»Es wird in jeder Redaktion permanent alles hinterfragt: Das Geschäftsmodell, die letzte Ausgabe, die generelle Strategie, die gegenwärtige Taktik, die Berichterstattung über Deutschland und die Welt und alles andere auch.« So schreibt Nils Minkmar , Journalist bei der Süddeutschen Zeitung , in einer Kritik am Buch »Die vierte Gewalt«, in dem Richard David Precht und ich unter anderem eine Vereinseitigung der Berichterstattung in verschiedenen Krisensituationen beschrieben haben. Nein, nein, das sei nicht so, die Redaktionen seien divers, die Debatten in ihnen kontrovers, und wie wir von Minkmar wissen, wird in dieser Branche immer alles hinterfragt. Einseitigkeit? Ganz ausgeschlossen.
Frank Schöbel hingegen, der heute achtzigjährige bekannteste Schlagersänger der untergegangenen DDR , sieht das mit den Medien so: »Ich bin ja nah dran an den Leuten. Es brodelt überall. Man kann froh sein, dass es noch so ruhig ist. Es ist ja heute so wie früher im Osten: Wenn Du was Falsches sagst, dann bist Du weg. Nicht im Knast, aber vom Fenster, bühnentechnisch, keine Auftritte mehr.« [108] Dass man seine Meinung »nicht mehr sagen« dürfe, ist inzwischen ein fester Topos in der öffentlichen Meinung: In einer (nicht repräsentativen) Erhebung des MDR mit immerhin 27000 Befragten sind 78 Prozent der Auffassung, dass man »bei manchen Themen vorsichtig« sein müsse, wie man sich äußert, 48 Prozent haben »Angst, die eigene Meinung zu äußern«, 59 Prozent halten den »Zustand der Meinungsfreiheit « für schlecht. [109]
Im jährlich vorgelegten Freiheitsindex des Allensbach-Instituts geben nur noch 48 Prozent der repräsentativ Befragten zu Protokoll, dass man seine Meinung frei äußern könne. Das Medienvertrauen, wobei Fernsehen, Radio und Zeitungen gemeint sind, rangiert Ende 2022 bei 42 Prozent. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2023 sieht es bei lediglich 35,1 Prozent. [110] Die Werte dazu schwanken immer mal, während der Pandemie zum Beispiel hat es nicht ab-, sondern sogar zugenommen. Bemerkenswert ist aber, dass es bei der intensivsten Nutzergruppe der Direktmedien, nämlich den Jugendlichen, einer Studie der Universität Bielefeld zufolge äußerst gering ist: 75,8 Prozent misstrauen Zeitungen, 71,6 Prozent Journalistinnen und Journalisten. 37,9 Prozent glauben, dass die Medien absichtlich wichtige Informationen zurückhalten, 32,8 Prozent, dass sie nur ihre eigene Meinung verbreiten. [111]
Machen die Medien , mit Nils Minkmar , also alles richtig und sind nur die Leute doof? Wie immer man die entsprechenden Umfragewerte interpretieren mag – sie deuten insgesamt eine erhebliche Unsicherheit in Bezug auf das an, was an Meinungsfreiheit in Deutschland gegeben ist, und zumindest eine deutliche Verbreitung der Auffassung, dass man »nicht alles sagen« könne. Zusammen mit den Werten zum Medienvertrauen könnte man daraus mindestens den Schluss ziehen, dass die etablierten Medien solchen Eindrücken nicht erfolgreich begegnen. Was unter anderem ihre Aufgabe wäre, da ihnen ja in einer Demokratie für die Meinungsbildung eine zentrale Rolle zukommt. Die können sie aber nur erfüllen, wenn die Leute ihnen vertrauen und wenn die Auffassung vorherrscht, dass es keine wie auch immer gearteten Beschränkungen von Meinungsfreiheit gibt. Da nützt es wenig, wenn man sich hinter seiner eigenen Großartigkeit verschanzt und sich gegenseitig erzählt, wie toll man ist.
In dem Buch »Die vierte Gewalt« [112] konnten wir erstaunlich einheitliche Berichterstattungen und Kommentierungen über die Leitmedien hinweg beschreiben. Dies stieß bei der betroffenen Berufsgruppe auf starke Kritik – erstens beruhten, so hieß es, unsere Befunde nur auf »Bauchgefühlen«, und zweitens ginge es in den Redaktionen, wie gesagt, unglaublich differenziert, divers und kontrovers zu, da könnten einheitliche Erzählungen gar nicht aufkommen.
Nun ja. Im Buch stützten wir unsere Aussagen erstens auf medienwissenschaftliche Studien, die eben diese Tendenz zur Vereinheitlichung an den Krisenereignissen der Flüchtlingswelle 2015/16 und an der Pandemieberichterstattung belegen konnten. Wir haben betont, dass diese erstaunliche Konturierung von einheitlichen Les- und Deutungsarten vor allem beim Auftreten von Krisenereignissen zu verzeichnen ist – also dann, wenn niemand ein Skript dafür hat, womit man es zu tun hat und wie die Sache weitergeht. Für das aktuelle Geschehen des Kriegs in der Ukraine und die entsprechende Berichterstattung und Kommentierung hatten wir zum Zeitpunkt des Erscheinens der »Vierten Gewalt« noch keine empirische Evidenz, aber inzwischen gibt es sie.
Dazu kann ich aber gleich die Geschichte erzählen, dass der Abdruck der Ergebnisse einer quantitiven Auswertung von Zeit , Spiegel , taz , Süddeutscher Zeitung und Redaktionsnetzwerk Deutschland abgelehnt wurde. Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung habe ich es gar nicht versucht. Deren Mutation von einer für differenzierte Meinungsbildung Raum gebenden bürgerlichen Zeitung zu einem Organ für Gesinnungsjournalismus findet besonders im Feuilleton seit dem Tod von Frank Schirrmacher durch seinen Nachfolger Jürgen Kaube statt. So war es kaum verwunderlich, dass nach der Veröffentlichung unserer Analyse der Medienberichterstattung in der Neuen Rundschau , die zugleich auch Open Source gestellt wurde, [113] die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung selbige als »Karikatur einer Studie« bezeichnete. Das Fazit lautet: »Eine Lücke aber fällt in dieser Studie besonders auf: In der Liste der Experten, die besonders häufig zum Ukrainekrieg befragt wurden, fehlen sogar die Namen von Precht und Welzer selbst. So verhilft die Studie immerhin zu einer Erkenntnis: Wenn es darauf ankommt, können die beiden sogar auf alle Eitelkeit verzichten.« [114]
Der Grund, dass wir in unserer Auswertung nicht als Experten für den Ukrainekrieg vorkommen, ist einfach: Wir sind keine Experten für den Ukrainekrieg. Im Unterschied etwa zu Carlo Masala , Claudia Major oder Sönke Neitzel auf der Seite der Wissenschaft oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Roderich Kiesewetter aufseiten der Politik. Deren Nennungen kann man zählen, wenn man wissen will, wer leitmedial quantitativ die Debatte anführt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte zum Erscheinen des Buches bereits eine Polemik veröffentlicht, die die These mitteilte, wir – also Precht und ich – würden beklagen, wir würden in den Medien totgeschwiegen , unsere Präsenz oder Nichtpräsenz scheint den Autor Harald Staun also sehr zu beschäftigen. Immerhin vermied er auf diese Weise in beiden Versuchen eine Beschäftigung mit den Inhalten.
Ganz ähnlich verhält es sich mit Joachim Huber , Redakteur des Tagesspiegel , der zu denjenigen Journalistinnen und Journalisten zählt, die im vergangenen Jahr schon vor Erscheinen der »Vierten Gewalt« schrieben, dass das Buch nichts taugen würde. Auch er war an den Ergebnissen der empirischen Analyse nicht interessiert, sondern teilte mit, es handele sich um eine Bestätigung einer »wilden These«, die schon im Buch aufgestellt wurde – nämlich dass die Leitmedien in Bezug auf den Ukrainekrieg einseitig berichten würden.
Es gibt, vielleicht mit Ausnahme arabischer Familienclans in Berlin, keine Branche in Deutschland, die sich als so kritikavers erweist wie der Medienbetrieb. Jedes Universitätsinstitut, jede Unternehmensabteilung, jede Behörde unterzieht sich gelegentlich Evaluationen, also Prüfungen durch Dritte, um herauszufinden, wo die Stärken und Schwächen des jeweiligen Betriebs liegen, wo Verbesserungsbedarf gesehen wird, wo Fehlentwicklungen zu verzeichnen sind. Ausgerechnet in jener Branche, die selbst mit einem Informationsauftrag und einem Aufklärungsanspruch versehen ist und das auch gern vor sich her trägt, wird eine Abwehrkultur gepflegt, die eigentlich nur dadurch zu erklären ist, dass alle wissen, was falsch läuft, es aber doch lieber für sich behalten möchten.
Dabei hatten wir in der »Vierten Gewalt« nicht mehr gemacht, als die letzten beiden Jahrzehnte Entwicklung in der deutschen Medienlandschaft nachzuzeichnen, in denen es zu deutlichen Veränderungen im traditionellen Geschäftsmodell der Medienhäuser kam, weil die Werbeeinnahmen radikal zurückgingen und weil durch die Direktmedien eine informationelle Konkurrenz entstanden war, die die Auflagen in Sinkflug brachte. Im Ergebnis lässt sich eine Verlagerung der betrieblichen Strategien von den Redaktionen in die kaufmännischen Abteilungen der Medienhäuser beschreiben – mit erheblichen Folgen für die Größen der Redaktionen, die Mittel für Recherchen, die Aufwände für Auslandskorrespondenten usw. usf. Alles Dinge, die so sind, wie sie sind. Warum man sich mit geradezu panischer Aggressivität dagegen wehrt, die entsprechenden Fakten und ihre Folgen zu diskutieren, bleibt rätselhaft. Aber nun zur unfassbar differenzierten, alle Facetten berücksichtigenden, profund informierten und aus den Zentren des Kriegsgeschehens kommenden Kommentierung und Berichterstattung der deutschen Leitmedien zum Ukrainekrieg .