Suchen Sie mal mit mir das Leitbild der Politik der Gegenwart. »Mein Leitbild, das Leitbild der neuen Bundesregierung«, so Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner ersten Regierungserklärung, »ist eine Gesellschaft des Respekts. Respekt, Anerkennung, Achtung – das bedeutet, dass wir uns bei aller Verschiedenheit gegenseitig als Gleiche unter Gleichen wahrnehmen. Respekt heißt: Niemand schaut auf andere herab, weil er oder sie sich für stärker hält, für gebildeter, für reicher. Damit allein wären wir schon ein großes Stück weiter. Denn viele der Verletzungen und Kränkungen in unserer Gesellschaft haben ihre Ursache darin, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht genügend wahrgenommen fühlen.«
»Jede Zeit hat ihre Aufgabe. Die Aufgabe unserer Zeit ist, eine krisenfeste Gesellschaft demokratisch und nachhaltig zu gestalten . Dazu ist Wohlstand im Sinne von Klimaneutralität , Vorsorge und Gerechtigkeit sowie globaler Verantwortung neu zu definieren und die Politik ist darauf auszurichten. Um Krisen zu meistern, braucht es Zusammenhalt – in einer Gesellschaft, die allen Bürger*innen die gleichen Rechte und Möglichkeiten gewährt, die Wohlstand gerecht verteilt, die die Unterschiedlichkeit von Menschen und Regionen als Stärke und Wert begreift, die die Rechte und Teilhabe von Minderheiten schützt und fördert sowie Spannungen durch Respekt ausgleicht. Wir streben nach einem solidarischen, gemeinsamen Wir in einer vielfältigen Gesellschaft.« So heißt es in Artikel 6 des Grundsatzprogramms der Grünen .
»Wir treten für eine offene Gesellschaft ein. Wir stehen für eine werteorientierte Politik, in der Familie und Ehe die Grundpfeiler unserer freien und solidarischen Gesellschaft bilden. Wir stehen für ein Miteinander der Generationen. Wir halten an religiös fundierten Werten und der Verantwortung des Einzelnen vor seinem Gewissen und Gott fest. Wir wollen, dass alle an Bildung und Ausbildung teilhaben. Keine Begabung darf ungenutzt bleiben. Vorfahrt für Arbeit – heißt die Devise der CDU . Wir wollen daher insbesondere den Mittelstand, das Handwerk und Existenzgründer fördern. Wir wollen, dass alle Menschen sicher in unserem Land leben können.« So lauten »Grundsätze« der CDU .
Es lohnt kaum, solche und noch mehr Passagen aus den Regierungserklärungen und Grundsatzprogrammen im Einzelnen zu analysieren. Schon diese drei kurzen Auszüge zeigen einen gewaltigen normativen Überschuss mit geringer praktischer Bedeutung. Die Betonung des »Respekts« bei SPD und Grünen ist eigentlich erstaunlich, haben doch beide Parteien historisch einen materialistischen Kern: Bei den Sozialdemokraten ging es immer um die Herstellung gerechter Lebensverhältnisse, bei den Grünen um ein weniger zerstörerisches Naturverhältnis. »Respekt« ist aber nur eine symbolische Kategorie, eine merkwürdig antiquierte zumal – die Tradition des deutschen Obrigkeitsstaates klingt da nach. Bei der CDU sind die programmatischen Äußerungen, mit Ausnahme der Erwähnung der »offenen Gesellschaft«, zeitlos. Sie hätten wortgleich vor fünfzig Jahren so formuliert werden können. Die Frage, wo und wie die Werte sich niederschlagen, sich unter Beweis stellen und auch unter heutigen Bedingungen von Stress und Krise belastbar sind, stellt sich allen drei Parteien nicht.
Dabei unterscheidet sich die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts gravierend von der des 20., insbesondere von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg . Ungefähr in der folgenden Weise: Die lange Friedensperiode, die Europa erleben durfte und die eine historische Ausnahme, keine Normalität darstellt, ist vorbei. Welche Friedensordnung wann unter Beteiligung von wem eingerichtet werden wird, ist völlig offen. Es ist möglich, dass wir erst am Beginn der heißen Phase kommender Gewaltkonflikte stehen. Die geopolitische Figuration ist heute, in den 2020er Jahren, eine völlig andere als nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der kurzlebigen Illusion der globalen Geschichtsmächtigkeit des Westens. Längst haben sich andere Machtblöcke formiert, und ihre Zukunftsperspektiven sehen besser aus als die des Westens, ihre politischen Optionen sind andere.
Das universalistische Projekt der globalen Demokratisierung, Liberalisierung und der Menschenrechte wird sich absehbar nicht realisieren. Und über allem, aber in engem Zusammenhang mit allem, entfalten sich die klimatologischen und ökologischen Problemlagen. Niemand weiß, wie man sie bewältigen können wird.
Wenn von Zeitenwende sinnvoll die Rede sein würde, dann wäre es diese knappe Aufzählung, die anzeigt, dass die tradierten politischen Konzepte und Leitbilder nicht mehr passen zur neuen Lage. Darin liegt übrigens auch ein Grund, dass sie mehr und mehr vom Materiellen ins Symbolische rutschen. Politische Sprache bekommt etwas Unwirkliches, wenn sie die Sachverhalte nicht mehr benennt, sondern metaphorisiert, verniedlicht und irrealisiert.
Die Bürgerinnen und Bürger leben aber in einer wirklichen Welt. Für sie ist der Neubau von Autobahnen der Neubau von Autobahnen und nicht eine »Engpassbeseitigung«. Sie lehnen ihn, den Neubau, übrigens mehrheitlich ab. [128] Für sie sind Schulden auch Schulden und kein »Sondervermögen«, und sie betrachten das Schuldenmachen, wie dieselbe Umfrage zeigt, mit großer Skepsis. Sie denken auch, dass es, wenn es »im Kampf gegen die Klimakrise« auf jedes Gramm CO ₂ ankommt, auf jedes Gramm CO ₂ ankommt, und verstehen daher mehrheitlich nicht, wieso es kein Tempolimit gibt und wieso Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Sie finden es auch befremdlich, dass es einen Mangel an Antibiotika für Kinder und sogar an Hustensaft gibt, und sie verstehen deshalb auch nicht die halluzinatorischen Reden von Deutschlands Führungsrolle irgendwo. Was sie freilich verstehen, ist die kaum zu kaschierende Tatsache, dass keine Konzepte vorliegen, wie mit den Problemen des 21. Jahrhunderts so umzugehen wäre, dass man weiterhin gut und in Freiheit und in Frieden leben kann.
An dieser Stelle ist daran zu erinnern, in welcher Situation und mit welchem Impetus das Leitbild entwickelt wurde, das Westdeutschland und nach der Wiedervereinigung auch das ganze Deutschland prägte. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ist ein historischer Sonderfall, da in diesem Fall keine verfassungsgebende Versammlung eine Verfassung debattiert und verabschiedet hatte, sondern ein Parlamentarischer Rat, der nicht vom Volk gewählt war. Dessen Arbeit und die schließliche Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland am 8. Mai 1949 erfuhr in der Bundesrepublik wenig Aufmerksamkeit, aber auch wenig Kritik, [129] und wurde im Lauf der Nachkriegsgeschichte in seiner Bedeutung immer besser erkennbar.
Der Charakter des Grundgesetzes ist – im Unterschied zur Weimarer Verfassung – pessimistisch, was die Zustimmung der Bevölkerung zur Demokratie angeht. Wie Ulrich Herbert schreibt, betonte der einleitende Grundrechtskatalog »die herausragende Bedeutung des Rechtsstaates angesichts der Erfahrung der Rechtswillkür in den Jahren der Diktatur und den Schutz von Individuum und Minderheiten gegen die schrankenlose Macht der Mehrheit. Zugleich stattete er den neuen Staat mit starken Instrumenten gegen die Feinde der Demokratie aus – eine Abwendung vom Weimarer Werterelativismus, der es den Nazis wie den Kommunisten […] gestattet hatte, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zu untergraben. Den Parteien wurde ein ausdrückliches Mitwirkungsrecht bei der politischen Willensbildung des Volkes zugesprochen […] und sie wurden auf die demokratische Verfassung festgelegt.« [130]
Man könnte sagen, dass die Weimarer Verfassung sehr großes Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger setzte, weshalb etwa Volksbegehren und Volksentscheide, auch die direkte Wahl des Reichspräsidenten und relativ einfache Möglichkeiten zur Auflösung des Reichstags vorgesehen waren. »Das Bonner Grundgesetz ist eher von Mißtrauen geprägt, seine Verfasser waren gebrannte Kinder: Sie hatten erlebt, wie verführbar und schwankend in seinen Stimmungen der Wähler sein kann, wie leicht eine Demokratie gerade durch zu schrankenlose Demokratie sich selbst zugrunde richten kann«, formulierte Sebastian Haffner 1974 in einem Radiobeitrag. [131]
Diese pessimistische Perspektive in Bezug auf mögliche gesellschaftliche Entwicklungen hat dazu geführt, dass das Grundgesetz jetzt schon fast ein Dreivierteljahrhundert einen sicheren Rahmen für eine funktionierende Demokratie bildet, gerade deswegen, weil nicht jede Schwankung in der politischen Stimmung oder im gesellschaftlichen Klima sich in parlamentarische oder administrative Ermächtigungen übersetzen lässt. Der Grund, dass alle Populisten dieser Welt Fans der direkten Demokratie sind, ist ja genau der: dass sich mit Instrumenten wie Volksentscheiden Stimmungen in Legitimationen übersetzen lassen, um dann etwa die Verfassungsgerichtsbarkeit auszuhebeln. Was Wählerinnen und Wähler vielleicht wollen, muss in der deutschen Verfassungsrealität erst mal »durch den Grobfilter der gewählten Parlamente: Bundestag, Landtage und Gemeindevertretungen«. [132]
Föderalismus und Bundesverfassungsgericht fügen dazu systematisch Barrieren ein, die so etwas wie »Durchregieren« oder gar die Abschaffung der Demokratie selbst äußerst schwierig machen. Man kann von heute aus sagen, dass sich diese Installierung eines institutionellen »Zugriffsgedrängels« (Odo Marquard ) in der Geschichte der Bundesrepublik erstaunlich gut bewährt hat – so etwas wie eine Staatskrise oder eine Verfassungskrise hat es in einem Dreivierteljahrhundert nicht gegeben, und es sieht auch trotz sich kumulierender Krisenereignisse nicht danach aus. Schon 1974 hat Sebastian Haffner daher sagen können, dass die Verfassungswirklichkeit den Verfassungsanspruch in Deutschland übertrifft. Das resultiert eben daraus, dass das Grundgesetz als Leitbild die Menschenrechte, die freiheitliche Ordnung und die Demokratie voraussetzt und fundiert – was 1949, kurz nach dem Untergang des totalitären Systems des Nationalsozialismus und im Angesicht des totalitären Sowjetkommunismus, naheliegend war, aber nicht deshalb schon funktionieren musste.
Eine besondere Rolle kommt im Grundgesetz im Unterschied zu anderen Verfassungen den Parteien zu. Nach Artikel 21 wirken sie »bei der politischen Willensbildung des Volkes mit«, sind aber, wie Haffner schreibt, in der Verfassungswirklichkeit »die wesentlichen Träger und Gestalter dieser politischen Willensbildung […]. In ihrer Verfassungswirklichkeit ist die Bundesrepublik ein Parteienstaat. […] Durch die Parteien – und wiederum nur durch sie – fließt Staatspolitik von oben nach unten, in Form von Gesetzen, Verordnungen, administrativen Maßnahmen, erklärenden und anfeuernden Reden oder werbenden Fernsehauftritten. Die Parteien sind das große, unentbehrliche Bindeglied zwischen Volk und Staat; von ihrem Zustand hängt ab, ob die Verbindung von Demokratie und Stabilität, die das Grundgesetz erstrebt, gelingt oder nicht.« [133]
Wie gesagt, diese Beschreibung stammt aus dem Jahr 1974, seither hat sich die Parteienlandschaft der Bundesrepublik deutlich verändert – Die Linke und die AfD sind dazugekommen (zwischenzeitlich auch in einigen Länderparlamente Kleinparteien wie Die Piraten oder die ÖDP ), die Grünen sind neben die beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD getreten, die FDP gibt es aus Gründen, die niemand erklären kann, immer noch. Das, was man früher »die Mitte« genannt hat, ist heute im Bundestag etwas, wo sich die übergroße parlamentarische Mehrheit befindet, zusammengesetzt aus SPD , CDU /CSU , Grünen und FDP , ganz links und ganz rechts flankiert durch sehr kleine Parteien. Diese Konstellation führte übrigens dazu, dass es in Bezug auf den Umgang mit dem Ukrainekrieg eben tatsächlich Opposition nur von den extremen Rändern her gab. Und sie führt auch dazu, dass Unterschiede in der politischen Willensbildung sich heute an medial aufmerksamkeitstauglichen Kleinigkeiten wie dem Verbot bestimmter Heizungstypen festmachen, aber überhaupt nicht mehr an prinzipiellen ideologischen Differenzen.
Dieser »Sog hin zur hochflexiblen Mitte zeitigt zwei Folgen. Je smarter sich Politiker an den medial mitbestimmten Zeitgeist anpassen, umso intoleranter werden sie gegenüber ihren nichtmittigen Flügeln. Die Grünen verabschiedeten erst die ›Fundis‹, dann die Postwachstumsfraktion und schließlich die Pazifisten aus ihrer politischen Führung. Die Schröder-SPD nahm in Kauf, dass sich der ›Verein Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit‹ (WASG ) von ihr abspaltete und mit der PDS zur Linkspartei fusionierte. Die Merkel-CDU verstörte den konservativen Flügel, der einstmals ihr Markenkern war, und ließ rechts von sich die AfD heranwachsen.
All das führte zu einer zweiten Folge. Im gleichen Maße, wie es gleich vier Parteien in die Mitte drängte, wurden sämtliche stärker von dieser Mitte abweichende Positionen von nun an einem politisch und medial geächteten Abseits zugeordnet. Um den größer gewordenen Kuchen – der Vier-Parteien-Koalition der Mitte – entstand ein als verkrustet gebrandmarkter und als ›radikal‹ stigmatisierter Rand. Dass Ausgrenzung zugleich das beste Mittel dafür ist, um Radikalisierung zu provozieren, wurde dabei billigend in Kauf genommen. […] Und wo der Windkanal des Zeitgeistes das Design bestimmt, kann die Integration von Vielfalt nur stören. Parteien, stromlinienförmig wie die einander zum Verwechseln ähnlich gewordenen Automarken, zwingen geradezu zur Ausgrenzung. Sie unterscheidet die angepassten ›Guten‹ von den unangepassten ›Bösen‹.
Die bundesdeutsche Demokratie des frühen 21. Jahrhunderts, lange ohne ernsthafte äußere Feinde, verstärkte auf diese Weise ihr Feindbewusstsein im Innern.« [134]
Diese vor einem halben Jahrhundert noch nicht antizipierbare Entwicklung, die viel mit einer inzwischen stark veränderten Medienlandschaft zu tun hat, führte sukzessive auch dazu, dass innerhalb der Parteien der Pluralismus abgenommen und die Wichtigkeit der Medienpräsenz und auch -präsentabilität zugenommen hat. Das heißt auch, dass die Rekrutierung des politischen Nachwuchses in den Parteien anderen Regeln folgt als früher: Profilierungsprofis, Schwächenbeobachter und Virtuosen des Wegbeißens von Konkurrenz sind erfolgreich; wer politische Inhalte oder gar Ideale verfolgt, gilt als naiv, antiquiert und somit als wenig zukunftsfähig in den Parteien. Dass unter solchen Bedingungen die Viskosität der Überzeugungen und die Austauschbarkeit der Argumente wichtig werden, sieht man am Personal, das dabei herauskommt.
Angela Merkel bezog ihre im Verlauf ihrer Kanzlerschaft gewachsene Glaubwürdigkeit aus ihrer persönlichen Unbestechlichkeit – niemand hätte ihr je Unkorrektheiten oder private Interessen unterstellt. Unbestechlichkeit ist aber schlecht für diejenigen, die über Lobbytätigkeiten , Parteispenden, mediale Platzierungen etc. Einfluss auf die Politik ausüben möchten; Akteure, die ideologisch und moralisch nicht so festgelegt sind, lassen sich von Lobbys einfacher instrumentalisieren. Die Dominanz der überzeugungsflexiblen und geschmeidigen Typen heute in den Parlamenten schafft probate Gelegenheitsstrukturen für das Einbringen von Partikularinteressen. Die Entstehung von Kontrollagenturen (Abgeordnetenwatch, LobbyControl, Transparency International u.a.) zeigt ja nur an, dass die internen und vor allem informellen Kontrollfunktionen des Parlamentarismus unter diesen Bedingungen nicht mehr ausreichen. Wenn Institutionen schwach werden, hat der Soziologe Arnold Gehlen gesagt, bedürfen sie der Stützung von außen. Daher ist die Existenz solcher Stützen ein Zeichen für eine wachsende Instabilität der Institutionen.
Was es aber bedeutet, wenn die informellen Regulationsfunktionen der Institutionen schwächer werden, lässt sich am Verfall der politischen Kulturen Nordamerikas, Englands, Polens, Ungarns oder Israels studieren, wo man jeweils versucht, das für Demokratien und freiheitliche Ordnungen unantastbare Prinzip der Gewaltenteilung anzugreifen. Über welche Themen solche mehr und mehr erfolgreichen Versuche gespielt werden, kann unterschiedlich sein: Ob es vorgeblich religiöse Motive sind, die Frauen Grundrechte der Selbstbestimmung zu nehmen versuchen, wie in immer mehr Bundesstaaten der USA und in Polen, ob es über die vorgebliche Abwehr von Migranten läuft, wie in England, den USA , Polen, Ungarn, oder um den Schutz korrupter Politiker geht wie in Israel – die Beispiele sind inzwischen auch in Demokratien zahlreich und zeigen jedes für sich die große Gefahr, die entsteht, wenn auch nur ein Element des Prinzips der Gewaltenteilung angegriffen wird.
Die Widerstandsfähigkeit der Demokratie in Deutschland bis dato beruhte auf der systemischen Verteilung von Machtchancen über die Institutionen und der an historischer Erfahrung geschulten Unantastbarkeit der Gewaltenteilung. Odo Marquard hat das so formuliert: »Die moderne Welt neutralisiert die eine einzige absolute Position durch Pluralisierung der Positionen und macht gerade dadurch die moderne Wirklichkeit individualitätsfähig. Denn individuelle Freiheit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzigen Allmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere – voneinander unabhängige – Wirklichkeitsmächte existieren, die – beim Zugriff auf den Einzelnen – durch Zugriffsgedrängel einander wechselseitig beim Zugreifen behindern und beschränken. Einzig dadurch, dass jede dieser Vielzahl von Wirklichkeitspotenzen – Geschichten, politische Formationen, Wirtschaftskräfte, Sakralgewalten, Überzeugungen, Üblichkeiten und Traditionen, Kulturen – den Zugriff jeder anderen einschränkt und mildert, gewinnen die Menschen ihre Distanz und ihre individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden.« [135]
Aus diesem Prinzip heraus erklärt sich, warum scheinbar partikulare Einschränkungen garantierter Rechte – wie etwa beim Asylrecht – immer einen Unterschied ums Ganze bedeuten. Ein bisschen Grundrechtseinschränkung gibt es nicht.
Freiheitliche Ordnungen sind fragile Ordnungen; sie sind nur stabil, solange es genug Menschen gibt, die sie verteidigen. Und zwar in der Praxis, nicht in rituellen Beschwörungen. Gerade deshalb ist das Leitbild, das das Grundgesetz verkörpert und das sich um die Freiheit und die Demokratie zentriert, für die Geschichte der Bundesrepublik von so entscheidender Wichtigkeit gewesen. Niemand hätte 1949 geglaubt, dass sich Deutschland innerhalb von zwei, drei Generationen vom Empire of Evil in eine der modernsten und stabilsten Demokratien der Welt verwandeln würde. Und wenn die Verfassungswirklichkeit, wie Sebastian Haffner sagt, den Verfassungsanspruch übertrifft, zeigt das auch ein zivilisatorisches Niveau an, das kostbar ist und erhalten werden muss.
Genau darum kann eine Politik ohne Leitbild die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht bewältigen. Denn die Herausforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren besonders in einer Hinsicht anders als heute: Die ökologische Herausforderung gab es nicht bzw. war nicht sichtbar. Deshalb musste sich die Sicherung einer freiheitlichen Ordnung auf die innergesellschaftlichen und innerstaatlichen Verfahren richten, und das hat in vielerlei Hinsicht hervorragend geklappt. Heute aber ist die freiheitliche Ordnung von zunehmenden äußeren Stressfaktoren herausgefordert, die zugleich die Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten von Staat und Politik immer mehr beschränken – allen voran die Folgen des Klimawandels und die komplett veränderte geopolitische Machtbalance. Am Beispiel des kumulierten Krisengeflechts habe ich ja schon zu zeigen versucht, dass die klassischen Bewältigungsmuster und -kapazitäten des Staates immer mehr an Grenzen kommen. Und am Abstieg des Westens kann man genau die Wirkung der Blindheit gegenüber den Grenzen der eigenen Möglichkeiten sehen.
Dies müsste in einem politischen Leitbild für die freiheitliche Politik des 21. Jahrhunderts formuliert sein: dass die Bedingungen für die Aufrechterhaltung und Fortsetzung der Freiheit von einer intakten Biosphäre und einem lebensermöglichenden Klimasystem abhängen . Mit anderen Worten: Freiheit, Demokratie , Rechtsstaatlichkeit und die daran hängenden zivilisatorischen Güter gibt es nur, wenn die naturalen Überlebensbedingungen sie weiterhin gewährleisten.
Mit zunehmenden und überfordernden Krisenereignissen gehen die Stabilisierungsbedingungen für unsere freiheitliche Ordnung verloren, und genau deshalb stellen die ökologischen und klimatologischen Probleme keine Aufgaben dar wie andere auch, und deshalb kann man sie nicht beliebig um- und nachordnen, wenn sich scheinbar Wichtigeres wie ein Krieg oder eine Energiepreiskrise aufdrängt. Sie sind primär nicht nur wenn es um das Überleben geht, sondern wenn es um das Überleben unter zivilisierten Bedingungen geht. Und die Paradoxie lautet: Je krisenhafter die Geschehnisse werden und je schnelleres Reagieren sie zu fordern scheinen, desto notwendiger ist die Orientierung des Handelns an einem Leitbild, das einen Horizont jenseits der Tagespolitik und des Krisenmanagements bildet. Sonst geht die Politik lost in action.
Ein politisches Leitbild für das 21. Jahrhundert, das schon zu einem Viertel vorüber und daher deutlich verspätet ist, hält an den zivilisatorischen Gütern Freiheit, Demokratie , Rechtsstaatlichkeit und Daseinsvorsorge fest und stellt gleichzeitig in Rechnung, dass sich sehr vieles in der Organisation des gesellschaftlichen Stoffwechsels verändern muss, damit diese zivilisatorischen Güter überhaupt erhalten werden können. Von Wohlstands- und anderen Steigerungen ist da gar keine Rede, auch nicht von »globaler Verantwortung«, schon gar nicht von einer Überdehnung des eigenen Leitbilds in eine Mission für die ganze Menschheit.
Denn anscheinend reicht die Mission noch nicht mal mehr für Deutschland.