Panzerlieferungen

Deutet sich auf dieser Ebene eine, milde formuliert, erstaunlich einheitlich begrenzte Perspektive auf das globale Geschehen an, tritt die Einheitlichkeit der Berichterstattung und Kommentierung in der Frage der Waffenlieferungen sogar noch deutlicher zutage.

Schon die Mainzer Studie verzeichnet ein in dieser Hinsicht stark vereinheitlichtes Narrativ: »Dies betrifft insbesondere die Bewertung der unterschiedlichen Maßnahmen zur Beendigung des Krieges. Dass die militärische Unterstützung der Ukraine im Allgemeinen und die Lieferung schwerer Waffen im Besonderen in den meisten der untersuchten Medien als deutlich überwiegend sinnvoll und auch als sinnvoller als diplomatische Maßnahmen dargestellt wurden, ist angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine und der offensichtlich mangelnden Verhandlungsbereitschaft auf russischer Seite verständlich, überrascht in dieser Deutlichkeit aber dennoch«, resümieren Maurer et al. [121]

Ich würde sagen: Angesichts von Umfragen über die entsprechenden Auffassungen zum selben Thema in der Bevölkerung, die eben durchgängig ein eher polarisiertes Bild zeigen, ist das gerade nicht verständlich, sondern zeigt die Medienschaffenden in einer spezifischen Diskursgemeinschaft, die eine weitgehend einheitliche Auffassung teilt und kommuniziert. Wenn man den Fortgang dieses Diskurses bis Ende Januar 2023 betrachtet, sieht man, dass die in der Mainzer Studie festgestellte Einheitlichkeit der Deutung keineswegs schwindet, sondern sich im Gegenteil noch vertieft. Besonders die mediale Debatte im Januar 2023 über die Frage der Lieferung von Kampfpanzern zeigt eine Kulmination der Forderung, dass der Kanzler die Lieferung beschließen müsse. Dabei stieg auch die Zahl der negativen Bewertungen seines »Zögerns« sehr stark an. Der »Zögerer-Vorwurf« gegen Scholz wurde im Januar in den Leitmedien um den Faktor 3.5 häufiger erhoben als in den elf Monaten davor. Zeitgleich nimmt die Thematisierung von Risiken wie einer Entgrenzung des Krieges oder einer Eskalation zum Atomkrieg im Januar 2023 signifikant ab.

In den Monaten April/Mai 2022 lag der Anteil der Beiträge in den Leitmedien , in denen nicht nur über die Lieferung von schweren Waffen diskutiert wurde, sondern auch über die möglichen Eskalationsrisiken, nämlich die Risiken eines Dritten Weltkriegs oder eines Atomkriegs, bei 12 Prozent (303 von 2500 Dokumenten). Im Oktober wurden die Eskalationsrisiken sogar in 17 Prozent der Beiträge zur Frage der Waffenlieferungen mit thematisiert (im Durchschnitt der Monate Februar bis Dezember 2022 betrug dieser Anteil 11 Prozent). Im Januar schwoll die Diskussion über die Lieferung schwerer Waffen deutlich an (November/Dezember 1200 Dokumente; Monat Januar 2800 Dokumente), aber der Anteil jener Texte, in denen auch die Eskalationsrisiken »Dritter Weltkrieg/Atomwaffeneinsatz« mit thematisiert wurden, sank im selben Zeitraum zugleich um die Hälfte.

Dass diese Tendenz nicht dem Meinungsbild in der Bevölkerung entsprach, zeigen die zeitgleichen Umfragen – der ARD -Deutschlandtrend vom 19. Januar verzeichnete 46 Prozent Befürworter und 43 Prozent Gegner der Kampfpanzerlieferungen, das RTL /ntv-Trendbarometer vom 17. Januar kam auf 44 Prozent der Befragten für Panzerlieferungen und 45 Prozent dagegen, das ZDF -Politbarometer vom 27. Januar auf 54 versus 38 Prozent. Hier befürchteten aber 48 Prozent eine erhöhte Gefahr der Entgrenzung des Krieges.

Wenn man die Verteilungen in den Umfragen mit jenen in den Leitmedien vergleicht, kann man gesichert sagen, dass der Diskurs, der in den Berichterstattungen und Kommentaren der Leitmedien zum Ukrainekrieg stattfindet, die Meinungs- und Diskurslandschaft in der Bevölkerung nicht spiegelt. Auch wenn man hier noch einmal daran erinnern kann, dass es durchaus ein informationelles und argumentatives Gefälle zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung geben kann und soll, scheint hier doch aufseiten des politischen Journalismus der Anspruch durch, die politische Debatte über diesen Fall von Krieg und Frieden leiten zu wollen. Damit wäre dem Journalismus eine Rolle zugewiesen, die ihm demokratietheoretisch nicht zukommt: von der kritischen Berichterstattung und Kommentierung hin zum politischen Aktivismus, von der Kontrolle zur Beeinflussung.

Zusammen mit der beschriebenen Tendenz zur Verfertigung eines einheitlichen Narrativs in Bezug auf den Ukrainekrieg ist diese Übergriffigkeit besonders fatal. Die Sozialpsychologie des Gruppendenkens [122] hat ja zur Genüge gezeigt, wie schnell sich bestimmte Deutungen in Gruppen verfestigen, deren Mitglieder sich wechselseitig bestärken, und wie intensiv dann abweichende Meinungen zurückgewiesen und ausgegrenzt werden. Dieses Phänomen hat schon einmal, nämlich im Zusammenhang der Kubakrise, beinahe in den Dritten Weltkrieg geführt. John F. Kennedy hatte seither darauf geachtet, dass in seinen Expertengremien immer auch Leute saßen, die fachfremd waren und die Perspektive der Gruppe nicht automatisch teilten oder übernahmen. Desgleichen verfahren militärische und andere professionelle Krisenstäbe, und zwar aus dem guten Grund, dass es höchst gefährlich ist, vorhandene Entwicklungsmöglichkeiten eines Geschehens deswegen zu übersehen, weil alle Beteiligten dieselbe Perspektive haben. Oder anders gesagt: nur in eine Richtung schauen.

Umso problematischer erscheint gerade im Zusammenhang einer Krise, in der es buchstäblich um Leben und Tod und um erhebliche Eskalationsrisiken geht, die freiwillige und bewusste Selbstbeschränkung der Leitmedien auf die Erzählung einer Geschichte, die sie selbst zwar mit Wohlgefallen hören, die aber das Geschehen nicht entfernt in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit adressiert. Schlimmer noch: Abweichende Lesarten und Versuche, den beschränkten Diskurs zu erweitern, werden oft unisono mit einer geradezu schäumenden Diskreditierung belegt . Man kann ja zum Beispiel vom »Manifest für Frieden« von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer halten, was man will – aber die Empörung darüber, dass zwei Personen öffentlich zur Geltung bringen, dass sie es für möglich halten, dass verstärkte Waffenlieferungen nicht die einzige außenpolitische Option sind, erscheint gemessen am Anlass geradezu grotesk und sagt mehr über die mediale Landschaft aus als über den Sinn oder Unsinn des Manifestes.