Das heißt: Wenn wir ernst machen wollen mit der sozialökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, müssen wir die angenehme und liebgewonnene Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Ökologie aufheben und das Ökonomische ins Zentrum unserer transformativen Aktivitäten stellen. Denn wenn wir unseren Stoffwechsel nicht anders zu organisieren lernen als in den letzten zweihundert Jahren, wird das nix mit dem Überleben der Menschen.
Wieso zweihundert Jahre? Weil um diese Zeit der Siegeszug der fossilen Energie begann, zunächst in den früh industrialisierten Ländern England, Frankreich, Deutschland, später und bis heute auf der ganzen Welt. Und mit dieser Energie jenes zuvor unvorstellbare Ausmaß an Zurichtung und Zerstörung der Natur angerichtet werden konnte, dessen Folgen heute die künftigen Überlebensmöglichkeiten fraglich machen. Das aber kann man auch so formulieren: Wirtschaftlich wird unser gesellschaftlicher Stoffwechsel seit zweihundert Jahren nicht nachhaltig organisiert, und je weniger nachhaltig diese Organisation wurde, desto schneller wuchs und wächst der Wohlstand, jedenfalls der materielle. Die Gründe? Dazu ein kleiner Exkurs:
Da wäre zunächst das ungeheure Wirtschaftswachstum zu nennen, das auf der Basis der Nutzung fossiler Brennstoffe als Energiequelle möglich wurde. Allein in Deutschland hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP ) verachtzigfacht. Seit 1950 wuchs es von 50 Milliarden Euro auf 1300 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf heute 3870 Milliarden Euro. [86] Die enormen Wohlstandsgewinne der Gesellschaften des Globalen Nordens, die die Handlungsspielräume der Menschen materiell immens erweiterten, wurden also erst mit einer durch fossile Energie angetriebenen Wachstumsökonomie ermöglicht. Fossile Energieträger erlaubten aber nicht nur zuvor unerreichte und anhaltende Wachstumsraten. Technologien, deren Entwicklung und Nutzung ohne den Rückgriff auf sie nicht denkbar ist, führten darüber hinaus auch zu einer umfassenden Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, vor allem in den früh industrialisierten Gesellschaften. Hier sind unter anderem die Anhebung hygienischer und medizinischer Standards, die Etablierung eines verlässlichen Langstrecken-Transportsystems, die enormen Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft sowie die Entstehung eines globalen Informations- und Wissenssystems zu nennen. [87]
Dies alles trug dazu bei, dass sich in diesen Gesellschaften die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in einem Zeitraum von weniger als 150 Jahren verdoppelte. Diese Steigerung der durchschnittlichen Lebenszeit macht deutlich, was mit einer Zunahme der Handlungsspielräume gemeint ist: Während für Menschen in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Leben mit etwa 40 Jahren in der Regel endet, haben sie heute in den reichen Gesellschaften erst »Halbzeit«, und ihnen verbleibt eine zweite Lebenshälfte, um – abhängig von ihrer konkreten Ressourcenausstattung – zu verreisen, Zeit mit ihren Familien und Freunden zu verbringen, Sport zu treiben oder zu schauen, Literatur und Kunst zu genießen, sich neu zu verlieben etc. Damit aber noch nicht genug: Folgt man der Argumentation Timothy Mitchells , entstanden die modernen Demokratien im 19. und 20. Jahrhundert als Carbon Democracies , ihre Entwicklung war fundamental mit der Extraktion fossiler Brennstoffe (insbesondere Kohle) sowie dem gesellschaftlichen Aufstieg der industriellen Arbeiterklasse verknüpft. [88] Mit anderen Worten, die gegenwärtige Demokratie, die trotz all ihrer Mängel ein bis dato unerreichtes Maß an politischer Teilhabe für breite Bevölkerungsschichten ermöglicht, ist eine Kohlenstoffdemokratie. »Das Haus der modernen Freiheiten steht auf dem Fundament des ständig wachsenden Verbrauchs fossiler Energie. Daher sind unsere Freiheiten bis jetzt immer energieintensiv gewesen”, heißt es daher auch bei Dipesh Chakrabarty . [89]
Der vermutlich eindrucksvollste Beleg für den Zusammenhang zwischen Naturverbrauch und den sogenannten Errungenschaften der Moderne lässt sich in einem Schaubild ablesen, das auf Daten basiert, die der World Wildlife Fund (WWF ) regelmäßig in seinen Living-Planet -Reporten veröffentlicht.
Eine ganze Reihe von Ländern – dies sind vor allem die Länder des sogenannten Globalen Nordens, also die Staaten Nordamerikas, Europas und Japan – verfügt über eine »sehr hohe menschliche Entwicklung« (gemessen nach dem Standard der Vereinten Nationen: Lebenserwartung, Schulbildung und Pro-Kopf-Einkommen). Alle diese Länder liegen aber weit oberhalb eines ökologischen Fußabdrucks, der als nachhaltig gelten kann. Auf der anderen Seite gibt es eine ganze Reihe von Ländern – überwiegend Staaten aus dem Globalen Süden –, deren Stoffwechsel mit der Natur zwar in diesem Sinne ökologisch nachhaltig ist, die aber ein sehr geringes Niveau »menschlicher Entwicklung« aufweisen. Mit anderen Worten, diese Gesellschaften sind aus purem Zwang »ökologisch nachhaltig«: weil der Großteil ihrer Bevölkerung bitterarm ist, über ein geringes formales Bildungsniveau verfügt und vergleichsweise früh stirbt. Nicht eine einzige Gesellschaft findet sich, die eine »sehr hohe menschliche Entwicklung« und einen nachhaltigen ökologischen Fußabdruck aufweist. Mit anderen Worten, eine Gesellschaft, die zugleich als modern und nachhaltig zu bezeichnen wäre, existiert bislang nirgends auf der Erde. [90]
Die Mittelalter-Historikerin Annette Kehnel hat in einem wunderbaren Buch dargelegt, wie eindimensional auf das Materielle begrenzt unser Wohlstand tatsächlich ist und dass unser Bild von den grenzenlosen Segnungen der kapitalistischen Moderne vor allem auf einer Selbsterzählung basiert, die unser Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in ein äußerst vorteilhaftes Licht rückt. Aber »die Frage ist, ob wir heute immer noch Erzählungen brauchen, die den Aufstieg der westlichen Welt erklären. Dieses Narrativ passte zur Zeit der Hochindustrialisierung und zum Zeitalter des Kolonialismus. Es begleitete die zunehmende Beherrschung der Natur durch Innovation und Technik seit der Erfindung der Dampfmaschine 1769«. [91] In der Perspektive dieser Aufstiegserzählung war die vorkapitalistische Welt eine einzige Trübsal, mindestens für die ärmeren Schichten, und die bildeten die übergroße Mehrheit – voller härtester Arbeit und Ausbeutung, Krankheiten, Kindersterblichkeit, Gewalt und allumfassender Freudlosigkeit. Und als die Moderne kam, begannen Milch und Honig zu fließen.
Was in dieser Erzählung freilich nicht vorkommt, ist zum Beispiel der Umstand, dass bis zur Industrialisierung weit weniger gearbeitet wurde als heute – schon aus Gründen nicht existenten künstlichen Lichts, aber auch wegen zahlloser religiöser Feiertage (neben den 52 arbeitsfreien Sonntagen zählte etwa die Diözese Oxford weitere 40 Feiertage, dasselbe galt für Frankreich und Spanien). Der Blue Monday hielt sich bis in das 20. Jahrhundert, und der Kampf um die Arbeitszeit als großes Thema der Arbeiterbewegung war vor allem ein Kampf gegen die ungeheure Mehrarbeit, die die unter Volldampf sich entwickelnde Industrie den Arbeitern aufbürdete, die zuvor anderes gewohnt waren.
Die Aufstiegserzählung ist sicherlich dort zutreffend, wo es um Dinge wie die Lebenserwartung, die Gesundheitsversorgung, die Reduktion der Kindersterblichkeit, die Einführung von Schulpflicht oder die Eroberung von gleichen Rechten ging – aber bei all diesen Fortschritten bleibt festzuhalten, dass sie durch intensive Kämpfe gegen etablierte Interessen mittels Reformen durchgesetzt wurden. Und dass es eine Weile gedauert hat, bis die Kapitalisten zu verstehen begannen, dass es ihrem Wirtschaftssystem langfristig dienlicher ist, wenn die Kinder nicht schon zu früh durch Arbeit degenerieren und man das Proletariat gerade so gut behandelt, dass es keine Revolution macht.
Und es bleibt vor dem Hintergrund der Problemlagen des 21. Jahrhunderts festzuhalten, dass eine Aufstiegserzählung, die vor allem die materielle Besserstellung der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten hervorhebt, alle jene Nachhaltigkeitspraktiken weglässt, die bis zum Siegeszug des fossilen Kapitalismus dafür sorgten, dass Ressourcen eben nicht verschwendet wurden. Mittelalterliche Zunftordnungen, auch das kann man bei Kehnel nachlesen, wiesen den Beruf, den man seit den 1950er Jahren abfällig als »Lumpensammler« bezeichnete, als ausdifferenzierten Ausbildungsberuf mit jeder Menge Spezialisierungen aus. Lebens- und Produktionsgemeinschaften wie die der Beginen waren über viele Jahrhunderte funktionierende kooperative Wirtschaftsformen, die einen auch nach heutigen Maßstäben auskömmlichen Lebensstandard erlaubten, ohne dass dafür eine privatwirtschaftliche Organisationsform die Voraussetzung bildete. Dasselbe gilt für die Bewirtschaftung von Gemeingütern, die ausgefeilte Ordnungen voraussetzte, aber dann über viele Generationen etwa in der Waldwirtschaft so funktionierte, dass die Ressourcen erhalten blieben, man aber von ihrer Bewirtschaftung trotzdem gut leben konnte. So gibt es, ein Beispiel unter Tausenden, im österreichischen Weinort Langenlois noch heute den »Vierzigerhof«, der auf die gemeinschaftliche Bewirtschaftung eines Waldes durch vierzig Familien seit dem 12. Jahrhundert zurückgeht.
In der Bauwirtschaft wäre früher niemand auf die Idee gekommen, dass Steine, die man mühsam in Steinbrüchen gebrochen und behauen hatte, nicht wiederverwendet würden, wenn ein Gebäude abgerissen und ein anderes gebaut wurde. Aus den Aufzeichnungen von Dombauten geht hervor, wie Steinmetze dafür bezahlt wurden, geeignete Materialien aus römischen Ruinen zu besorgen. Solches Baustoffrecycling führte auch zu lustigen Ergebnissen, etwa wenn in Aachen zum Ruhme eines christlichen Kaisers ein Relief auftaucht, das den Mythos einer Jupiter-Tochter darstellt, »die von Pluto in die Unterwelt entführt wurde und seither unfreiwillig als Göttin der Unterwelt regiert«. [92] Solche Praktiken der Bricolage , wie der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die Lösung neuer Probleme mit vorhandenen Mitteln genannt hat, wurden ganz selbstverständlich so lange praktiziert, bis die Nutzung fossiler Energien und die spätere Entwicklung fossiler Werkstoffe wie Plastik das permanente Neuschaffen von Dingen möglich machten und erstmals solche Dinge wie »Müll« und Praktiken wie »Entsorgen« erfanden.
Das heißt: Wenn wir heute von Nachhaltigkeit sprechen und vor allem wenn etwa Unternehmen versuchen, »nachhaltiger« zu produzieren, findet das unter Bedingungen systematisch entwickelter Nichtnachhaltigkeit statt. Auch hier darf das Drei-Tonnen-E-Auto von BMW als probates Beispiel dienen: Ein Mobilitätsmittel, das einen ungeheuren Infrastrukturaufwand erfordert, um überhaupt herumfahren zu können, und der komplexen Bereitstellung von fast drei Tonnen unterschiedlichster Materialien bedarf, um erst mal hergestellt zu werden, und dann jede Menge elektrischer Energie braucht, um diese drei Tonnen wiederum zu bewegen, kann niemals nachhaltig sein. Auch dann nicht, wenn seine Lederausstattung mit einem Extrakt aus Olivenblättern gegerbt ist und damit als besonders nachhaltig beworben wird.
Oder wenn die Bundeswehr zur Publikation eines Nachhaltigkeitsberichts verpflichtet wird, obwohl deren Wesensbestimmung in der Fähigkeit zum Führen fossiler Kriege zum Zweck der Zerstörung von Geschaffenem besteht. [93] Oder wenn Kreuzfahrtschiffe mit Gasantrieben ausgestattet werden, Motorboote für Binnengewässer mit 400 PS -starken Elektromotoren oder der neue Lamborghini Revuelto zusätzlich zu seinem Zwölfzylindermotor noch zwei Elektromotoren bekommt. Das hilft beim Energiesparen. Dieses Auto hat 1015 PS , braucht 2,5 Sekunden, um von 0 auf 100 zu beschleunigen, fährt 350 km/h Spitze und kann 15 Kilometer weit elektrisch fahren. Alles dieses sind Verbesserungen an Objekten, die an sich falsch und daher nicht nachhaltisierbar sind.
Das gilt in einer nichtnachhaltigen Welt nicht nur für das eine oder andere besonders absurde Beispiel, sondern ist ein systematisches Problem: Das wird insbesondere dann sichtbar, wenn Unternehmen sich neuen Berichtspflichten gegenübersehen, die Nachweise über Energieeinsparungen, Transparenz und korrekte Behandlung der Mitarbeiterinnen fordern. Die brauchen sie nach den ESG -Kriterien (Environment, Social, Governance) , etwa um Kredite oder Förderungen zu bekommen. Manche dieser Kriterien behindern die Fortsetzung nicht nachhaltiger Praktiken, und das ist auch ihr Sinn – sie stehen aber nicht selten in Widerspruch zu den geschäftlichen Erfolgsbedingungen, die die Unternehmen im Wettbewerb aufrechterhalten müssen.
Die Klage darüber hört man sofort, wenn man mit Akteuren aus der Unternehmenswelt spricht, und nicht selten ist sie nur die routinemäßige Klage darüber, dass man schon wieder etwas umsetzen muss, was angeblich die Wettbewerbsfähigkeit, gerade in internationaler Perspektive usw. usf., beeinträchtigt. Sie kann aber auch das strukturelle Problem ansprechen, dass es bislang weitaus einfacher ist, nichtnachhaltig zu wirtschaften, weil Subventionen Fehlanreize und -steuerungen bedingen, weil die Abnehmerseite aus Sparsamkeit nichtnachhaltige Produkte bevorzugt, weil vorhandene Infrastrukturen und Gebäude modernen energetischen Standards im Weg stehen usw.
Vor allem aber auch, weil das Paradigma des Wachstums echter Nachhaltigkeit insofern grundsätzlich entgegensteht, als Wachstum immer gleichbedeutend mit steigendem Verbrauch ist. Das Mantra der Entkoppelung von Ressourcen- und Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum ist eben nicht mehr als routiniert gepredigter Glaube. Nirgendwo ist es bislang zu absoluter Entkoppelung gekommen. Und wo relativ entkoppelt wird, wie etwa beim Musikstreaming, das die Hardware in Form von CD s oder Vinyl einspart, frisst der Energieaufwand die Einsparungen hinterrücks auf oder überkompensiert sie sogar durch gesteigerten Konsum (Rebound-Effekt ).
Da bleibt die große Frage, ob es einen Kapitalismus gibt, der Privateigentum und die Generierung von Mehrwert durch die Unternehmerinnen und Unternehmer vorsieht, aber ohne Wachstum und vor allem ohne Zerstörung der Überlebensgrundlagen funktioniert. Oder vorsichtiger gefragt: Ob es die Rückkehr zu einer Marktwirtschaft geben kann, die nach Prinzipien der Schonung von Naturressourcen und Arbeitskraft organisiert ist und trotzdem ein gewisses Maß an Wohlstand und vor allem auch die Bereitstellung von zivilisatorischen Gütern wie demokratische Teilhabe, Recht und Daseinsvorsorge leistet.