwickelt

»Sie wurden beide nicht angeklagt, aber mehrmals vernommen. Die Vermisste war Tullys beste Freundin, ein Mädchen namens Rosalind Summers. Jonathan Gibbs war noch am Tag ihres Verschwindens im Gespräch mit ihr gesehen worden. Eine Zeugin sagte, er habe sie angebaggert.«

Gemma runzelte die Stirn. »Aber er hat sie doch bestimmt gut gekannt, wenn sie die beste Freundin seiner Schwester war.«

»Das heißt ja nicht, dass er sich nicht an sie rangemacht haben könnte. Vielleicht hat sie sich später mit ihm getroffen, und die Situation ist eskaliert …« Melody zuckte mit den Schultern.

Gemma musterte Melody kritisch und fragte: »Du glaubst also, dass Jon Gibbs dieses Mädchen getötet hat, aber nie für die Tat belangt wurde?«

»Seine Mutter und seine Schwester haben geschworen, dass er zu Hause war und mit ihnen einen Film angeschaut hat. Und …« Melody trat von einem Fuß auf den anderen, dann fügte sie widerstrebend hinzu: »Und er hatte kein Auto. Wenn er also ihre Leiche verschwinden lassen wollte, hätte er es in der unmittelbaren Umgebung tun müssen, aber es wurde keine Leiche gefunden. Trotzdem – du musst zugeben, dass die ganze Sache irgendwie suspekt ist. Ich dachte, du könntest das vielleicht an Duncan weitergeben.«

Gemma bedachte Melody mit einem strengen Blick, den sie bei ihrer Freundin nur sehr selten einsetzte. »Erstens: Wenn du glaubst, dass das etwas ist, was das Team wissen muss, dann kannst du damit direkt zu Doug gehen. Ich werde hier nicht die Vermittlerin spielen. Und zweitens: Ich habe schon mit dem CID Somerset zusammengearbeitet, und das ist eine ziemlich kompetente Truppe. Wenn sie Gibbs nicht angeklagt haben, dann hatten sie vermutlich gute Gründe dafür.«

Melodys Augen weiteten sich ein wenig, ehe sie ihre Züge unter Kontrolle brachte und sagte: »Alles klar, Chefin.«

Sie wandte sich zum Gehen, doch Gemma rief ihr nach: »Wie hieß dieses Dorf in Somerset?«

»Es war ein Ort namens Compton Grenville, Chefin.«