Donnerstag, 16. August

7.36 Uhr

Sterlings Eltern treffen im Leichenschauhaus des Krankenhauses ein, blinzeln gebeugt in das grelle Neonlicht. Wie ich sehe, hängt ein winziger Heuhalm an der Tasche von Matthew Wades Flanellhemd. Sie identifizieren den Leichnam ihres Sohnes, nackt und bloß wie am ersten Tag, sein dichter blonder Haarschopf engelhaft im weißen Licht. Hinterher, in unserer Dienststelle, halten sie sich wie verirrte Kinder in einem unserer Verhörräume an den Händen, kauern uns gegenüber auf einem durchgesessenen Sofa, vor sich dampfende Teetassen, und antworten leise auf unsere behutsamen Fragen. Solch eine Situation ist zwar für jedes Elternteil schwer und grausam, doch die beiden machen einen besonders verschüchterten Eindruck. Man kann sich schlecht vorstellen, wie sie mit einem so berühmten Kind das Leben meistern.

Matthew ist schmal, aber groß, mit freundlichen blauen Augen und einem von der Sonne zerknitterten Gesicht. Seine Frau April ist das reinste Rehlein: zierlich, mit tief liegenden braunen, von schon fast komisch langen Wimpern bekränzten Augen. Beim Reden zwirbelt sie an ihrem schlichten Goldehering. Ihre Augen fließen über, da ihr der Schock von Minute zu Minute tiefer in den Knochen sitzt. Beide haben nicht geschlafen, das sieht man.

»Sterling war ein guter Junge. Schon immer.« Sie sieht erst mich, dann Fleet an; ihr Kopf hüpft auf dem zierlichen Hals.

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesprochen?«, frage ich und schiebe den heißen Tee näher zu ihr. Auch wenn mir diese armen Menschen unendlich leidtun, möchte ich unser Gespräch in Gang halten. Voll Ungeduld erwarte ich das Filmmaterial vom Überfall, das Cartwrights Produzentin Katya March Isaacs nachts geschickt hat.

»Nun ja.« April umfasst ihren Hals, als versuchte sie, sich das Einatmen zu erleichtern. »Vielleicht am Montag? Er ruft normalerweise einmal die Woche an, nicht wahr, Matt? Er ruft immer an.«

Matthew sieht seine Frau an, als hätte sie ihn soeben aus dem Tiefschlaf gerissen. Er reibt sich die Augen. »Ja, stimmt. Er ruft immer an.«

»Haben Sie noch andere Kinder?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon weiß.

»Ja. Wir haben drei Kinder.« April streckt wieder die Hand nach ihrem Mann aus, der sie folgsam ergreift.

»Stehen sie sich nahe?«, fragt Fleet.

Die Wades unterbrechen kurz ihr Trauern, um einander einen Blick zuzuwerfen.

»Als Kinder ja, aber Sterlings, äh, Situation hat alles etwas schwierig gemacht«, sagt Matthew leise, als befürchtete er, Sterling könne ihn hören. »Er ist nach Melbourne gezogen, als er dreizehn war, um in Team Go mitzumachen, und hat bei einer anderen Familie gewohnt, den Beaufords. Sehr nette Leute, aber das Arrangement war ungewöhnlich.« Nach kurzem Schweigen sagt er, als fiele ihm das nachträglich ein: »Wir sollten sie wahrscheinlich anrufen.«

»Das war natürlich großartig für Sterling«, ergänzt April rasch und wischt sich die Tränen ab. »Aber es ist halt eine ganz andere Welt, und für Melissa und Paul war es ein bisschen anstrengend. Sterling hat unser Leben auf der Farm nicht mehr richtig verstanden.«

»Wo wohnen Ihre anderen Kinder?«, frage ich; irgendwie habe ich das Gefühl, hier nachhaken zu müssen.

»Melissa wohnt mit ihrem Mann in Karadine, nicht weit von unserer Farm. Und Paul ist mal hier, mal da, nimmt alle möglichen Jobs an.«

»Melissa und Paul sind eher altmodische Namen«, wage ich mich vor, »besonders im Vergleich zu Sterling.«

April verzieht den Mund reflexhaft zu einem Lächeln, ehe ihr wieder einfällt, was geschehen ist. Ich erkenne eine Andeutung von Sterlings berühmtem Gesicht um die Partie ihrer Wangenknochen. »Ja. Er hat uns immer gesagt, alle würden meinen, er hätte sich einen Künstlernamen zugelegt, Sie wissen schon, um im Fernsehen oder so mehr aufzufallen. Dabei kommt der Name Sterling eigentlich schon lange in unserer Familie vor.«

»Hat Sterling sich noch mit den Beaufords getroffen?«, fahre ich fort und sehe mir ihre zusammengesackte Haltung an. Sie wollen nicht darüber reden, sie wollen gar nichts, doch ich weiß, dass jetzt die beste Zeit ist, sie zum Reden zu bringen. Auskünfte gehen ihnen leicht über die Lippen, solange sie noch vom Schockzustand wie benommen sind. Kleinigkeiten, die einem unwichtig erscheinen mögen, könnten hochkommen, Dinge, die auszugraben ihnen nur wenige Tage später die Energie fehlen wird. Wir müssen ihrem Redestrom freien Lauf lassen, weil April und Matthew bald aus diesem Raum heraus ihren ersten Tag in einer Welt ohne ihren Sohn ansteuern werden.

Vorübergehend kommt kurz das Gefühl auf, es könnte sich bei alledem um einen furchtbaren Irrtum handeln. Das haben mir einige Angehörige von Opfern erzählt, und ich habe es selbst erlebt: Der erste Tag nach richtigem Schlaf ist der schlimmste, weil einen dann die Realität einholt. Eine Frau, deren Bruder bei einem geplatzten Drogendeal ermordet wurde, hat mir erzählt, dass sie in der Nacht nach seinem Tod an einem winzigen Funken Hoffnung festhielt, es gäbe einen Riss im Universum, einen Programmierfehler, der bei Sonnenaufgang berichtigt werden könnte. Sie sagte, noch nie habe sie sich so hintergangen gefühlt wie beim Aufwachen am nächsten Tag, als ihr Bruder immer noch tot war, während die Sonne vom Himmel strahlte.

Matthew nimmt einen Schluck Tee, ehe er meine Frage nach den Beaufords beantwortet, und hat sichtlich Mühe, die Flüssigkeit im Mund zu behalten. Fleet und ich schauen weg, während er sich mit einem Papiertaschentuch das Kinn abtupft.

»Ich glaube schon«, sagt er. »Sterling hat ziemlich viel von ihnen erzählt, und sie wohnen in Melbourne, da ist es einfacher für sie, ihn zu treffen.«

Eine leichte Bitterkeit hat sich in Matthews Ton eingeschlichen, und ich frage mich, was es wohl für ein Gefühl wäre, wenn Ben mich durch ein anderes Elternteil ersetzen würde; wie es für ihn wäre, sich so glatt in eine neue Familie einzufügen.

»Waren Paul und Melissa noch in Kontakt mit Sterling?«, frage ich.

Matthew seufzt tief. »Na ja, es ist wohl kein Geheimnis, dass sie ein wenig zerstritten waren. Es fing damit an, dass er die Rolle in dieser Fernsehserie bekam, Sie wissen schon, The Street, und wurde mit den Jahren nur immer schlimmer. Hat April das Herz gebrochen.«

»Ich wollte bloß, dass sie sich vertragen. Sie sind alle gute Kinder.« April sackt noch etwas mehr in sich zusammen und bricht erneut in Tränen aus. Ich merke, dass sie innerlich immer noch mit sich ringt, diese neue Realität zu akzeptieren. Jetzt ist sie die Mutter eines toten Kindes, die mit Sicherheit unerwünschteste Rolle auf der ganzen weiten Welt.

»Ich glaube, es ist das Geld«, sagt Matthew schroff. »Zu viel Geld ist immer fatal. Unsere anderen Kinder und unser Schwiegersohn, die arbeiten so schwer, da muss es sie gewurmt haben, dieses viele Geld, das Sterling zur Verfügung hatte. Das ist nicht unsere Welt.«

»Fahren sie oft in die Stadt?«, fragt Fleet.

Die Wades schütteln mit kleinen vogelähnlichen Bewegungen den Kopf. »Melissa war seit Jahren nicht mehr in Melbourne«, erzählt uns Matthew. »Sie und ihr Mann Rowan, deren ganzes Leben spielt sich in Karadine ab. Paul ist ab und zu hier in der Stadt, glaube ich. Er hat ein paar Schulfreunde in Melbourne. Er ist ein stiller Junge und kommt viel rum mit seiner Arbeit. Ich glaube nicht, dass er sich mit Sterling getroffen hat, wenn er in Melbourne war. Sterling war immer so beschäftigt.«

»Was sagten Sie, welcher Arbeit Paul nachgeht?«, hake ich sanft nach.

»Manchmal kriegt er ein paar Wochen Malerarbeiten. Er baut Terrassen, fährt Lkw.« Matthew seufzt erneut, gefolgt von einem trockenen Husten. »Paul wird die Farm übernehmen, wenn es so weit ist. Das war schon immer der Plan, aber ich wollte, dass er auch mal ein paar Jahre rauskommt. Nach seinem Schulabschluss geriet er ein bisschen in Schwierigkeiten hier in Karadine.«

»Was für Schwierigkeiten?«, frage ich nach.

»Ach, eigentlich nichts weiter. Er ist nur in ein paar Schlägereien geraten. Nichts als Dummheiten. Typisch für Jungs in dem Alter.«

Fleet und ich sagen nichts, und Matthew Wade schaut bekümmert drein.

»Ich wollte, dass er noch woanders als auf der Farm Erfahrungen sammelt«, wiederholt er. »Und mit guter, ehrlicher Arbeit hatte er noch nie Probleme.«

Die Andeutung, Pauls jüngerer Bruder könnte vielleicht aus anderem Holz geschnitzt sein, steht im Raum, wo wir sie erst einmal so stehen lassen.

»Wo sind Paul und Melissa jetzt?«, frage ich.

April unterdrückt mit der Hand ein Schluchzen, ehe sie sich mit ein paar tiefen Atemzügen zu beruhigen versucht. »Wir haben Melissa gestern Abend angerufen, gleich nachdem wir es erfahren hatten. Rowan hatte schon online etwas darüber gelesen, hielt es aber bloß für ein absurdes Gerücht. Sie hat es übernommen, Paul anzurufen … Ich habe es nicht über mich gebracht. Er passt seit ein paar Wochen auf die Farm eines Freundes in Castlemaine auf, während er dort den neuen Anbau streicht.«

»Beide übernachten heute mit uns im Hotel.« Matthew sieht erst auf seine Uhr, dann seine Frau an. »Also«, sagt er eine Spur energischer, »Melissa und Paul hatten keinen engen Kontakt zu Sterling, besonders nicht in den letzten paar Jahren, aber sie mochten sich gegenseitig. Wir sind eine Familie«, sagt er, als würde das etwas beweisen, und ich nicke bestätigend.

Aprils eingefallene Augen suchen meine. »Wir werden eine Zeit lang hierbleiben müssen, nicht wahr?«

»Ja«, erwidere ich ihr. »Es vereinfacht die Dinge, wenn Sie wenigstens die nächsten paar Tage in Melbourne sind. Sie werden beide einiges zu erledigen haben.« Ich mache eine Pause. »Die offizielle Obduktion wird später am heutigen Tag durchgeführt. Und dann muss die Beisetzung geregelt werden. Wahrscheinlich sollten Sie sich über den Punkt mit Lizzie verständigen.«

April sieht mich verständnislos an, während ihr offensichtlich all die unaussprechlichen Dinge durch den Kopf gehen, die noch auf sie zukommen werden, als wäre es nicht niederschmetternd genug gewesen, den leblosen, kalten Leichnam ihres Sohnes ansehen zu müssen.

Ich schaue ihr in die Augen und bitte sie wortlos, die Kräftereserven auszugraben, von denen ich hoffe, dass sie tief in ihr schlummern. »Die Medien werden da äußerst hartnäckig dranbleiben«, sage ich.

Sie nickt geistesabwesend, doch ich merke, dass sie sich nicht vorstellen kann, wie schlimm es tatsächlich werden wird.

»Heute Morgen waren Reporter im Hotel«, sagt Matthew.

»Wenn sie Ihnen zu sehr zu Leibe rücken, wenden Sie sich bitte an uns«, sage ich ihm. »Wir können sie verwarnen.«

»Wir würden auch gerne mit Paul und Melissa reden«, sagt Fleet.

»Müssen Sie mit ihnen darüber sprechen?«, fragt April und hört sich überrascht an.

»Wir möchten mit jedem reden, der Sterling kannte«, bestätigt Fleet. »Jede noch so kleine Information hilft weiter. Er könnte etwas Wichtiges erwähnt haben.«

April schließt den Mund und umklammert ihre Tasse mit lauwarmem Tee. Matthew versucht es mit noch einem Schluck von seinem und schiebt ihn dann weg.

Wir reden noch ein paar Minuten weiter, doch der Schock hat ihre Hilfsbereitschaft in Hilflosigkeit verwandelt. Wir setzen sie mit einem Streifenpolizisten in einen Wagen und schicken sie zu dem kleinen Boutiquehotel in St. Kilda zurück, in dem Sterlings Management sie untergebracht hat.

Fleet und ich stehen im Haupteingang des Krankenhauses und schauen ihnen hinterher.

»Na, wenn das nicht ein lustiger Start in den Tag war«, sagt Fleet, breitbeinig an die Wand gelehnt, und atmet einmal tief aus.

»Es muss seltsam sein, einen so berühmten Sohn zu haben«, sage ich. »Besonders wenn man aus so einem Provinzkaff kommt. Karadine ist winzig.«

»Trotzdem wahrscheinlich nicht viel anders, als was deine Eltern über dich denken, Gemma«, sagt Fleet. »Ihre Tochter plötzlich die tolle, wichtige Kriminalbeamtin in der Großstadt.«

»Na ja, was soll’s. Wir sollten dieser Pflegefamilie auf den Zahn fühlen. Den Beaufords. Das ist doch alles ein bisschen seltsam, findest du nicht? Mit dreizehn von zu Hause auszuziehen und bei einer anderen Familie zu wohnen.«

»Wenn du mich fragst, ist das bisher alles extrem eigenartig.« Und mit unterdrücktem Gähnen: »Okay, was steht an?«

»Tja«, setze ich an, gerade als ein lauter Schwall Spötteleien von der Journalistenhorde aufsteigt, die am Krankenhauseingang lauert – einer von denen ist hingefallen. Mit lauter Stimme, um das Gezeter zu übertönen, sage ich: »Wir müssen wohl los und uns diesen Zombiefilm mal näher ansehen.«