»Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.«
Subrahmanyam Jaishankar, indischer Außenminister
Seit dem Vietnamkrieg, der im März 1973 mit dem Abzug der amerikanischen Truppen endete, insgesamt zwanzig Jahre dauerte, mehr als 58000 US -amerikanische Soldaten und bis zu drei Millionen Vietnamesen das Leben kostete, haben die militärischen Interventionen des Westens wenig Ruhmreiches hervorgebracht. Der völkerrechtswidrige Irakkrieg von 2003, der zum Sturz des Diktators Saddam Hussein führte, endete formell erst mit dem Ende des Kampfeinsatzes am 16. Dezember 2011, also fast ein Jahrzehnt später. Und hinterließ ein Land, das von funktionierender Staatlichkeit, geschweige denn von einer rechtsstaatlichen Demokratie und von Stabilität weit entfernt ist. Dasselbe gilt für Libyen, dessen Diktator Gaddafi , wiederum nach einer völkerrechtswidrigen Intervention, 2011 gestürzt und getötet wurde. Das Land ist heute in von verschiedenen Warlords regierte Territorien zerfallen und ein failed state. Der Krieg in Syrien , ursprünglich ein Bürgerkrieg, in den verschiedene Mächte intervenierten, endete aus westlicher Sicht, als die damalige UN -Botschafterin Nikki Haley im März 2017 erklärte, dass der Sturz des Diktators Assad für die USA keine Priorität mehr sei, und der Außenminister Rex Tillerson sekundierte , das Schicksal Assads werde nunmehr vom syrischen Volk entschieden. Status: fortlaufend. Das Ende des Afghanistankriegs im August 2021 mit der Machtübernahme durch die Taliban und dem kompletten Überlaufen der westlich ausgebildeten und aufgerüsteten afghanischen Armee war ein totales Desaster, nach einem zwanzigjährigen Krieg. Auch für die Bundesrepublik, die in einer totalen moralischen Niederlage etwa 40000 Ortskräfte und besonders gefährdete Personen der Macht der Taliban überließ. [72] Der deutsche Außenminister Heiko Maas hatte dazu nicht mehr mitzuteilen, als dass er sehr überrascht war.
Man darf sagen: ein halbes Jahrhundert ohne Erfolge. Kein nation building, keine Geburtshilfe für neue Demokratien. Dafür viele zerstörte Hoffnungen, viel Enttäuschung, viele Tote, auch viel Hass. Trotz seiner nicht nur militärisch, sondern auch moralisch eklatanten Niederlagen wird vonseiten des Westens immer wieder und immer noch der Anspruch artikuliert, zu intervenieren, um da und dort einen regime change in Richtung rechtsstaatlicher Demokratien zu initiieren und zu ermöglichen, Diktatoren zu stürzen, Menschenrechte durchzusetzen usw. usf. Wir leben in einer Welt, in der pausenlos immer alles evaluiert wird, Unternehmen, Institute, Arbeitsleistungen. Nur militärische Interventionen und Friedensmissionen nicht. Mali (unter dem vielversprechenden Namen »MINUSMA «), Südsudan – das sind Friedensmissionen, an denen auch die Bundeswehr beteiligt ist und bei denen völlig klar ist, dass das nichts wird mit dem Frieden.
Über alldem steht der bedeutungsvolle Titel »wertebasierte Außenpolitik«. Der Ukrainekrieg , in dem sich die NATO und alle ihre Bündnisstaaten entschieden gegen den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands stellten und stellen, wird wiederum mit moralischen Argumenten unterlegt und als »Kampf um die Freiheit« definiert, den man »as long as it takes« führen müsse, um den Diktator Putin daran zu hindern, nach einem Sieg über die Ukraine weitere Länder zu überfallen und zu unterjochen.
Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 verzeichnet man eine stetige Steigerung des Mitteleinsatzes und der Zahl der gefallenen Soldaten wie der zivilen Opfer, ohne dass – Stand Juni 2023 – absehbar wäre, wann und mit welchem Ergebnis dieser Krieg enden könnte. Am Ukrainekrieg ist besonders auffällig, dass vor lauter Betonung von Solidarität und fast bedingungsloser Unterstützung des angegriffenen Staates, der – man muss heute schon daran erinnern – kein Bündnispartner ist, Definitionen von Kriegszielen, Abschätzungen der notwendigen Kriegsmittel, vor allem aber die Haltung anderer Staaten zu diesem Krieg in der medialen Öffentlichkeit kaum diskutiert werden.
Gerade der Umstand, dass die Haltung der nichtwestlichen Welt zur Rolle des Westens in diesem Krieg bei uns medial und politisch kaum zur Kenntnis genommen wird, ist höchst bemerkenswert. Denn es ist ja kaum verwunderlich, dass Staaten mit einer kolonialen und postkolonialen Geschichte, in deren Befreiungskriegen die Sowjetunion vielfach eine positiv wahrgenommene Rolle gespielt hat und die USA gerade nicht, in der Betrachtung des Ukrainekriegs nicht automatisch die Moral der NATO -Bündnispartner teilen. Und genauso wenig verwunderlich ist, dass die geo-, macht- und energiepolitischen Interessen anderer Nationen wie China, Iran, Brasilien, Indien, Südafrika und vieler mehr dafür sorgen, dass zum Beispiel die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland gar keine Wirkung entfalten, die die russische Wirtschaft massiv treffen würde. Man nimmt Russlands günstige Rohstoffe gern ab, während der fossile Energiehunger etwa der Bundesrepublik gerade nach dem Ende russischer Öl- und Gaslieferungen zu teilweise erheblichen Preissteigerungen auf den entsprechenden Märkten geführt hat.
Und nicht zuletzt zu einer »Refossilisierung« der Energie- und damit der Klimapolitik. Man sieht, nicht nur die finanziellen Aufwendungen für die Unterstützung der Ukraine sind gewaltig, auch die Folgen für die unterstützenden Staaten werden erheblich sein. Der Krieg wird eine bedeutende Rolle im amerikanischen Wahlkampf spielen und die Demokraten schwächen, in Europa wird schon aus finanziellen Gründen die so emphatisch hervorgehobene Einheit der Mitgliedsländer mittelfristig wieder bröckeln, und die Mittel für die allenthalben – »Neue Zeit!« – geforderte Aufrüstung werden anderswo fehlen, bevorzugt in den Abteilungen Bildung, Kultur und Soziales.
Mithin ist keineswegs klar, wer am Ende die Verlierer dieses Kriegs sein werden, nicht einmal dann, wenn Putin die von ihm verfolgten Ziele nicht erreicht. Und genauso unklar ist, wie denn eigentlich eine internationale Friedensordnung nach diesem Krieg aussehen soll und welche Rolle dem sich immer noch dominant wähnenden Westen darin zukommt. Denn dass der Westen, wie Albrecht Koschorke am 2. März 2023 in der Zeit [73] schreibt, »sich einmal mehr in ein womöglich auswegloses militärisches Engagement verstrickt, wird in Ländern der früheren Dritten Welt als ein Symptom für das nahende Ende einer von den USA dominierten internationalen Ordnung gelesen. Ohnehin begegnet man dort der moralischen Parteinahme des Westens für die Ukraine mit dem Verdacht, dass dem Leiden von Weißen mehr Gewicht beigemessen wird als dem Elend in südlicheren Weltregionen.«
In der Tat: Genau das hat der aus Malaysia stammende einflussreiche Umweltaktivist und Autor Chandran Nair in einem vielzitierten Artikel dargelegt, dessen Titel »Kriege sind nur dann böse, wenn Westler Opfer sind« auf jenen Vorwurf der doppelten Moral verweist, der westlichen Akteuren gerade aus der Perspektive des Globalen Südens heraus gemacht wird und der keineswegs unerheblich für die Frage ist, wie dieser Krieg denn einmal ausgehen wird. [74] Denn die Bereitschaft, Bündnisse einzugehen, hängt bei allem realpolitischen Kalkül immer auch davon ab, welchem staatlichen Akteur man ein Mindestmaß an Vertrauen beimisst.
Der Doppelmoral des Westens, die besonders in Ländern des Globalen Südens tief empfunden wird, hat der Völkerrechtler Kai Ambos im vergangenen Jahr ein kleines Büchlein gewidmet. Ambos ist Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag und Verteidiger am Internationalen Strafgerichtshof – ein Jurist mithin, der etwas vom Völkerrecht und Völkerstrafrecht versteht. Sein Buch mit dem Titel »Doppelmoral. Der Westen und die Ukraine « verfolgt ebenfalls die Fragestellung, »warum die westliche Ukraine-Politik im weltweiten Maßstab keineswegs von der viel beschworenen ›internationalen Gemeinschaft‹ […] unterstützt wird , sondern vor allem im Globalen Süden auf viel Kritik stößt.« [75]
In der Tat: Zwar haben im März 2022141 von 193 stimmberechtigten UN -Mitgliedsstaaten der Resolution zugestimmt, die einen sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Abzug der russischen Streitkräfte forderte, aber lediglich 38 Länder beteiligen sich de facto an Sanktionen gegenüber Russland und nur 30 unterstützen die Ukraine auch mit Waffenlieferungen. Eine weitere Resolution vom 23. Februar 2023 verzeichnet nur sieben Gegenstimmen und 32 Enthaltungen, aber eine grundsätzliche Änderung der Situation impliziert das nicht. Denn nach wie vor zeigt sich sowohl hinsichtlich der Staaten, die sich bei der Abstimmung enthalten oder nicht beteiligt haben, als auch hinsichtlich der faktischen Unterstützung der angegriffenen Ukraine eine deutliche Zurückhaltung der afrikanischen und asiatischen Länder.
So betrachtet kann von einer globalen Isolation Russlands auch mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn nicht die Rede sein, wobei Ambos ein deutliches Nord-Süd-Gefälle in der Entschiedenheit der Ablehnung Russlands konstatiert. Diese Zurückhaltung führt der Autor unter anderem auf den widersprüchlichen Umgang des Westens mit dem Völkerrecht zurück, den viele Vertreterinnen und Vertreter des Globalen Südens keineswegs nur vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit betrachten, sondern auch angesichts dessen, dass Völkerrechtsverbrechen westlicher Staaten noch gut in Erinnerung sind. Die rechtswidrige Irak-Invasion zählt dazu, Verletzungen der Menschenrechte durch NATO -Streitkräfte im Irak und in Afghanistan , die NATO -Intervention im serbisch-kosovarischen Krieg, aber auch die gezielten Tötungen im Rahmen des »Kriegs gegen den Terror«, zuletzt des Al-Qaida-Führers al-Zawahiri in Kabul. Alles nicht so richtig wertebasiert.
Auch die Zustimmung zur Zulieferung von Waffenbauteilen an Saudi-Arabien, das an einem Krieg beteiligt ist, der bislang 400000 Menschenleben gekostet haben soll, ist kein Beitrag zur Konsistenz der westlichen Haltungen in Bezug auf völkerrechtliche Fragen. Ambos, der keinen Zweifel daran lässt, dass Russlands Bruch des Völkerrechts nicht hingenommen werden kann, stellt die gerade vor dem aktuellen Hintergrund berechtigte Frage, ob die notwendige Unterstützung der Ukraine und umgekehrt die internationale Isolation der russischen Diktatur nicht viel stärker ausfiele, wenn der Westen selbst mehr Glaubwürdigkeit beanspruchen könnte und seinerseits konsequenter dem Völkerrecht folgen würde, als es der Fall ist.
Albrecht Koschorke geht in seinen Überlegungen noch weiter und sieht in der sich abzeichnenden geopolitischen Figuration mit China, Russland, Indien und vielen anderen einen globalen Bedeutungsverlust des Westens, nicht nur, aber vor allem wirtschaftlich (vgl. S. 33). [76] Während die G-7-Länder in den 1980er Jahren weit mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung repräsentierten, sind es heute nur noch gut 40 Prozent.
Diese eher betrüblichen Befunde und Aussichten schlagen sich aber in den Selbstbildern der zum Westen zählenden Bündnispartner noch gar nicht nieder. So ist in den Medien oft von der »Führungsrolle« die Rede, die Deutschland endlich annehmen müsse, die Präsidentin der EU -Kommission tritt genauso wie die deutsche Außenministerin mit dem Habitus der Geschichtsmächtigkeit auf die außenpolitische Bühne, und dass selbst innerhalb des Bündnisses der türkische Präsident oder etwa auch der ungarische Ministerpräsident auch in Bezug auf den Ukrainekrieg ganz eigene Agenden verfolgen, wird gar nicht groß thematisiert. Zu dominant ist die Erzählung darüber, dass Putin es geschafft habe, die EU und die NATO so eng zusammenzuschmieden, wie es vor diesem Krieg gar nicht denkbar war – und in der Euphorie über diesen eher oberflächlichen und vermutlich wenig nachhaltigen Befund übersieht man geflissentlich, dass das für die andere Seite mindestens genauso gilt.
Auch dort werden die Bündnisse ja enger, wie der brasilianische Politikwissenschaftler Giorgio Romano Schutte schreibt: »Ein anschauliches Beispiel für den Erfolg der russischen Diplomatie ist die Haltung der OPEC -plus (Organisation der Erdöl exportierenden Länder). Europa mag steif und fest behaupten, dass Russland sich selbst isoliert – aus der Perspektive des Globalen Südens stellt sich das ganz anders dar.«
Gerade die fortgesetzt ignorante Haltung etwa gegenüber der Weigerung Brasiliens, Chiles und Argentiniens, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu unterstützen, »stärkt im Globalen Süden das Bewusstsein dafür , dass er intensiver kooperieren und seine Prioritäten im Kampf gegen Armut und Hunger oder gegen Klimakrisen (unter denen diese Länder am stärksten zu leiden haben) und auch gegen Pandemien deutlich artikulieren muss. Europa muss begreifen, dass in den Augen der meisten Entwicklungsländer China in diesem Gesamtkontext ein maßgeblicher Partner ist – und Russland nicht das größte Problem. Das erklärt auch, warum immer mehr Länder ihr Interesse an einem Beitrag zum BRICS -Verbund und zu seiner Neuen Entwicklungsbank bekunden. Die eurozentrische Welt geht ihrem Ende entgegen, die Vormachtstellung der USA wird infrage gestellt.« [77]
Am deutlichsten zu sehen ist das Zusammenrücken auf der anderen, dem Westen abgewandten Seite an der Allianz zwischen China und Russland, die ressourcenpolitisch äußerst bedeutsam ist, es aber militärpolitisch noch sehr schnell werden kann – etwa wenn China Russland mit Waffen versorgt oder im Fall des erwartbaren Überfalls auf Taiwan auch Unterstützung von Putin und seinen Getreuen bekommen wird.
Die nächste Bredouille, in die sich der Westen peu à peu hineinmanövriert, wird mitsamt all seiner militärischen Niederlagen und Demütigungen aus dem vergangenen halben Jahrhundert in der vorherrschenden politischen und medialen Optik ausgeblendet. Das wiederum kann man als das Fortwirken eines Selbstbildes betrachten, das schon länger der historischen Situation nicht mehr angemessen ist. Norbert Elias hat in diesem Zusammenhang von einem »Nachhinkeffekt« gesprochen, der regelmäßig zu beobachten ist, wenn Staaten oder Imperien ihre einstmalige Bedeutung längst verloren haben, aber auf der Gefühlsebene immer noch »große« und »mächtige« Nationen sind. Elias hat das am Beispiel der ehemaligen Seemacht Holland illustriert, aber man muss ja aktuell nur nach England schauen, um zu sehen, dass aus dem ehemals mächtigen Empire nur mehr die tragikomische Reality-Version eines Monty-Python-Drehbuchs geworden ist, die sich aber mit König und Ultra-Kurzzeit-Prime-Ministers so inszeniert, als hätte sie als Nation noch eine Zukunft, die der Rede wert sei.
Aber lustig ist das alles natürlich nicht. Denn solche Täuschung über die eigene Rolle und die eigenen Potenzen kann ja gerade im Zusammenhang von kriegerischen Auseinandersetzungen dann äußerst fatal werden, wenn man die eigenen Möglichkeiten über- und die des Gegners unterschätzt. Oder in der selbstfokussierten Betrachtung der Situation nicht richtig wahrzunehmen in der Lage ist, wie sich auf der anderen Seite sukzessive die Gewichte zu den eigenen Ungunsten verschieben. Genau das scheint hier der Fall zu sein – weshalb Koschorke drei Verlierer des Ukrainekriegs sieht: Russland hinsichtlich seiner internationalen Reputation und seines Modernisierungsrückstands, die Ukraine wegen der verheerenden Zerstörungen und Verluste und den Westen, dessen Gestaltungsmacht sich gerade in diesem Fall als begrenzter erweisen wird, als er selbst glaubt.
In einer aktuellen, international vergleichenden Studie, in der die Bevölkerungsmeinungen zum Ukrainekrieg erhoben wurden, kommt wiederum prägnant zum Ausdruck, dass die Rolle des Westens in diesem Krieg als weiterer Beleg für dessen Arroganz betrachtet wird. Die Befunde dieser Studie werden von einem ihrer Autoren, Mark Leonard , so resümiert: »Das Paradoxe am Krieg in der Ukraine ist, dass der Westen zugleich geeinter und weniger einflussreich in der Welt ist als je zuvor.« [78]
Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass gerade Abstiegsgesellschaften zu Gewalt neigen. Der Verlust ehemaliger Vorteile, schreibt er, spielt »eine Rolle in ihren Ängsten, in der Vorausschau einer unerfreulichen Zukunft, die sie zum Kampf und häufig zum Kampf mit immer grausameren und immer verzweifelteren Mitteln treibt, auch wenn Entwicklungen, die ihrem Einfluss entzogen sind, die Machtbalance offenbar zu ihren Ungunsten umstoßen«. [79] Vielleicht liegt auch darin ein Grund für die doch verblüffend rapide verlaufende Renaissance von Sprachgebräuchen und Begriffen in Milieus, die noch vor kurzem gegen Kindertagesstätten vorgegangen sind, weil man dort »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« mit den Kindern gesungen hatte. Denn da kommt ja irgendwann »der Jäger mit dem Schießgewehr« und nietet den Fuchs um. Heute ist es im selben woken Milieu gang und gäbe, den Einsatz von Kampfpanzern zu fordern (»Let the Leopards free«), mit »Warfluencern« (Sascha Lobo) den Krieg hautnah mitzuerleben zu glauben und wie Anton Hofreiter Panzer- und Haubitzentypen so souverän aufzuzählen, dass er damit bei »Wet-ten, … dass?« auftreten könnte. Welcher mentale shift sich hier innerhalb von nur einem Jahr vollzogen hat, sieht man, wenn der grüne Landwirtschaftsminister sich bei der Teilnahme an Wehrübungen fotografieren lässt oder die Militärexpertin Claudia Major Kinderreportern erklärt, wieso in der Ukraine Krieg ist und wie man die Angegriffenen unterstützen muss. [80] »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« gilt jetzt in Kitas vermutlich als verpönt, weil der Aggressor ja total pazifistisch vor dem Jäger gewarnt wird.
Bei alldem gerät komplett aus dem Blick, dass der Westen in Bezug auf diesen Krieg ein Selbstgespräch führt. »Während er bei uns«, schreibt Koschorke , »Tag für Tag die Schlagzeilen beherrscht, steht er in Indien, China, Indonesien, Lateinamerika, Afrika, den arabischen Staaten und der Türkei nicht in gleicher Weise oben auf der Agenda .« Dort ist man mit anderen Dingen befasst und betrachtet das Ganze als einen Regionalkonflikt, den der Westen mit Russland abzumachen hat. Dies alles zeigt auf eigentlich spektakuläre Weise, wie ein Selbstbild, das sich in einer spezifischen historischen Epoche – nämlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – herausgebildet und verfestigt hat, auch dann noch die Wahrnehmungen und Handlungen bestimmt, wenn sich die Realitäten de facto längst verschoben haben.
Wie jung Rolle und Selbstbild des geopolitischen Akteurs Westen unter Führung der USA sind, kann man sich in Erinnerung rufen, wenn man den Aufstieg von Nordamerika als Schutzmacht der westlichen Demokratien historisch richtig einordnet: nämlich nach 1945 in die Nachkriegsfriedensordnung, die mit dem Potsdamer Abkommen zwischen den Siegermächten eingeleitet wurde und sich im Kalten Krieg konturierte, bis schließlich der Systemzusammenbruch des Ostblocks die geopolitischen Karten neu verteilte. Aber anders, als man im Westen glaubte.
Am 16. März 1947 schrieb Sebastian Haffner im Observer einen Kommentar zu einer Rede des amerikanischen Präsidenten Truman , in der dieser betonte, dass »es die Politik der Vereinigten Staaten sein müsse, freie Völker zu unterstützen, die sich gegen Unterjochungsversuche durch bewaffnete Minderheiten oder Druck von außen wehren«. Haffner konstatiert gegenüber diesem Anspruch einige Befürchtungen »in den älteren Ländern Europas«, dass »die Amerikaner von ihrer Macht dilettantisch und unbesonnen Gebrauch machen – dass die Vereinigten Staaten, ein Neuling im internationalen Machtpoker, ihrer eigenen Position noch nicht sicher, durch zu starkes Selbstbewusstsein Krisen heraufbeschwören, vor denen sie dann kneifen«. [81]
Ups, denkt man als zeitgenössischer Leser, der in Westdeutschland und mit der Rolle der USA als westliche Schutzmacht und Weltmacht aufgewachsen ist, die waren nach dem Zweiten Weltkrieg »ein Neuling« in der Geopolitik, unerfahren, aber schon mit missionarischem Anspruch – eine ungute Kombination. Nur zwei Generationen später sieht man die Hellsichtigkeit von Haffners Beschreibung, denn während sich der wirtschaftliche und kulturelle Erfolg des amerikanischen Modells als durchschlagend und stilprägend erwiesen hat, ist das geopolitische und militärische Agieren der USA seither alles andere als eine Erfolgsgeschichte gewesen. Und der gegenwärtige amerikanische Präsident ist Jahrgang 1942, er selbst ist gewissermaßen die autobiographische Verkörperung des amerikanischen Zeitalters, das gerade zu Ende geht. Die bizarre Absicht, diesen alten Mann ein weiteres Mal für das Präsidentenamt kandidieren zu lassen, illustriert auf fast gespenstische Weise, dass eine Epoche nicht zu Ende gehen soll, die sich de facto überlebt hat.
Umso interessanter, dass das historische Gedächtnis so kurz ist, dass man die mögliche Fragilität des westlichen Modells nicht wahrnehmen will, da man die liberale Demokratie schon deshalb für ein Zukunftsmodell hält, weil man selbst Teil von ihr ist. Genau das könnte ein großer Fehler sein.
Im Grunde sieht man sich trotz aller Misserfolge immer noch als Vermittler eines nicht nur wirtschaftlich, sondern auch zivilisatorisch beglückenden Typs von Staatlichkeit, dessen normatives Fundament so beispielhaft ist, dass es auch die noch nicht demokratisierten Länder nach und nach übernehmen würden. Exemplarisch und in seiner ganzen Hybris hat Francis Fukuyama dieses Selbstbild nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in seine Theorie vom »Ende der Geschichte« (1992) gekleidet. Vielleicht hätte er Haffner lesen sollen.
Dreißig Jahre später kann man den rasanten Aufstieg nichtdemokratischer Mächte, allen voran China, verzeichnen, einen weltweiten Rückgang der Demokratien , die sich heute global in der Minderheit der vorhandenen Staatsformen befinden, [82] eine Hochkonjunktur militärischer Aufrüstung und eine Reihe demokratischer Gesellschaften auf der rechtsstaatlichen Kippe – wie Israel, Polen, Ungarn, England und die USA .
Aber in einer Art von somnambulem Zustand agiert man noch immer geleitet durch ein Selbstbild, das eine Geschichtsmächtigkeit suggeriert, die de facto längst im Rückwärtsgang fährt, deren mentales Zentrum aber das Aufstiegsmodell der früh industrialisierten Gesellschaften bildet, nämlich, so Koschorke , »die seit der europäischen Aufklärung immer wieder erneuerte Erwartung, dass der Fortschritt der Moderne eines nicht fernen Tages die friedliche Vereinigung aller Völker herbeiführen werde . Freihandel und internationale Verflechtung sollten kriegerische Auseinandersetzungen unmöglich machen. Dieser Glaube hat sogar die Katastrophen des 20. Jahrhunderts überstanden und in der Formel vom Wandel durch Handel noch die deutsche Russlandpolitik bis in die jüngste Gegenwart informiert. Im Narrativ der Globalisierung als eines scheinbar unausweichlichen Prozesses fand er seine vorerst letzte Bastion.« [83]
Aber auch dieses Narrativ ist nach der Corona-Pandemie brüchig, die die für viele überraschende Abhängigkeit zum Beispiel der Arzneimittelversorgung von einzelnen asiatischen Produzenten schlagend vorgeführt hat. Der russische Angriffskrieg bedeutete auch eine herbe Desillusionierung in Bezug auf die billige Energie und weckt mit dem Blick auf das imperialistische China furchtsame Erwartungen. Die schöne, aber etwas phantasiearme Idee, der etwa die deutsche Autoindustrie auch heute noch nachhängt, dass sich die wirtschaftliche Zukunft durch die beständige Erweiterung von Absatzmärkten definiere, ist nun dahin, und das erschreckende Wort von der » Deglobalisierung « kommt in Gebrauch, ohne dass man sich noch recht vorzustellen traut, welche Wohlstandsverluste diese am Ende mit sich bringen wird.
Und in aller Dialektik ist zu beobachten, wie die Fortschrittsansprüche von den Taten in die Worte wandern, eindrucksvoll zu sehen an den Gas-Shoppingtouren von Kanzler und Vizekanzler zu den antidemokratischen Potentaten der Welt, bei gleichzeitiger verbaler Hochrüstung in Sachen »wertebasierter«, »regelbasierter«, gar »feministischer Außenpolitik«. Je weniger etwas Wünschenswertes in der Wirklichkeit realisiert ist, desto größer wird der verbale Aufwand: Deshalb ist so viel von »Innovation« und »Transformation«, von »europäischen Werten«, von »Wertegemeinschaft«, »Verantwortung« und »Nachhaltigkeit« die Rede. Man hat das alles weniger denn je, man versichert sich gegenseitig nur mit der Inflation normativer Begriffe, dass man noch irgendetwas Werthaltiges mitzuteilen und zu bestellen hätte.
Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es nur Folklore bliebe – wie Trachtengruppen, die Vergangenheiten aufführen, die es nie gegeben hat. Es ist aber dann verhängnisvoll, wenn daraus Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen und Handlungen resultieren, die irregeleitet sind – also etwa die eigene Stärke, die eigene Bündnisfähigkeit, die eigene Wirtschaftskraft, die eigenen Handlungsmöglichkeiten überschätzen lassen. Eine bayerische Lebensweisheit lautet: »Nur mit vollen Hosen ist gut stinken«, und gerade absteigende Nationen oder Staatenbündnisse tun sehr gut daran, ihr Selbstbild gelegentlich zu prüfen und, wo nötig, tieferzulegen. Niemand im Rest der Welt erwartet vom Westen »Leadership«, die meisten würden einen entsprechenden Anspruch sogar fürchten, und das aus historisch guten Gründen. Die meisten sehen Doppelmoral, Arroganz, Überheblichkeit, und wenn sie mit der Deutschen Bahn durch die Bundesrepublik gereist sind, sehen sie auch, wie krass inzwischen der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit geworden ist.
Aber gehen wir mal vom glücklichen Fall aus: Der Westen rutscht nicht in fortgesetzter Selbstüberschätzung seiner Bedeutung und seiner Mittel in die Entgrenzung des Kriegs hinein, sondern wirkt mit an einer internationalen diplomatischen Offensive, die den Krieg in der Ukraine zumindest einfriert. Damit wäre Zeit gewonnen für eine Neusortierung der historischen Rolle und der globalen Bedeutung und Raum für ein korrigiertes Selbstbild.
Was spricht eigentlich dagegen, die eigenen Mittel und Stärken nicht weiter in eine imaginierte globale Bedeutung zu investieren, sondern vor allem in die Resilienz und Krisenfestigkeit der eigenen Gesellschaft? Schließlich haben zahllose wissenschaftliche Einrichtungen, engagierte Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, aber auch viele Unternehmen wichtige Vorarbeit geleistet, um aus einer historisch falsch abgebogenen Hyperkonsumgesellschaft , die einem anachronistischen Leitbild folgt, eine moderne, sozial gerechte und ökologisch aufgeklärte Gesellschaft zu machen, die deshalb wieder zustimmungsfähiger wird, weil die meisten Menschen in ihr einen Sinn sehen, sich mit ihr identifizieren können. Was wäre schlimm daran, das zu verfolgen, ohne darin gleich eine Blaupause für den Rest der Welt zu sehen, sondern es vielleicht so ernsthaft zu versuchen, dass das Ergebnis sich sehen lassen kann?
Die skandinavischen Länder hatten mit ihren sozialpolitischen Konzepten viel Erfolg, aber sie hatten nie eine Skandinavisierung der Welt im Sinn. Das allermeiste im Leben ist zyklisch, das gilt auch für Gesellschaften. Man sollte absteigen lernen und dafür studieren, wie Nationen wie Portugal, Spanien, Holland und andere ihre Abstiegstransformationen bearbeitet und bewältigt haben. Absteigen zu üben wäre überraschenderweise ein Lernprogramm mit weit mehr Erfolgspotenzial als eine zukunftsblinde Retropolitik, die unter dem Begriff der » Zeitenwende « glaubt, durch Aufrüstung und Konfrontation ihre Position im globalen Gefüge festigen oder auch nur halten zu können. Der Künstler Nikolaus Huhn hat die einstigen Versuche, aus der DDR eine führende Nation in der Erdölförderung zu machen, in dem Slogan zusammengefasst: »Von Thüringer Energiequellen lernen, heißt versiegen lernen!«