Hans Magnus Enzensberger hat am 9. Dezember 1989 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen außergewöhnlichen Essay zu »Helden des Rückzugs« geschrieben – einerseits eine Vorwegnahme des »postheroischen Zeitalters«, das, wie wir heute sehen, leider auch nur ein paar Jahrzehnte dauerte. Andererseits aber ein erkenntnisleitender Impuls, darüber nachzudenken, wer denn die eigentlichen Helden der Geschichte sind. Diejenigen, die nach alten nationalstolzen Erzählungen den Tod nicht scheuende Kämpfer, Feldherren, Sieger sind, Gebiete und ganze Länder erobern und Besiegte unterjochen, oder aber diejenigen, die auf den Kampf verzichten, veränderte historische Notwendigkeiten richtig einschätzen und Gewalt und Zerstörung vermeiden? Enzensbergers Kardinalbeispiel in diesem hellsichtigen Text ist Michail Gorbatschow , dem er schon damals prophezeit, dass er im eigenen Land keine Popularität ernten würde. »Die schiere Aufgabe, die er sich gestellt hat, ist beispiellos. Er ist dabei, das vorletzte monolithische Imperium des zwanzigsten Jahrhunderts zu demontieren, ohne Gewalt, ohne Panik, ohne Krieg. Ob das gelingen kann, steht dahin. Doch hätte noch vor wenigen Monaten niemand das, was er bisher auf diesem Weg erreicht hat, für möglich gehalten. Es hat sehr lange gedauert, bis die Welt auch nur anfing, sein Projekt zu begreifen. Die überlegene Intelligenz, die moralische Kühnheit, die weitreichende Perspektive dieses Mannes – das alles lag, im Osten wie im Westen, so weit jenseits des Horizonts der politischen Klasse, dass keine Regierung wagte, ihn beim Wort zu nehmen.«
Enzensberger listet noch andere »Helden des Rückzugs « auf, aber es geht ihm nicht um Personen, sondern um die grundlegende zivilisatorische Haltung, im Angesicht von nicht fortsetzbaren Entwicklungen die Richtung zu wechseln. Diese Haltung gilt nicht für die Frage von Gewalt und Gewaltverzicht allein, sondern für alle politischen Handlungsfelder, deren Protagonisten allerdings, so Enzensberger, noch »am klassischen Heldenschema bis auf den heutigen Tag ebenso verbissen wie hilflos« festhalten.
Leider gilt dieser Befund, man denke nur an die allerneueste Kriegsrhetorik, auch ein Dritteljahrhundert später noch. Aber er gilt auch für das verbissene Festhalten an einstigen Erfolgsstrategien, die nicht mehr zu zwischenzeitlich veränderten Lagen und Herausforderungen passen. Boris Pistorius ist gewiss kein Held des Rückzugs, sondern ein Kämpfer für eine vergangene Welt. Rückzugspolitiker freilich sind nirgendwo zu sehen. Dabei, so Enzensberger , steht auch den westlichen Demokratien »eine Abrüstung bevor, für die es keinen Präzedenzfall gibt. Der militärische Aspekt ist nur einer unter vielen. Andere unhaltbare Positionen sind im Schuldenkrieg gegen die Dritte Welt zu räumen, und der schwierigste aller Rückzüge steht in jenem Krieg bevor, den wir seit der industriellen Revolution gegen unsere eigene Biosphäre führen.«
Die Fähigkeiten, die man braucht, um diesen überlebensnotwendigen Rückzug einzuleiten, könne man am besten an jenen studieren, die wie Gorbatschow aus der erwartbaren Entwicklungsrichtung ausgeschert sind, obwohl alle gefordert und erwartet haben, dass man »auf Kurs« bliebe. Erst durch solche »Vorbilder« wird erlernbar, wie man auf historische Herausforderungen angemessen antworten kann. Das ist übrigens für die Person des Rückzugshelden hart – das Ethos dieses Helden, schreibt Enzensberger, liegt in der Ambivalenz. Eindeutigkeit hat er nicht zu bieten, er muss die Zweideutigkeit der Alternative mit dem Risiko des Scheiterns auf sich nehmen. Geliebt wird man für Rückzüge nicht, solange das anachronistische Leitbild herrscht, das Unbeirrbarkeit, Konsequenz und Prinzipienfestigkeit hoch bewertet und Ambivalenz, Zögern, Selbstkorrektur niedrig. Man denke nur daran, wie oft Politikerinnen und Politiker routinemäßig sagen, sie seien »der festen Überzeugung«, oder an das mediale Bashing des Bundeskanzlers für sein »Zögern und Zaudern«, um zu spüren, wie wenig sich heute gegenüber der Zeit geändert hat, zu der Enzensberger seinen Essay geschrieben hat. Vor 34 Jahren, vor einer Generation.
Bis in die einzelnen Themen hinein, und jetzt bitte festhalten: »So kann eine Energie- und Verkehrspolitik, die diesen Namen verdient, nur mit einem strategischen Rückzug eingeleitet werden. Sie erfordert die Zerlegung von Schlüsselindustrien, die auf lange Sicht nicht weniger bedrohlich sind als eine Einheitspartei. Die Zivilcourage, die dazu nötig wäre, steht der kaum nach, die ein kommunistischer Funktionär aufzubringen hat, wenn es darum geht, das Monopol seiner Partei abzuschaffen. Statt dessen übt sich unsere politische Klasse in albernen Siegerposen und selbstzufriedenen Lügen. Sie triumphiert, indem sie mauert, und glaubt der Zukunft durch Aussitzen Herr zu werden. Vom moralischen Imperativ des Verzichts ahnt sie nichts. Die Kunst des Rückzugs ist ihr fremd.«
Das gilt auch 34 Jahre später noch, und mehr denn je. Der Westen hat aus der Erfahrung seiner Niederlagen nie eine Lerngeschichte des erfolgreichen Rückzugs gemacht, ja umso verbissener an seiner imaginierten Mission festgehalten, je weniger sie sich in der globalen Realität verwirklicht. Das ist enorm gefährlich.