Freitag, 17. August

15.44 Uhr

»Warum der überstürzte Aufbruch?«, fragt Fleet, der hinter mir her zum Auto hastet.

»Es gibt ein Geständnis«, sage ich über die Schulter zurück.

Fleet stößt einen Pfiff aus. »Irgendwer, den wir kennen?«

»Offenbar nicht.«

Ich piepse das Auto auf, schiebe mein Handy in die Freisprechanlage und drücke Isaacs Nummer.

»Wir sind jetzt im Auto«, sage ich, als er sich meldet.

»Haben Sie irgendwas gegenüber Wades Eltern erwähnt?«

»Nein«, erwidere ich. »Sie sind in keiner guten Verfassung. Wir haben uns entschuldigt und sind los.«

»Gut. Ich möchte, dass das unter uns bleibt, bis wir geklärt haben, wie hieb- und stichfest es ist. Es hat keinen Sinn, sie unnötig aufzuregen.«

»Was genau ist passiert?«, frage ich nach.

»Ein Mann hat vor etwa einer Stunde die Hotline angerufen und behauptet, er habe Wade erstochen.«

»Und wieso glauben Sie ihm?«, frage ich und trete kurz auf die Bremse, um eine junge Mutter über die Straße zu lassen. Sie schützt ihr Baby mit einer Plastiktüte vor dem Regen. »Schließlich hatten wir heute früh um acht doch schon über vierzig Anrufer, die sich dazu bekannt haben, oder?«

Bei jedem Mord an einem Prominenten gehen falsche Geständnisse bei uns ein – jeder sucht nach einem Sinn im Leben, und einen Mord zu gestehen, scheint eine Methode zu sein, sich mit etwas konkret Fassbarem in Verbindung zu bringen; doch der virtuelle Tsunami an Geständnissen, den der Fall Wade ausgelöst hat, ist für mich mit nichts bisher Dagewesenem vergleichbar. Fleet und ich haben drei Teams auf diese Aussagen angesetzt, die Namen durch unsere Systeme jagen und IP-Adressen nachverfolgen.

»Ich weiß«, sagt Isaacs, »aber dieser eine schildert so viele Details, dass wir ihn ernst nehmen.«

»Hat er Wade gekannt?«, hake ich nach. »Stand er irgendwie in direktem Kontakt mit ihm?«

»Soweit wir wissen, könnte er zur Besetzung gehört haben, aber das ist noch nicht hundertprozentig erwiesen.« Isaacs Stimme hört sich reichlich frustriert an.

»Was glauben Sie, Sir?«, frage ich und forsche wieder nach seiner Meinung. Einen so zurückhaltenden Chef bin ich nicht gewöhnt. Jonesy hätte mir immer seine komplette Einschätzung der Lage mitgeteilt, gefragt oder ungefragt.

Isaacs weicht mir geschickt aus. »Meiner Ansicht nach kommt eine psychisch kranke Person am ehesten als Täter infrage. Und dieser Kerl weiß viele Einzelheiten über die Tat. Er könnte ein Mitläufer sein, der uns an der Nase herumführt, aber in dieser Phase wirkt es schlüssig.«

»Was für Einzelheiten?«, fragt Fleet.

»Er beschrieb das verwendete Messer und was Wade anhatte. Er hat erwähnt, dass Lizzie hinzurannte und schrie. Genau genommen muss er die ganze Szene ziemlich gut im Blick gehabt haben. Und er hatte offenbar ein größeres Problem mit Wade. Er ist aggressiv.«

Ich lasse mir das durch den Kopf gehen. »Diese Infos könnte er größtenteils aus den Medien haben.«

»Oder von irgendwem der hundert Leute vor Ort gehört«, tönt Fleet finster.

Isaacs fällt ihm ins Wort. »Natürlich sind Informationen durchgesickert. Weiß der Himmel, mehr als genug Leute hatten schon mit dieser Sache zu tun; aber es kann eben auch sein, dass der Anrufer wirklich dort war, als Täter oder als Zeuge. Jedenfalls wollen wir mit ihm reden. Unser Mörder könnte Wade überfallen haben, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, und es kann sein, dass er sich hier dazu bekennt, um seinen Status als Prominentenattentäter zu reklamieren.«

»Aber wir können nicht feststellen, ob dieser Kerl auf den Aufnahmen vom Drehort drauf ist, oder?«, frage ich.

»Noch nicht«, gibt Isaacs mürrisch zu. »Wir sind noch dabei, die Identitäten abzuklären.«

Ich packe das Lenkrad fester, verunsichert von der Vorstellung, dass die Antwort auf dieses Chaos einfach nur ein psychisch gestörter Zufallstäter sein könnte.

»Wir sind schon fast wieder da, Sir«, sage ich zu Isaacs. »Bis gleich.«

*

Ein paar Minuten später biege ich auf den Parkplatz der Dienststelle ein und stelle den Motor ab.

»Was meinst du?«, frage ich Fleet.

»Zu diesem Geständnis eines Irren?« Er kramt schon nach seinen Zigaretten. »Wer weiß? Es könnte was dran sein, aber ich tippe drauf, dass es hundert Prozent Schwachsinn ist.«

»Genau. Obwohl, wie Isaacs gesagt hat, es ist das wahrscheinlichste Szenario. Wenn sich herausstellt, dass der Typ zur Besetzung gehört, hat ein Geständnis eindeutig mehr Gewicht.«

Zwar könnte natürlich auch ein völlig Fremder so von Wade besessen gewesen sein, dass es in einem Verbrechen kulminierte, aber das will mir immer noch nicht in den Kopf. Mich macht es nervös, wenn es keine logische Erklärung für etwas gibt; mir gefällt die Vorstellung nicht, dass alles möglich ist. Einerseits weiß ich, dass wir alle ein klein wenig von einem Stalker in uns haben – deshalb lesen wir Zeitungen, daher der enorme Erfolg der sozialen Medien. Klatsch, Spekulationen und Heldenverehrung sind so alt wie die Menschheit. Aber ich kann schwer nachvollziehen, was es soll, einen völlig Fremden zu stalken. Natürlich hatte auch ich so meine Schwärmereien und habe mich als Teenager manchmal zu Extremen hinreißen lassen, aber ich kann mir nicht vorstellen, derart starke Gefühle für jemanden zu entwickeln, dem ich nie oder nur auf Distanz begegnet bin. Körperliche Anziehungskraft, sicher. Aber bei mir braucht eine Gefühlsbindung Zeit, sich aufzubauen.

Aus meiner Sicht kommt eher jemand aus Wades Umfeld, und sei es noch so peripher, für die Tat infrage als ein völlig Fremder.

Letztes Jahr in Smithson hatte ich es mit einem Fall von Stalking zu tun. Eine Witwe verliebte sich in einen Detective in einer Nachbarstadt. Er hatte den Unfalltod ihres Mannes auf ihrer Farm untersucht, und die freundliche Aufmerksamkeit, die er der Frau und ihren Töchtern in dieser schweren Zeit erwies, genügte ihr, um sich in ihn zu verlieben, obwohl er verheiratet war. Es fing ganz harmlos an. Sie rief ihn nur etwas öfter als üblich an und fuhr auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit als Verkäuferin an seinem Haus vorbei. Doch als sie dann auf einmal regelmäßig seiner Frau durch die Stadt folgte, dann die Familie beim Abendessen von ihrem geparkten Auto aus durchs Wohnzimmerfenster beobachtete, war klar, dass etwas nicht stimmte. Ich las das Tagebuch der Frau, das uns ihre älteste Tochter zögernd überlassen hatte: seitenweise Fantastereien. Sie würde ihm die Augen öffnen. Ihm klarmachen, dass alles nur aus einem einzigen Grund geschehen war – ihr toter Ehemann hatte gewollt, dass sie beide zusammenkamen. Diese Wucht war erschreckend, die Kraft und Hingabe, mit der sie eine Zukunft mit diesem Fremden geplant hatte, aber es war auch traurig. All die Energie an jemanden zu verschwenden, der nichts davon ahnte, welche Anziehungskraft er auf einen anderen Menschen ausübte.

Ich schaue zu Fleet hinüber, der sich Schlafsand aus dem Auge pult. »Was?«, sagt er, als er meinen Blick auf sich spürt.

»Nichts«, sage ich mechanisch.

»Die Wades wirken wie eine ziemlich eingeschworene Gemeinschaft, oder?«

»Man kann wohl mit einiger Sicherheit sagen, dass Sterling der bunte Vogel war«, antworte ich.

Fleet beobachtet ein junges Mädchen, das sich zum Fahrerfenster eines Kombi vorbeugt, um mit einem Polizisten zu reden. Ihr tief ausgeschnittenes Top gibt den Blick auf einen hässlichen blauen Fleck am Brustansatz frei.

»Aber Paul wirkte nicht besonders mitgenommen vom Tod seines Bruders«, werfe ich ein.

»Überhaupt nicht. Dem kommt der Neid zu den Ohren raus. Erinnert mich an meinen Bruder.«

Ich warte auf nähere Erklärungen, doch stattdessen steigt er aus dem Wagen. Ich folge ihm bis zum Fuß der Treppe, wo er sich auf eine Stufe setzt und wie ein Teenager raucht, die Zigarette in einer Hand verborgen, und mit geschürzten Lippen graue Rauchwolken ausstößt.

»Ich hab darüber nachgedacht«, sage ich, »was mir meine Kontaktperson in Smithson erzählt hat – dass die Wades in Geldschwierigkeiten stecken. Sterling muss für jemanden in seinem Alter enorm reich gewesen sein. Wenn vor allem seine Familie sein Geld erbt, ist ihr Problem gelöst. Damit können sie die Farm auf jeden Fall retten. Vielleicht sogar sich zur Ruhe setzen, falls sie das wollen.«

Fleet nickt und ascht auf den Boden.

Ich fahre fort: »Sie haben gesagt, dass sie nichts von der Verlobung Sterlings mit Lizzie wussten, aber was, wenn er es ihnen gesagt hat?«

»Wie, meinst du, sie könnten sich Sorgen gemacht haben, dass Lizzie ihnen was von ihrem Ruhestandsplan abzwackt?«

»Das ist weit hergeholt«, gebe ich zu, »und ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, dass die Eltern so gedacht haben, aber vielleicht hat Paul oder sogar Melissa beschlossen, den Reichtum ihres Bruders umzuverteilen.«

Rauch mischt sich mit der frischen eisigen Luft. Wie ich so neben Fleet in der Kälte sitze, packt mich plötzlich eine Woge der Einsamkeit.

»Na gut«, sagt er und wischt sich Aschestaub von der Schuhspitze, »tun wir dir den Gefallen und wühlen in den Finanzen unseres Hübschen herum, obwohl ich glaube, wir wären beide schockiert, wenn eins seiner Geschwister ihn tatsächlich auf dem Gewissen hätte. Sie wirken nicht wie die großen Gewinnertypen nach dem Muster ihres Bruders.« Fleet sieht heute irgendwie älter aus, mit Krähenfüßen um die Augen. »Wahrscheinlich ist es einfach nur der übliche Familienmüll«, fährt er fort, wirft sich ein Pfefferminz in den Mund und steht auf, »aber ich finde auch, wir sollten sie durchchecken, um sie von der Liste streichen zu können. Paul hatte eindeutig eine angespannte Beziehung zu seinem Bruder, und wo es Geldsorgen gibt, gibt es ein Motiv.«

»Vielleicht kennt Paul Leute in der Stadt?«, schlage ich vor.

Fleet zuckt wohlwollend mit den Schultern. »Also wenn dieser geheimnisvolle Anrufer, auf den Isaacs so scharf ist, wirklich unseren Promifreund umgebracht hat, dann bin ich der Letzte, der Einspruch erhebt. Mir entgehen hier ein paar richtig gute Folgen auf Netflix. Aber ich hab da so ein Gefühl, dass unsere Antwort im viel näheren Umfeld zu suchen ist – und dass wir noch meilenweit davon entfernt sind. Lizzie und Brodie gefallen mir nicht. Paul Wade gefällt mir nicht. Ava und ihre Belästigungsvorwürfe gefallen mir nicht. Riley Cartwright gefällt mir nicht. Ich mein, was soll das, kaum ist Wade tot, rücken alle mit so Megageheimnissen raus? Da stimmt doch irgendwas nicht.«

Mein Diensthandy klingelt, und ich fahre zusammen. Fleet scheint es zu überhören.

»Hallo, Mary-Anne«, antworte ich.

»Detective.« Sie holt Luft. »Ich habe neue Erkenntnisse zu dem, was wir gestern besprochen haben.«

»Ja?«, sage ich, während Fleet mich neugierig fixiert.

»Tja, ich kann Ihnen nicht sagen, mit wem oder wann genau, aber wenn Sie mich fragen, hatte Wade regelmäßig gleichgeschlechtlichen Verkehr.«

*

Simon Joseph Carmichael ist ein siebenundzwanzigjähriger Schauspieler, der in Teilzeit in einem Café jobbt. Er war als Komparse in einigen australischen Fernsehserien und Filmen beschäftigt und hat voriges Jahr eine kleine Rolle in einer Comedyserie auf ABC bekommen. Im Schnitt verdient er etwas über vierzigtausend Dollar im Jahr. Er wohnt in Preston mit einer dreiundzwanzigjährigen Mitbewohnerin, die eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin macht. Er ist ein Weißer, brünett, mittelgroß und von mittlerem Körperbau. Sieht nett aus, aber der absolute Durchschnittstyp. Vor drei Monaten hat er auf Facebook geschrieben, wie »aufgeregt« er sei, als Zombie in dem neuen Film Death Is Alive mitzuspielen, hat es seinen »großen Durchbruch« genannt und die Produktion sein »nächstes Level«.

Am Mittwochnachmittag hat ein Schauspielerkollege ein Foto von ihm mit glasigen Augen aufgenommen, wie ihm das Blut über das Gesicht läuft und zusammen mit Innereien aus einer klaffenden Halswunde quillt.

Nach seinem Anruf bei unserer Hotline heute Morgen hat er als Nächstes gegen fünfzehn Uhr unter dem Decknamen »Dark Knight« eine »Der Moment« betitelte Hasstirade auf Wades Facebookseite gepostet und den Überfall in allen Einzelheiten geschildert. Kommentare, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit seines Insiderwissens äußerten, beschied er mit: »Ich war da, ich habe es getan. Ich habe alles gesehen. Ich war am Drücker.« Und weiter, Wade sei als Schauspieler »unbegabt« gewesen, »ein Durchschnittstalent, das einfach nur Glück hatte«.

Die Techniker spürten seinen Computer auf und holten ihn kurz nach achtzehn Uhr ab.

Jetzt starre ich ihn durch die Einwegscheibe des Verhörraums an. Er sitzt ruhig und mit gefalteten Händen da.

»Er sieht nicht gerade nach einem Promikiller aus«, murmelt Fleet, der sich mir anschließt. Schaler Rauchgeruch stiehlt sich in meine Nasenlöcher.

»Nein. Aber er war da. Wir haben ihn auf den Aufnahmen. Und er ist auch nicht dageblieben, um mit den Polizisten zu reden, sondern abgehauen. Er hielt sich in direkter Nähe zu Wade auf, auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass er ihm nahe genug war für die Messerattacke. Aber er könnte schließlich einen Kumpel haben, einen anderen Komparsen. Vielleicht waren sie Komplizen, und Carmichael hat einfach beschlossen, es auf sich zu nehmen und groß rauszuposaunen.«

Fleet stützt sich auf der Haltestange unter dem Einwegspiegel ab und geht in die Knie, als wollte er plötzlich mit Kniebeugen loslegen. »Aber warum der ganze Aufwand? Wenn er es wirklich auf Wade abgesehen hatte, hätte er ihn doch bestimmt auf einfachere Art verletzen oder umbringen können. Bei Dreharbeiten gibt es andauernd Gelegenheiten, etwas wie einen Unfall aussehen zu lassen. Das hier ist kompliziert und sieht ganz danach aus, als wollte wer in die Schlagzeilen.«

Ich seufze. »Ich weiß. Ich hab das Gefühl, dass wir einen Narzissten suchen – jemand, der diese irre Tat in der Absicht begangen hat, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nach seinem Verhalten am heutigen Tag zu urteilen, könnte dieser Typ also vielleicht ins Raster passen. Aber er hat keine Maske getragen, während der Mörder doch wohl einer der maskierten Männer direkt neben Wade gewesen sein muss.«

Um die Zeit, als Wade erstochen wurde, waren zwei Maskierte und zwei Männer mit Kapuzen in der Szene. Nur zwei davon haben am Mittwochnachmittag erste Aussagen gemacht. Etwa seit einem Tag bin ich fest davon überzeugt, dass einer der anderen beiden nicht zur Besetzung gehörte, sondern sich irgendwie in die tobende Menge eingeschlichen, zu Wade durchgekämpft und ihn erstochen hat, ehe er wieder im Gewühl untertauchte.

»Wollen wir mal ein Plauderstündchen mit Mr. Carmichael einlegen?«, fragt Fleet und drückt sich von der Stange ab.

»Vorher brauche ich mehr Hintergrundfakten«, sage ich. »Eine schlüssigere Theorie. Er scheint keine Angehörigen und kaum Freunde zu haben. Unsere Leute versuchen gerade, seine Finanzen, Handyverbindungsdaten und medizinischen Unterlagen einzuholen. Lass uns das Ergebnis abwarten und ihn uns dann vornehmen. Falls er in direktem Kontakt mit Wade stand, könnte das Ganze plausibler sein.«

»Schon recht«, sagt Fleet. »Willst du meine Meinung hören? Der Typ ist bloß ein elender Loser, der das Leben mit seinen Kackcomputerspielen verwechselt hat.«

*

Ich kenne Simon Carmichael noch nicht lange, habe ihn aber schon reichlich satt. Eine gründliche Analyse des Filmmaterials hat ergeben, dass er zu dem wahrscheinlichsten Tatzeitpunkt etwa einen Meter hinter Wade war. Er scheint außerdem an einem gestörten Verhältnis zur Wirklichkeit zu leiden. Wir sind uns fast hundertprozentig sicher, dass er nicht unser Mann ist – nur ein Mann, der uns viel zu viel Zeit gekostet hat.

Zum Glück bekamen wir am Nachmittag doch noch einige verwertbare Informationen. Die leichten Schwierigkeiten, die Matthew zufolge sein Sohn Paul nach der Highschool hatte, haben sich als insgesamt drei Kneipenschlägereien entpuppt. Es sieht so aus, als habe Paul sich jedes Mal von irgendwelchen läppischen Provokationen zu Faustschlägen hinreißen lassen und auf andere Gäste eingeprügelt. Er hat zwar niemanden ernsthaft verletzt, aber in sämtlichen Kneipen und Bars der Gegend Hausverbot erhalten; Fleet und ich sind uns einig, dass er Karadine wahrscheinlich aus diesem Grund verlassen hat.

Riley Cartwrights Telefonverbindungsdaten verraten, dass er Ava James in den zwei Wochen vor dem ersten Drehtag etwa vierzigmal angerufen hat. Immer abends nach den Proben. Ava ihn nicht einmal. Manchmal wurden seine Anrufe nicht angenommen, dann wieder telefonierten sie ein paar Minuten miteinander. Oft rief er sie direkt nach Beendigung eines Anrufs erneut an, und sie ging nicht ran. Ihre Anklage gegen ihn erhärtet sich. Unter Cartwrights Kontakten befinden sich außerdem ein paar polizeibekannte Drogendealer, die er in letzter Zeit auch öfter angerufen hat.

Sterlings Telefonverbindungsdaten wiederum wirken unverdächtig. Es gibt nur eine Handvoll ausgegangener und eingegangener Anrufe, die wir uns ansehen. Am meisten rief er Lizzie an. Nach dem wöchentlichen Anruf bei seinen Eltern hätte man die Uhr stellen können. Ein paar Anrufe galten Wendy Ferla, eine Handvoll gingen an Brodies Prepaidhandy. Fast alle SMS, die Wade verschickte, waren an Lizzie und Brodie gerichtet, hauptsächlich, um sein Nachhausekommen anzukündigen – keine Konversation war allzu liebevoll, auch wenn er zu den modernen Typen gehörte, die unbekümmert Küsschen austeilen. Sterling hat Ava wirklich am frühen Samstagmorgen angerufen, was ihre Aussage bestätigt, dass sie sich nach Cartwrights unerwünschten Annäherungsversuchen am vorigen Freitag trafen und sie ihm davon erzählte. Ich frage mich, ob Wades Treffen mit Ava außerhalb der Drehzeiten Lizzie oder Brodie irritiert haben mag. Jedenfalls scheint er Diskretion gewahrt und keinem von den Problemen zwischen ihr und Cartwright erzählt zu haben. Und bislang haben auch die Medien noch nicht Wind davon bekommen.

Ich reibe mir die Augen, sehne mich nach Schlaf. Fleet ist nirgends zu sehen. Als ich merke, wie spät es ist, nehme ich an, dass er wohl schon gegangen ist, und beschließe, auch Feierabend zu machen.

Auf meinem Weg über den Parkplatz hacke ich auf das Display ein, um Josh anzurufen. Er geht ran, und ich höre die Geräusche von Freitagabend-Fußball im Hintergrund. Anfeuerungsrufe und klirrende Biergläser.

»Hey, du«, übertönt er den Lärm.

»Hey.«

»Sag jetzt nicht, du rufst an, um mir für morgen Abend abzusagen?«

»Noch nicht«, antworte ich. »Tut mir leid wegen der Funkstille. Hier war die Hölle los.«

»Das geht sicher weit über meine Vorstellungskraft. Dieser Sterling-Wade-Fall ist ja der reinste Wahnsinn. Ich hab ständig Nachrichten geguckt. All die alten Filmaufnahmen mit ihm, die sie dauernd wiederholen, seine Fernsehsendungen und Werbefilme und all das; wie traurig ist das denn.«

Es fängt zu regnen an, und ich suche Schutz hinter einer Betonsäule. Ein kalter Luftzug fährt mir das Bein hoch, ich schauere am ganzen Körper.

»Stimmt«, sage ich. »Es war wirklich der Wahnsinn.«

»Ich will versuchen, heute Abend nicht zu versacken, damit ich mich morgen um dich kümmern kann. Ich denke da an etwas guten Wein und Pasta, hm?«

Ich lächle. Seine Begeisterung ist ansteckend, und die Vorstellung, dass sich jemand um mich bemüht, spricht mich eindeutig an. »Klingt toll. Hoffentlich läuft morgen nicht alles aus dem Ruder. Ich werd versuchen, um halb acht bei dir zu sein. Falls sich irgendwas ändern sollte, geb ich dir Bescheid.«

Im Telefon brandet lauter Jubel auf, und wir verabschieden uns.

Ich sehe zu, wie Leute im diesigen Regen an mir vorbeieilen. Offenbar hat es sich eingeregnet. Ein älterer Herr mit zwei gleich aussehenden kleinen Jungen mit identischen Fußballmützen macht im Vorbeilaufen Rennautogeräusche, wozu die beiden vor Vergnügen kreischen. Er wirft mir einen vernichtenden Blick zu, neidet mir wahrscheinlich mein ungebundenes, sorgloses Dasein.

Ich gehe weiter und fühle mich unsichtbar. Unbedeutend. Zum hundertsten Mal staune ich darüber, dass niemand mir meine Mutterschaft ansehen, auf einen Blick Bens Existenz erkennen kann. Ich kenne Frauen, die eine Geburt völlig umgeworfen hat, für die es eine lebensverändernde Erfahrung war; nicht so bei mir. Ich habe keine Narben, keine verräterischen Spuren auf meiner Haut. Als hätte die Schwangerschaft mich zeitweise mit Beschlag belegt und sich dann grußlos verabschiedet, spurlos. Bei meiner Fehlgeburt war es genauso. Etwas war da, und dann plötzlich nicht mehr. Eine mögliche Zukunft wurde sofort ausgelöscht. Niemand weiß davon außer meiner alten Freundin Anna – und Felix, auch wenn ich mir immer noch nicht sicher bin, ob er mir geglaubt hat. Ich versuche, wenig daran zu denken; lasse nie zu, dass ich den Verlust als ein Baby vor mir sehe, einen zweiten Ben.

Jetzt muss ich keine Pausenbrote schmieren, Spielverabredungen planen, nicht bei Hausaufgaben helfen. Ich habe meinen Sohn gestillt, ihn beruhigt, wenn er schrie, und ihn bei seinen ersten Schritten an den Händen gehalten, doch diese ursprünglichen Zuwendungen traten mit der Zeit in den Hintergrund. Das könnte leicht jemand ganz anderes gewesen sein. Es kommt mir wie Betrug vor, mir Bens Entwicklungsschritte zuzuschreiben.

Bis auf Macy und Isaacs weiß niemand in Melbourne von Ben. Wenn ich so durch die Straßen gehe, durch den Tag trotte, ist mein Dasein als Mutter ein Geheimnis. Niemand würde das von mir denken. Dafür bin ich zu hart. Zu leer. Zu unnahbar. Zu egoistisch.

Dabei hat Ben mich durchaus verändert. Ich habe mehr Angst als früher, als ich kinderlos war. Nur zu gut weiß ich, was alles schiefgehen kann. Ich habe schon so vieles verloren und bin nicht so naiv anzunehmen, dass Verluste gerecht auf alle verteilt werden. Schmerz und Leid machen keinen Unterschied oder gnädige Ausnahmen – sie können jederzeit zuschlagen. Seit Bens Geburt, seit ich damals mit meinem eigenen kostbaren, vollkommenen kleinen Menschen beschenkt wurde, habe ich ihn entgegen meiner Intuition auf Armeslänge von mir ferngehalten, vor lauter Angst, eines Tages seinen Verlust erleiden zu müssen.