»Ich finde, das ist die falsche Entscheidung.«
Monique saß an dem wackeligen, zerkratzten Antik-Schreibtisch, den Mom mir in der vierten Klasse gekauft hatte, und beugte sich vor, um nach der Schachtel mit den Cupcakes zu greifen. Die hatte sie auf meinem ebenso wackeligen Nachttisch mit den spindeldürren Beinen abgestellt. Das war ihre Art, sich dafür zu entschuldigen, dass sie beim Mittagessen so aufdringlich gewesen war. Entschuldigungen waren nicht gerade Moniques Stärke – genau genommen kann ich mich nicht erinnern, jemals ein »Sorry« aus ihrem Mund gehört zu haben, auf das nicht gleich darauf ein »Aber« folgte. Doch dafür wusste sie bestens, wann sie in Aktion treten musste, indem sie beispielsweise unangemeldet und mit Cupcakes im Gepäck bei mir hereinschneite.
Ihre langen, schlanken Finger kreisten eine Weile bedächtig über der Schachtel, als wolle sie dem glänzend weißen Karton seine tief verborgenen Geheimnisse entlocken. Dann griff sie mit einer Bewegung, die etwas von einer angreifenden Schlange hatte, zu und pflückte einen kleinen Rotweinkuchen-Cupcake heraus. Er war mit einem Frischkäsetopping von der Größe eines halben Baseballs garniert.
»Na schön. Dann schieß los. Machen wir eine von deinen Pro-und-Kontra-Listen, weshalb ich meinen Flit-Account nicht löschen sollte.« Ich lag rücklings auf dem Bett, mit dem Kopf am Fußende, damit ich nicht so leicht an die Cupcakes herankam. Ich wollte wirklich, wirklich gerne einen essen. Oder auch drei – immerhin waren sie von Sweet Tooth, der winzig kleinen, superkitschigen Bäckerei in der »Innenstadt« von Apple Prairie. Aber mir gingen die ganzen Kommentare darüber, wie fett ich war, einfach nicht aus dem Kopf.
»Okay, also ›Pro‹ spricht dafür, dass du den Account behältst, ›Kontra‹ dafür, dass du ihn löschst«, verkündete Monique und setzte ihren Cupcake auf dem Schreibtisch ab, damit sie die einzelnen Punkte an den Fingern abzählen konnte. »Pro: die Bewerbung für den Drehbuch-Workshop. Ich bin immer noch der Meinung, dass du das hier ausnutzen solltest, um uns da reinzubringen. Wir wünschen uns nichts so sehr wie das!«
»Kontra: Ich habe im Moment so ungefähr hundert Follower, ich müsste also schon irgendwas ziemlich Bescheuertes anstellen, damit uns das was nützt.«
»Du bräuchtest bloß einen Artikel darüber zu schreiben. Vielleicht mit dem Thema, wie gemein die Leute zu dir sind? Feministische Websites stehen auf so was.« Ich durchbohrte sie mit einem mörderischen Blick, bis sie die Augen verdrehte und lautstark seufzte. »Na gut. Pro: Du könntest sehen, wie sich das mit dem Foto und mit Kyle weiterentwickelt. Und überhaupt.«
»Kontra: Das Einzige, was sich bisher entwickelt hat, ist, dass immer mehr Leute in ihn verknallt und gemein zu mir sind. Und zu meinem Schließfach. Und zu meinem Auto.«
Monique zog eine Schnute. Ich wertete das als Zeichen für ein gelungenes Gegenargument.
»Okay, das war echt mies, aber bei dieser Pro-und-Kontra-Liste spielen die Leute an der Schule keine Rolle. Die wussten so oder so schon, dass es dich gibt.« Diesmal war ich diejenige, die die Augen verdrehte, doch Mo ging einfach darüber hinweg. »Also dann, Pro: Du bist total in Kyle verknallt, und er folgt dir jetzt und hat sogar auf deine Direktnachricht geantwortet. Flit ist die beste Verbindung zu ihm, die du hast.«
»Kontra: Ich hatte sowieso nie eine Chance bei ihm, und jetzt hält er mich für irgend so ein armseliges kleines Mädchen, das auf ihn steht. Und das ist noch der Idealfall.«
Monique verzog nachdenklich den Mund.
»Pro: Wenn du deine Social-Media-Accounts löschst, ist das, als würdest du überhaupt nicht mehr existieren.«
»Oh nein, das ist eindeutig Kontra: Wenn ich sie lösche, vergessen die Leute vielleicht endlich, dass es mich überhaupt gibt.«
»Aber warum lässt du zu, dass sie dir das antun?« Monique beugte sich vor und legte die Stirn in Sorgenfalten. »Hör zu, Rachel. Ich weiß, wie furchtbar es war, das alles lesen zu müssen. Wie sich Jessie und die anderen über deine Fotos ausgelassen haben. Die Leute können schrecklich sein. Da sind wir uns einig, ja?«
»Ja.«
»Aber es lässt doch schon nach.«
Da hatte sie in der Tat nicht ganz unrecht, zumindest was die Situation an der Onlinefront betraf. In den letzten Stunden waren nur noch ein paar Dutzend Benachrichtigungen eingegangen. Das meiste waren simple Loves und Reflits von Leuten, die von der ganzen Sache jetzt erst Wind bekommen hatten.
»Ja, aber Mo, die waren richtig bösartig. Die schlimmsten Sachen hab ich dir gar nicht erzählt. Du hast keine Ahnung, wie übel manche davon waren.«
»Ich habe keine Ahnung?« Monique lehnte sich zurück und zog anklagend die Augenbraue hoch. »Ich weiß, hier in Apple Prairie vergisst man das leicht, weil es an der ganzen Schule vielleicht fünf von uns gibt – aber ist dir schon mal aufgefallen, dass ich schwarz bin?« Sie zog in gespielter Überraschung die Augenbrauen hoch. »›Gemischtrassig‹ spielt für die Trolle keine Rolle. Glaub mir, ich weiß genau, wie schrecklich die Leute sein können.«
Unwillkürlich riss ich den Kopf zurück. Sie hatte recht, es war wirklich leicht zu vergessen. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass Monique sich mit so etwas rumschlagen musste – bisher hatte ich nie miterlebt, dass sie jemand anders behandelt hätte. Aber konnte ich da wirklich sicher sein?
»Tut mir leid, Mo, ich wollte nicht …«
»Ja, das weiß ich. Aber …« Sie schüttelte den Kopf und kniff die Augen zu. »Pass auf, du darfst das nicht so an dich ranlassen. Das ist alles. Die Leute können furchtbar sein, aber lass dir von denen nicht sagen, wie du zu leben hast, ja? Das ist einfach …« Sie legte den Kopf in den Nacken, sodass es aussah, als würde sie mit der Zimmerdecke reden. »Lass sie nicht gewinnen, Rachel, okay?«
»Okay«, murmelte ich.
Ich wälzte mich auf dem Bett herum, bis ich in die Schachtel mit den Cupcakes gucken konnte. Es gab drei mit Schoko-Karamell. Selbst wenn ich zu dem Zeitpunkt, als Monique bei mir vor der Tür gestanden hatte, noch ein bisschen sauer gewesen wäre, war ich es jetzt definitiv nicht mehr. Ich schnappte mir den erstbesten und nahm einen herzhaften Bissen. Dann rollte ich mich auf den Bauch und ließ die Schokolade und das klebrig-süße Topping ihre nervenstärkende Wirkung entfalten.
»Okay«, wiederholte ich. »Dann lösche ich meine Accounts eben nicht, versinke nicht im Erdboden und hefte mir kein scharlachrotes F an die Brust, wann immer ich aus dem Haus gehe.«
»Es war ein A«, korrigierte Monique automatisch. Typisch Monique: Sie konnte es selbst dann nicht lassen, mich zu verbessern, wenn sie gerade dabei war, unsere Freundschaft mithilfe von Cupcakes und moralischer Unterstützung zu kitten.
»Ich weiß, aber ich bin keine Ehebrecherin, sondern ein Freak.«
»Rachel, wie oft muss ich …«
»Nein, nein, schon gut.« Ich hob meine cupcakefreie Hand, um sie zu unterbrechen. »Ich meine ja nur, wenn ich so ein Schandmal tragen müsste, dann wäre es ein F. Sagen wir einfach, es steht für Fotografin, wenn du dich dann besser fühlst. Fette, fehlgeleitete Fotografen-Flasche. Wie auch immer, ich habe jedenfalls nicht vor, es zu tragen.«
Monique verzog das Gesicht, hielt jedoch den Mund.
»Aber nur, weil ich jetzt doch nicht vom digitalen Erdboden verschwinde, heißt das nicht, dass ich bereit bin, mich weiter fröhlich zur Zielscheibe zu machen. Das halte ich nicht aus.«
»Okay«, sagte Monique knapp und zog den Zeigefinger durch die Frischkäsecreme auf ihrem Cupcake, bis es aussah, als würde ihre Fingerspitze eine Alte-Oma-Perücke tragen. Während sie die Creme ableckte, betrachtete sie mich nachdenklich. »Ich bin immer noch der Meinung, dass wir einen Weg finden können, das hier zu nutzen, ohne dich zur Zielscheibe zu machen. Aber gut. Wie lautet dein Plan?«
»Schluss mit dem Bilderspiel. Vor allem, weil ich darin offenbar so gut bin, dass die ganze Welt auf einmal mitmachen will.«
Monique errötete leicht und nickte.
»Genau genommen gehe ich jetzt erst mal komplett auf Tauchstation, bis sich der ganze Sturm gelegt hat.«
Mit einem leisen, feuchten Plopp zog Monique den Finger aus dem Mund. »Das geht schneller, als du denkst. Ich wette, das Schlimmste hast du hinter dir.«
»Super, dann kannst du dich ab nächster Woche auf fantastische GIFs von Eichhörnchen freuen, die Liebesroman-Cover nachstellen.«
»Du bist so schräg, Rachel.«
Sie verdrehte die Augen. Dadurch fühlte ich mich tatsächlich ein kleines bisschen besser. Als würden wir ganz, ganz langsam wieder zur Normalität zurückkehren.
Eine Weile mampften wir schweigend unsere Cupcakes. Schließlich hielt Monique es nicht mehr aus.
»Aber du beobachtest das doch weiter, oder?«
»Was meinst du?« Ich wusste genau, was sie meinte.
»Kyles Profil, Rachel.«
»Warum sollte ich?«
»Ach, komm schon. Wie lang schwärmst du jetzt schon für ihn? Da kannst du dir das doch nicht entgehen lassen.«
»Mag sein, aber warum sollte ich mir andauernd selbst unter die Nase reiben, dass ich nie, niemals eine Chance bei ihm haben werde? Ich meine, ich hatte schon keine Chance, als er einfach nur der coole Typ aus der Zwölften war. Und jetzt hat er wie viele Follower? Dreihunderttausend?«
»Mein letzter Stand sind fünfhunderttausend.«
»Okay, dann also fünfhunderttausend. Das macht es ja nur noch schlimmer. Jetzt ist er all das, was er vorher schon war, und dazu noch berühmt. Berühmt dafür, dass er heiß ist. Also komm mir nicht mit ›komm schon‹.«
»Gib’s zu, du bist neugierig.«
Ich antwortete nicht. Tatsächlich hatte ich schon seit einigen Stunden nicht mehr auf Kyles Profil geguckt, was mich allerdings meine gesamte Willenskraft kostete. Wahrscheinlich hatte ich deswegen keine mehr übrig, um den Cupcakes zu widerstehen.
»Außerdem: Hast du dir mal seine Flits angeguckt? Der Typ ist nicht gerade Shakespeare.« Monique schnaubte. »Vielleicht können dich die gesammelten geistigen Ergüsse aus Kyle Bonhams ach-so-brillantem Gehirn ja von deiner Verliebtheit kurieren.«
»Die sind schon ziemlich lächerlich, oder?«
»Selbst meine Tante flittet interessantere Sachen als er«, erwiderte Monique. »›Es ist toll, wenn man sich gut fühlt, oder, Leute? Heute ist super! Es lebe der Sport!‹«
Gegen meinen Willen musste ich lachen.
Ich schnappte mir mein Handy und tat so, als würde ich mich zu Kyles Profil durchklicken, damit Monique nicht merkte, dass es bereits offen war. Auf seiner Seite war ich als Letztes gewesen.
»Und?«
Ich scrollte mich durch seine neuesten Flits.
»Das meiste sind irgendwelche ›Danke hier, danke da‹. Wahrscheinlich schreiben ihm die Leute alle, wie toll sie ihn finden.«
»Also nichts Gutes dabei?«
»Nee, das ist alles … warte mal. Er hat gerade was geflittet, aber … Oh Gott, das kann doch nicht wahr sein.« Ich lud die Seite neu. Vielleicht handelte es sich ja um einen Fehler. Oder flittete er, was er sich von der ganzen Sache erhoffte? Mein Mund fühlte sich an, als wäre darin jemand mit dem Föhn zugange gewesen. Ich versuchte zu schlucken.
»Was?«
»Sieh selbst.«
Monique kam rüber und beugte sich über meine Schulter, bis sie das Display meines Handys sehen konnte.
Im nächsten Moment plumpste sie neben mir aufs Bett wie eine Marionette, der jemand die Fäden durchgeschnitten hatte.
»Ich fürchte, die Aufregung wird sich wohl doch nicht so schnell legen«, sagte sie.