Das Problem, das man insbesondere am Beispiel der grünen Partei studieren kann, ist Moralismus . Wenn man nämlich den Pazifismus ausschließlich darauf gründet, dass Menschen grundsätzlich zu schützen und Gewalt grundsätzlich zu vermeiden ist, kann der Moralismus blitzschnell die Seite wechseln und Kriegseinsätze gerade darum billigen und Waffen fordern, um Menschen zu schützen und »mehr Gewalt« zu verhindern. In diesem Konflikt steckte der grüne Pazifismus immer und hat ihn jeweils zur Seite der moralistisch begründeten Gewaltanwendung aufgelöst. Die Frage, ob man jemanden verteidigen würde, der – etwa im Park – hinterhältig angegriffen wird, war schon die Zentralfrage der »Prüfungsausschüsse« in den legendären Verhandlungen zur Verweigerung des Kriegsdienstes, denen man sich als Westdeutscher bis zum Jahr 1983 stellen musste. In meinem Fall gingen sie mit der finalen Feststellung aus, dass »Herr Welzer von seiner ganzen Persönlichkeit her nicht als Pazifist einzuschätzen« sei, und tatsächlich würde ich bis heute Gewalt aus Gründen der Verteidigung gegenüber Aggressoren für gerechtfertigt halten, genauso wie die Verteidigungsfähigkeit eines Staates.
Aber: Gewalt ist immer eine Option sozialen Handelns, sie nimmt historisch nur unterschiedliche Formen und Begrenzungen an. Insbesondere wenn, wie gerade ausgeführt, Imperialismus und Landnahme erneut in Mode kommen, muss man Mittel haben, um der Gewalt begegnen zu können. Das heißt aber keineswegs, dass das anzustrebende übergeordnete zivilisatorische Ziel nicht die Abschaffung des Krieges sein sollte – und dieses Ziel ist alles andere als naiv. Denn wie Norbert Elias in seiner großen Studie »Über den Prozess der Zivilisation« [68] dargelegt hat, besteht die Geschichte der Zivilisierung in einer immer weiteren Reduktion des direkten Gewaltgebrauchs zugunsten von anderen Formen der Konfliktaushandlung.
Wir genießen heute, vor allem als Bewohnerinnen und Bewohner von Rechtsstaaten, ein Maß an Lebenssicherheit, das sich mittelalterliche oder frühneuzeitliche Menschen nicht hätten vorstellen können. Oder anders gesagt: Die Normalitätserwartung , dass man nicht überfallen, ausgeraubt, körperlich angegriffen oder gar getötet wird, wenn man sich in einer Stadt bewegt, dass unterschiedliche Territorien dabei gar keine Rolle spielen und dass jederzeit die Polizei gerufen werden kann, wenn etwas Bedrohliches passiert – diese Erwartung entsteht nur in Gesellschaften, in denen es gelungen ist, die Gewalt im zwischenmenschlichen Alltag zurückzudrängen und den Gewaltgebrauch formal den einzelnen Menschen zu entziehen und ausschließlich der dafür legitimierten Exekutive – also der Polizei und dem Militär – zu übertragen.
Mit diesem Prozess der Zivilisierung geht, wie Elias minutiös rekonstruiert, eine Veränderung in den Verhaltensweisen einher, die kurzfristiges reaktives Handeln, etwa aus spontaner Wut, zugunsten von Weitsicht, Verhandeln und viel weniger spontanen Verhaltensweisen ablöst. Dieser Prozess zieht sich über Jahrhunderte und schreibt sich nicht nur in die alltäglichen Verhaltensweisen, zum Beispiel in Tischsitten oder Höflichkeitsformen, ein, sondern findet seine Entsprechung auch in der Psyche, etwa in einer höheren Sensibilität gegenüber den Empfindungen anderer und in einer möglichst genauen Antizipation der Absichten derjenigen, mit denen man zu tun hat.
Man kann am kontinuierlichen Absinken der Zahl der Gewaltopfer im Verlauf der Geschichte zeigen, wie tiefgreifend dieser historische Wandel im Gewaltgebrauch ist: Steven Pinker hat dazu – in deutlicher Anlehnung an Elias – eine monumentale Studie [69] vorgelegt, in der er die Zahlen derjenigen, die zu unterschiedlichen Epochen eines gewaltsamen Todes gestorben sind, mit den heutigen Quoten vergleicht. Gelegenheiten, einer Gewalthandlung zum Opfer zu fallen, gab es etwa im Mittelalter viele: Streitereien und Schlägereien auf der Straße oder in der Schänke, Überfälle und Raubmorde, Gewalt gegen Frauen und Kinder, Hexenverfolgung, Pogrome, Körperstrafen, Folter, die Definition von Menschen als Leibeigene oder Sachen. Und nicht zuletzt Kriege, die natürlich die größten Opferzahlen hervorbringen.
Auf Grundlage des Vergleichs von staatlichen und nichtstaatlichen Gesellschaften (also solchen, in denen zum Beispiel Gruppen von Jägern und Sammlern ohne übergeordnete Herrschaftsorganisation und ohne Institutionen zusammenleben) kommt Pinker zu eklatanten Unterschieden: Während in Gesellschaften von Jägern und Sammlern bis zu 60 Prozent der Todesfälle durch direkte Gewalt hervorgerufen sind, belaufen sie sich in modernen Staatsgesellschaften mit Zentralgewalt und rechtsstaatlichen Ordnungen in der Regel auf unter ein Prozent. Solche enormen Unterschiede finden sich im Übrigen nicht nur historisch, sondern auch in der Gegenwart. Die Gewaltquote ist dort, wo es keine funktionierende Staatlichkeit gibt – also in sogenannten failed states –, um ein Vielfaches höher als in funktionierenden Rechtsstaaten.
Das gilt auch für die innerstaatliche Gewalt , wenn zum Beispiel durch Drogenkartelle oder organisierte Kriminalität in manchen Städten oder Stadtvierteln das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft gesetzt ist und Gewalt eine so alltägliche wie willkürliche Erscheinung ist. Man kann hierzu zum Beispiel den Roman »City of God« von Paulo Lins lesen, der eindrucksvoll das Gefühl vermittelt, wie wenig ein Menschenleben wert ist, wenn eine entsprechende Gewaltkultur herrscht. Oder die Arbeiten des Konstanzer Neuropsychologen Thomas Elbert über Kindersoldaten studieren, um eine Ahnung davon zu bekommen, was das Leben in einer Welt bedeutet, die durch direkte und nicht durch zivilisatorisch eingehegte Gewalt bestimmt ist. Und welche neuronalen Auswirkungen die entsprechenden Gewalterfahrungen und Traumata haben.
Denn die Ausübung und das Erleiden von Gewalt sind aufgrund der biochemischen Prozesse, die mit Aggression, Angst, Schmerzerleben usw. verbunden sind, keine »normalen«, sondern höchst spezifische und nachhaltige Erfahrungen, die auch das Weiterleben nach der Gewalt tief beeinflussen. Die Traumaforschung legt darüber, übrigens wiederum besonders seit dem Vietnamkrieg, beredtes Zeugnis ab. Auch von dieser Seite her ist umstandslose Zustimmung zu Kriegshandlungen, ja die geradezu begeisterte Forderung nach Eskalationswaffen, freundlich gesagt, naiv. Ein Beispiel aus dem neuesten Krieg:
Diese Tweets beziehen sich auf den Beschluss der deutschen Bundesregierung , Leopard-Kampfpanzer in die Ukraine zu liefern; bei den Personen, die sich darüber sehr freuen, handelt es sich um eine Juristin, die in den verschiedensten gehobenen und leitenden Funktionen in politiknahen Think-Tanks und Stiftungen sitzt, und einen Journalisten der Süddeutschen Zeitung . Die Dame im Leopardensuit ist im Original animiert und räkelt sich lasziv. Wir sehen hier mithin eine sexuell unterlegte Gewaltverherrlichung , die gleich nach Steigerung ( Minkmar : »Next step: Kampfflugzeuge«) verlangt und die nicht nur grundsätzlich, sondern hier noch aus zwei Extragründen übel ist: Erstens handelt es sich um ein Beispiel des seit Beginn des Ukrainekriegs zu beobachtenden Vertretungsheldentums, dessen sich Frauen und Männer befleißigen , die ganz sicher mit den Gewalthandlungen , die sie verherrlichen, niemals direkt zu tun bekommen werden. Zweitens handelt es sich bei den Ergötzten nicht um Pubertierende mit geistigem und zivilisatorischem Entwicklungspotenzial, sondern um durchaus einflussreiche Personen, die politische Entscheidungen direkt und indirekt beeinflussen können. Aber dies nur als eines von leider sehr vielen Beispielen zur Willfährigkeit von Moralismus .
Man sieht schon an einem solchen Beispiel, mehr aber noch an der Dynamik von faktisch stattfindender Gewalt, dass ein einmal erreichter zivilisatorischer Standard niemals gesichert ist. Im Unterschied zu Steven Pinker hat Norbert Elias immer darauf hingewiesen, dass der Prozess der Zivilisation keine lineare Fortschrittsrichtung aufweist, sondern durch Prozesse der Entzivilisierung unterbrochen, umgedreht oder zunichte gemacht werden kann. Gerade die Entfesselung zweier Weltkriege durch Deutschland im 20. Jahrhundert sowie die Durchführung des organisierten Massenmords an sechs Millionen Menschen durch dieselbe Nation vermag das auf das Furchtbarste zu illustrieren.