6. »Die« Wirtschaft

Der Mythos der » Dekarbonisierung «

»Unter Wirtschaften werden alle menschlichen Aktivitäten verstanden, die mit dem Ziel einer bestmöglichen Bedürfnisbefriedigung planmäßig und effizient über knappe Ressourcen entscheiden. Die Notwendigkeit zu Wirtschaften (sic!) ergibt sich aus der Knappheit der Güter einerseits und der Unbegrenztheit der menschlichen Bedürfnisse andererseits.«

Ach, Wikipedia, du Quelle unendlichen Wissens, du faszinierender Nachweis für die Schwarmintelligenz auch der Menschen! Nach deiner profunden Definition gäbe es all den Quatsch nicht, den »die Wirtschaft« unermüdlich und mit stetem Erfolg den Leuten andreht: Wer hätte denn je von sich aus das Bedürfnis gehabt, ein drei Tonnen schweres Elektroauto zu kaufen, das in keine Garage und auf keinen Parkplatz der Welt passt, aber dafür so designt ist, als hätte man es an einer Kirmesbude geschossen? Und wer würde, nach dem beschleunigten Ausbaubeschluss von 144 Bauprojekten auf Autobahnen in Zeiten der Klimakatastrophe, im Ernst von einer effizienten Nutzung knapper Ressourcen sprechen? Die »Unbegrenztheit der menschlichen Bedürfnisse« gibt es nur in der gehobenen Poesie der Wirtschaftswissenschaften, in der Wirklichkeit sind die menschlichen Bedürfnisse sehr begrenzt, zum Beispiel dadurch, dass sie alle sterben müssen, die Menschen.

Und genauso wie die Trivialpsychologie der »menschlichen Bedürfnisse« nur eine patente Erfindung dafür ist, den Menschen Eigenschaften anzudichten, die zu einer völlig entgrenzten und gerade nicht an Ressourcen und Bedürfnissen orientierten Immerwachstumswirtschaft passen, so wird die Knappheit der Güter eben nicht zum Ausgangspunkt des Wirtschaftens genommen, sondern durch Übernutzung permanent gesteigert, was etwa die spektakulären Aussterberaten der Arten bezeugen oder auch die planmäßige Zerstörung von Böden, Wäldern und Gewässern. Ausgerechnet die einzige Ressource, die nicht knapp ist, wächst immer weiter, weil sie so erfolgreich von den Ökonomen bewirtschaftet wird: Das ist die Dummheit.

Tatsächlich wird unser Zeitalter, falls es später noch Historikerinnen und Historiker geben wird, als »Age of Stupid« bezeichnet werden, denn noch nie haben Menschen mit so viel Wissen so viel falsch gemacht. Jedenfalls wenn man das, was sie tun, vom Standpunkt des Überlebens der menschlichen Lebensform her betrachtet.

Wenn man es vom Standpunkt der Maximierung von Lebenschancen für einen sehr kleinen Teil der Menschen betrachtet, dem als Voraussetzung auch noch das Prinzip der Generativität gleichgültig sein muss, ist aber ziemlich dicht am Optimum, was gerade so auf der Welt geschieht. So berichtet Greenpeace, dass es in Deutschland im Jahr 2022 58424 Flüge mit Privatflugzeugen gegeben hat, die 208645 Tonnen Kohlendioxid freigesetzt haben. Am häufigsten wurde dabei die Strecke Berlin–Köln geflogen, die im ICE in viereinhalb Stunden zurückgelegt wird. Greenpeace nennt das »rücksichtslose Mobilität«, die Soziologie nennt das Statuskonsum . Und dass die Leitkultur des Verbrauchs und der Verschwendung nach wie vor ganz ungebrochen ist, zeigten etwa die Bilder des im selbst gesteuerten Privatflieger zur Hochzeit des Kollegen Finanzminister anreisenden Oppositionsführers im Deutschen Bundestag.

Abb. 8: Hebt selbst ab. Friedrich Merz , CDU .

Fotos wie das vom fliegenden Politiker, vom Monster-SUV fahrenden Fußballer oder von Kreuzfahrten liebenden Prominenten wie Harald Schmidt zeigen auch im 21. Jahrhundert, dass Statuskonsum im Wesentlichen immer noch über den sichtbaren Verbrauch funktioniert – man zeigt, was man sich leisten kann. Dieser Befund ist deprimierend, weil sich lebensweltliche Leitbilder immer noch als fossile Leitbilder formulieren und weil selbst bei den gesellschaftlichen Eliten noch nicht angekommen zu sein scheint, dass sie weiterhin Leitbilder des rücksichtslosen Konsums und der rücksichtslosen Mobilität pflegen und prägen.

Und es ist schon ein merkwürdiges Phänomen, dass etwa die Aktivistinnen und Aktivisten der selbsternannten »Letzten Generation « Ziel von – übrigens von Politikern geschürter – heftiger Aggression sind, obwohl sie nicht mehr machen, als den durchschnittlich 1400 Staus pro Tag noch jeweils einen oder zwei hinzuzufügen. Die Aggression gegen die Mitwelt, die rücksichtslose Mobilität darstellt, wird hingegen kaum beachtet, sondern gilt im Gegenteil noch immer oder vielleicht mehr denn je als bewundernswert. [84]

Vielleicht muss man auch in Rechnung stellen, dass die Transformation umso mehr Gegnerschaft auf sich zieht, je unabweisbarer sie wird. In einer etwas naiven Herangehensweise in der Tradition von Bildung und Aufklärung geht man ja davon aus, dass wissenschaftliche Befunde und daraus abgeleitete Argumente sukzessive eine solche Überzeugungskraft entfalten, dass die politischen und wirtschaftlichen, aber auch die kulturellen Akteure nach und nach die Erkenntnisse und die daraus sich ergebenden Notwendigkeiten akzeptieren. Das wäre das, was die Soziologie »inkrementell« nennt – eine schrittweise Annäherung an ein anderes Bewusstsein und eine sukzessiv wachsende Veränderungsbereitschaft.

Nur findet die im Fall der Erderhitzung offenbar anders statt. Zwar hat sich das Bewusstsein dafür, dass man es beim Klimawandel mit einem ernsthaften Überlebensproblem zu tun hat, inzwischen weit verbreitet – und zumindest in Deutschland findet man Leugner dieses Vorgangs nur noch in verschrateten Kreisen von Querdenkern und Rechtsradikalen. Aber zugleich zeigt gerade der Erfolg, Bewusstsein inkrementell zu verbreiten, die ausgesprochen lose Verbindung zwischen Bewusstsein und Handeln an. Denn jedes Bewusstsein findet seinen Ort in einem gesellschaftlichen Zustand, in einer politischen Gemengelage und in einer Lebenswelt, die ein höchst widersprüchliches Anforderungsprofil für diejenigen bilden, die ein solches Bewusstsein haben. Und ein Bewusstsein über den katastrophalen Zustand des Klimasystems tritt in Konflikt mit allem Möglichen – den Mobilitätsangeboten, den beruflichen Aufgaben, den Reisewünschen, den politischen Vorgaben, der Tradition und den Gewohnheiten , dem Statuskonsum usw. usf. Gerade wenn die Widersprüche und die Zielkonflikte groß sind, wird so ein Bewusstsein schnell dasjenige, das am einfachsten kognitiv zu bearbeiten ist. Dafür ist eigens das Wort »eigentlich« erfunden worden, das es erlaubt, Gründe anzugeben, weshalb man nicht tut, was man tun müsste.

Das funktioniert individuell ganz prima, aber es funktioniert – und dafür ist der Klimawandel als faktisches Überlebensproblem ein Lehrbuchbeispiel – auch gesellschaftlich. Gerade an ihm lässt sich ja zeigen, dass ein objektives Dilemma sich nach seiner subjektiven Seite hin auflösen lässt. Etwas vereinfacht könnte man sagen: Dreißig Jahre Kommunikation und Forschung zum menschengemachten Klimawandel haben das Bewusstsein geschaffen, dass das Problem existiert und dass es gravierend ist. Da es ein menschengemachtes Problem ist, liegt seine Lösung nicht in Schicksalsergebenheit, sondern in der Transformation der Bedingungen, die es hervorgebracht haben. Diese Bedingungen sind höchst vielfältig – zusammengefasst liegen sie in einer industriegesellschaftlichen Entwicklung, die auf der Basis von fossiler Energie unglaubliche Wohlstands- und Möglichkeitssteigerungen geliefert hat und dabei erhebliche Störungen in der Biosphäre und im Klimasystem angerichtet hat. Der Grund für diese Störungen ist das Gesamt von Abbau, Transport und Nutzung natürlicher Ressourcen.

Wenn man die Perspektive von diesem Gesamt allein auf die Ursachen des Klimawandels verengt, spielen Treibhausgase und besonders das CO ₂ eine besonders gut zu bestimmende Rolle, weshalb es die zentrale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Die Antwort auf die fälschlicherweise bald » Klimakrise « genannte Erderhitzung wurde folglich als eine technische definiert: Man muss nur den Ausstoß von CO ₂ reduzieren und schließlich ganz vermeiden, dann wird das Problem gelöst. Mit dieser Zentralreduktion (vgl. S. 74) ist das Gesamt der Ursachen für die ökologisch und klimatologisch immer bedrohlichere Lage allerdings aus dem Blick geschoben. Was den psychologischen Vorteil hat, dass man den Umfang der notwendigen Veränderungen auf das CO ₂ zusammenschnurren lassen und die Erzählung verbreiten kann, dass alles so weitergehen kann wie bisher, wenn die »Dekarbonisierung« der Weltwirtschaft gelingt.

Abgesehen davon, dass es nicht mehr als Kinderglaube ist, dass man eine statistische Abstraktion wie die »Weltwirtschaft« auf ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Praxis eichen könnte – jedes Unternehmen und jede Volkswirtschaft verfolgen ja ihre eigenen und nicht die allgemeinen Interessen –, resultiert aus dem Herunterzoomen der Gesamtproblematik der Übernutzung aller natürlichen Ressourcen inklusive der Atmosphäre auf ein einziges Molekül die Fortschreibung eines nicht überlebenstauglichen Wirtschaftsmodells. Ein permanentes Anwachsen der Güter- und Verbrauchsmengen bringt auch ohne CO ₂ noch so viel Zerstörung mit sich, dass man sich am Abbremsen der Erderhitzung kaum freuen wird, weil auch die klassische Verschmutzung und Vermüllung der Welt die Überlebensräume radikal verkleinert.

Man muss nur an den künftigen Bedarf an Rohstoffen denken, den man für die Dekarbonisierung braucht. Lithium, für die Batterien unabdingbar, kostet heute das Fünffache wie vor zehn Jahren, und im Jahr 2030 könnte es schon knapp sein. Vom Halbmetall Tellur braucht die energiegewendete Welt 2030 wahrscheinlich die zehnfache Menge im Vergleich zu heute, ein Problem für die Solarindustrie. [85] Und so geht das immer weiter, etwa wenn man sich scheinbar aus den Abhängigkeiten fossiler Energien befreit und für grünen Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe »Energiepartnerschaften« mit Ländern abschließt, von denen man keineswegs weiß, ob die in Zukunft Demokratien oder Despotien sind.

Man bearbeitet also – und zwar geradezu obsessiv – einen kleinen Ausschnitt eines Gesamtprozesses, der sich nach wie vor in die falsche Richtung bewegt, und fragt sich dabei gern, weshalb »die Menschen nicht vom Wissen zum Handeln kommen«. Die Antwort darauf ist aber ganz einfach: Weil wir die Probleme, die mit Ökologie und Klima zu tun haben, arbeitsteilig zu behandeln gelernt haben. Für die Ökonomie – die gesellschaftliche Organisation des menschlichen Stoffwechsels – sind die Wirtschaftsleute zuständig. Für die Sorgen, die man sich über die schlechten Folgen eines falschen Wirtschaftens machen muss, die Ökos. Mit dem einen Ergebnis, dass die Wirtschaftsform, die nach wie vor radikal dominiert, nur in Spurenelementen ökologisch modernisiert ist, und dem anderen, dass sich die Öko- und Klimabewegung nur auf höchst luxurierende Weise für Ökonomie interessiert – vor allem in Form von Schuldzuweisungen an »die Wirtschaft« und »die Konzerne«.

Ihr sei aber gesagt, dass selbst jene »Gesellschaftsräte«, die etwa »die Letzte Generation « fordert, auch institutionelle Gebilde sind, die irgendwie finanziert werden müssen, genauso wie zum Beispiel Schulen und Universitäten, Gerichte und Schwimmbäder und womöglich auch ein bedingungsloses Grundeinkommen . Das kann wiederum nur eine Wirtschaft gewährleisten, die in ihrer Organisation von Produktion und Reproduktion so viel Mehrwert abwirft, dass nicht nur die Leute, die die Arbeit machen, davon leben können, sondern überdies ein Staat so viel Steuern darauf erheben kann, dass er eine Daseinsvorsorge im umfassenden Sinn leisten kann.