Montag, 24. September

7.22 Uhr

Ich schirme die Augen mit einer Hand ab und blinzle in die Sonne, während ich mich zur Geräuschkulisse in der Mitte der Treasury Gardens aufmache. Ich halte mich am Rand der Menge, atme die pollengeschwängerte Luft ein und schlendere am smaragdgrünen Gras entlang. Auf einer bloß liegenden Baumwurzel bleibe ich stehen und sehe mir das Spektakel an. Über dreihundert Leute müssen schon hier sein: elegante Gestalten in Businesskleidung, die an Kaffeebechern nippen, aufwendig tätowierte Männer und Frauen mit aus dem Mundwinkel baumelnden Zigaretten, junge Familien mit Kleinkindern in Buggys, die an Trinkjoghurtpäckchen nuckeln, händchenhaltende ältere Paare, die sich erwartungsvoll umsehen.

Jenseits des Gesichtermeeres erblicke ich ganz vorn Macy. Sie trägt ein zerknittertes himmelblaues Jackett und hat den Arm um ein junges Mädchen mit strubbeligem Pferdeschwanz gelegt. Jemand klopft an eine Glasflasche, wie um eine Rede zu halten, gerade als mir ein Flyer gereicht wird, auf dem mir der junge Walter Miller zulächelt. Das Foto muss in einem Restaurant oder einer Kneipe entstanden sein. Darauf hat er eine typische Achtzigerjahrefrisur, trägt einen Anzug und eine bunte Krawatte.

Alle Gespräche verstummen, als Tammy Miller sich vor die Menge stellt. Sie wirft jemandem im Publikum ein nervöses Lächeln zu und streicht sich die blonden Locken aus der Stirn. Ihre Schultern heben und senken sich, während sie tief Luft holt. Sie begrüßt alle und dankt uns für unser Kommen. Dann erzählt sie uns die Lebensgeschichte ihres Vaters. Nach diesem Nachruf berichtet sie von eigenen Kindheitserinnerungen, davon, dass Walter ihr Held war, als sie ein kleines Mädchen war. Danach reden zwei Freunde von Walter aus der Obdachlosenszene über sein freundliches Wesen. Seine Anständigkeit. Ich schaue mir wieder sein Foto an, und in meinen Augen kitzeln die Tränen.

Schließlich werden alle gebeten, seine Lieblingsmusicalmelodie aus Brigadoon zu singen. Beim Singen lächeln sich die Leute unter Tränen zu.

Nach der Trauerfeier schlängle ich mich durch die Menschengruppen zu einer Parkbank durch. Ich fange Macys Blick auf und winke sie zu mir. »Morgen«, sage ich, als sie näher kommt.

Ein strahlendes Lächeln breitet sich über ihr ganzes Gesicht aus. »Du bist da.«

»Ja, sicher.«

Das warme Wetter macht sie noch gesprächiger als sonst. Sie erzählt mir, dass sie heute Morgen eine alte Freundin hier wiedergesehen hat, zu der sie vor über zehn Jahren den Kontakt verlor, und dass sich eine Einzelhändlerin an Tammy Miller gewandt und gesagt hat, sie wolle alle ihre alten Bekleidungslagerbestände den Obdachlosen spenden, damit sie sie auf der Trauerfeier tragen – und natürlich auch behalten konnten.

»Steht dir gut«, sage ich und befingere den Aufschlag von Macys Jackett.

Sie blickt stolz an sich runter, streicht mit beiden Händen über den Stoff. »Danke. Mir gefällt’s.« Sie schürzt die Lippen, bremst sich. »Wie läuft’s mit deiner feinen Psychologin?«

»Gut«, gebe ich zu. »Ich find’s echt gar nicht schlimm hinzugehen.«

Macy gibt einen leise zustimmenden Laut von sich. Sie lächelt mir zu und drückt mir fest die Hand.

Dann wird sie von Lara angesprochen, also verabschiede ich mich von beiden und gehe die paar Straßenzüge zur Arbeit. Ich höre mir klassische Musik an, auf Vorschlag meiner Psychologin. Ich setze meine Schritte im Takt auf und mische mich zuversichtlich unter den Strom von Menschen, die in die neue Woche starten.

In der Arbeit angekommen, fühle ich mich wie eine Neue am ersten Schultag. Ich gehe schwungvoll ins Hauptbüro und steuere zielstrebig meinen Schreibtisch an. Heute früh habe ich mir richtig Mühe gegeben mit meinem Aussehen, mir mit dem guten Arm sorgfältig das frisch geschnittene Haar geföhnt und ein bisschen Make-up aufgetragen. Ich versuche mich mehr um mich zu kümmern, um mein Erscheinungsbild.

Isaacs Tür ist geschlossen, aber in seinem Büro brennt Licht. Die einzigen Geräusche, die ich höre, sind das Surren der Klimaanlage und ein regelmäßiges Tippen. Auf meinem Tisch steht ein Blumenstrauß in einem Plastikwasserkrug; ein paar gewellte braune Blütenblätter liegen auf der Tastatur verstreut. In meinem Eingangsfach stapelt sich ein unguter Stoß Papiere.

Nan beugt sich hinter ihrem Schreibtisch vor, um mich zu beäugen. »Na, dann willkommen zurück im Dienst!«, sagt sie kurz angebunden, ehe sie sich wieder ihrem Monitor zuwendet.

Ich lächle still in mich hinein. »Danke, Nan.«

Calvin kommt aus der Küche, vorsichtig eine randvolle Kaffeetasse balancierend. »Gemma«, ruft er herzlich, »schön, dass du wieder da bist. Gut siehst du aus!«

»Danke, Calvin.«

»Woodstock«, sagt Isaacs, der in seiner Bürotür auftaucht.

»Guten Tag, Sir«, erwidere ich und stehe auf.

»Willkommen zurück. Bitte kommen Sie kurz hier rein.«

Grundlos nervös gehe ich in sein Büro. Seit dem Kampf im Park hinter Kit Shorts Haus habe ich dreimal mit Isaacs gesprochen. Direkt nach der Schießerei hatten wir eine ernsthafte Auseinandersetzung im Krankenhaus, als Chloe operiert wurde und ich vor Schuldgefühlen und Sorge außer mir war. Am nächsten Tag rief er an, sagte mir, dass ich einen Behandlungsplan mit der Betriebspsychologin vereinbaren solle, und bestand darauf, dass ich mir eine Auszeit nahm. Früh am letzten Montagmorgen redeten wir wieder miteinander. Er brachte mich beim Fall auf den neuesten Stand, und wir einigten uns, dass ich heute an die Arbeit zurückkehren sollte. Während dieser ganzen Zeit hat er sich zupackend und professionell verhalten, während ich nicht recht weiß, woran ich bin, jetzt, da sich der Staub gelegt hat.

Ich setze mich ihm gegenüber auf die Stuhlkante.

»Wie geht es Ihnen?«, fragt er freundlich.

»Danke, gut. Ich bin froh, wieder da zu sein. Meinem Arm geht es schon viel besser, in ein paar Wochen kann ich bestimmt wieder in den Fitnessraum.«

»Passen Sie auf sich auf, nichts übertreiben.« Er spielt mit einem Stift, legt ihn weg und hebt ihn wieder auf. »Und Sie gehen zur Psychologin?«

»Ja«, sage ich energisch. »Das war eine gute Idee. War wahrscheinlich überfällig.« Ich halte ein und räuspere mich. »Ich glaube, ich fand den Winter hier besonders schwer, und die Entfernung von meiner Familie war auch nicht leicht. Aber jetzt habe ich einige Strategien in petto, mit denen ich arbeiten kann.«

Isaacs nickt und überrascht mich dann mit einem Lächeln. »Also das hört man gern.« Sein Gesicht wird ernst, und er verschränkt die Arme. »Ich weiß, dass wir das schon durchgekaut haben, aber was Chloe zugestoßen ist, war nicht Ihre Schuld.«

»Danke, Sir. Ich bin bloß froh, dass sie mit heiler Haut davonkommt.«

»Ja, Gott sei Dank.« Er legt die Fingerspitzen aneinander. »Also, was diese Woche angeht, wollte ich Ihnen Bescheid sagen, dass Fleet nicht reinkommen wird. Nächste Woche wahrscheinlich auch nicht. Ich habe mir gedacht, dass Sie mit Nan und Calvin zusammenarbeiten können, während Sie wieder in einen Rhythmus reinfinden und den Fall Wade endgültig abschließen.«

Bei dieser Nachricht verspüre ich eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Ein Teil von mir möchte sich augenblicklich mit Fleets Anwesenheit auseinandersetzen, sich überlegen, wie damit umzugehen ist. Herausfinden, ob ich damit zurechtkomme.

»Aber Fleet hat mir gesagt, dass er grünes Licht zur Rückkehr in den Dienst bekommen hat«, antworte ich.

»Das hat nichts mit seinen Verletzungen zu tun. Er hat beschlossen, ein paar Tage zu sich nach Hause zu fahren. Seine Tochter hat wieder ein paar Probleme. Diesmal wohl Magersucht und Drogen, soweit ich weiß.«

Ich starre Isaacs verständnislos an, während mein Kopf das Wort »Tochter« zu verarbeiten versucht.

»Fleet will, dass sie die Highschool abschließt, und sie droht mit Abbruch, also hat er sich gedacht, dass er etwas Zeit mit ihr verbringen muss. Er hat Angst, sie könnte sich was antun. Soweit ich weiß, hat seine Exfrau so ihre eigenen Probleme und kann sich nicht um sie kümmern. Bestimmt sind Sie ja über das alles im Bilde.«

Ich neige stumm den Kopf zu einem Nicken.

Isaacs wartet augenscheinlich auf Antwort.

»Sir«, sage ich, während die Nervosität, die ich bisher eingedämmt habe, plötzlich hochkocht und körperlich Besitz von mir ergreift, »ich möchte eigentlich über etwas mit Ihnen reden.«

»Ja?«, sagt er erwartungsvoll.

Ich stelle mir kurz vor, ihm alles zu sagen, die Worte auszusprechen und was alles das zur Folge hätte, doch dafür bin ich einfach noch nicht bereit.

»Künftig ist es keine gute Idee, dass Fleet und ich als leitende Ermittler zusammenarbeiten«, sage ich.

Isaacs graue Augen bohren sich in meine.

»Wir haben einen äußerst unterschiedlichen Arbeitsstil«, ergänze ich, »was weder uns beiden guttut noch den Fällen.«

»Tja«, sagt er, »aus meiner Sicht ist das kein Problem, da kann ich Ihnen gern entgegenkommen.« Er klopft die Fingerspitzen gegeneinander. Betrachtet sie kurz, bevor er sich wieder mir zuwendet. »Gibt es irgendetwas Bestimmtes, wovon ich wissen sollte, Woodstock?«

Das Blut rauscht ungebremst durch meine Adern. »Dafür ist es vielleicht noch zu früh.«

»Aber vielleicht schon?«

»Ja, vielleicht.«

Er befeuchtet sich die Lippen und nickt, die Hände in den Hüften. »Ich bin für Sie da, wenn Sie irgendetwas auf dem Herzen haben, Gemma. Ich interessiere mich immer für alles, was Sie mich wissen lassen möchten. Hoffentlich haben Sie das Gefühl, mit mir reden zu können.«

»Danke, Sir. Das weiß ich zu schätzen. Ich brauche wohl nur noch etwas Zeit.«

»Kein Problem«, sagt er freundlich, und ich frage mich, ob er irgendwie meine wirren Gedanken lesen kann. »Hinter Ihnen liegen ein paar anstrengende Monate, Woodstock, und damit meine ich nicht nur die Arbeit. Mein Rat ist, passen Sie gut auf sich auf, und behalten Sie das Wesentliche im Blick. Lassen Sie es ruhig angehen, und schaffen Sie sich einen geregelten Tagesablauf. Halten Sie sich an Nan und Calvin – die beiden sind gute Detectives.«

»Ja, mach ich. Danke, Sir.« Ich stehe auf und ziehe mich rückwärts Richtung Tür zurück.

»Meine Tür ist immer offen, Woodstock, auch wenn sie geschlossen ist«, ergänzt er.

Ich wippe in einer seltsam kleinmädchenhaften Geste mit dem Kopf und schwebe zu meinem Schreibtisch zurück. Vor meinen Augen dreht sich alles, und meine Arme und Beine fühlen sich schlapp an, während das Adrenalin aus ihnen weicht.

Nick Fleet hat eine Tochter? Eine Tochter im Teenageralter? Mir fällt wieder ein, wie oft er am Handy hing, die Finger wie wild über das Display flogen. Seine ständigen Stimmungsschwankungen. Und ich denke an damals in seinem Auto, als er mir nicht sagen wollte, was los war. Und dann bin ich wieder in meinem Bett, seine Hand auf meinem Oberschenkel, und die bekannte Scham stellt sich wieder ein. Das Paradox meiner eigenen gespaltenen Welt, deren eine Hälfte vor fremden Blicken verschlossen ist, entgeht mir nicht, und doch schmerzt mich seine Heimlichtuerei. Ich denke an seine Unfähigkeit zuzugeben, was er mir angetan hat. Sein Versäumnis, sich zu entschuldigen.

Mit einem Blick auf seinen leeren Schreibtisch denke ich, wie nett es wäre, wieder auf Anfang zurückgehen zu können. Aber ich weiß besser als die meisten anderen, dass man Geschehenes nicht ungeschehen machen kann. Was auch immer wir einander waren, hat er kaputt gemacht. Das kann ich ihm nicht ganz verzeihen.

Ich versuche mir seine Tochter vorzustellen. Sieht sie ihm ähnlich? Ich weiß noch, was Fleet über Bens Ähnlichkeit mit mir gesagt hat, dass er unverkennbar mein Sohn sei. Stolz durchzuckt mich bei der Vorstellung, dass wir beide durch die Blaupause unserer Gesichter miteinander verbunden sind, was auch geschieht, wie weit auch immer mein Sohn von mir entfernt ist.

Ich wende mich wieder meinem eigenen Schreibtisch und dem Papierstapel zu. Ich muss Fleet aus meinem Kopf verbannen. Das Gespräch mit Isaacs war der erste Schritt, sage ich mir. Ich werde mit ihm darüber reden, was Fleet getan hat, aber es war ehrlich von mir zu sagen, dass ich noch Zeit brauche. Vorige Woche habe ich der Psychologin von Fleet und von dem Überfall in jener Nacht in der Innenstadt erzählt, und ich weiß, dass ich weiter über das sprechen werde, was mir zugestoßen ist.

Mein Handy meldet eine SMS: Ben benutzt Scotts Handy. Als er zu Besuch war, habe ich ihm von den Sternzeichen erzählt, und nun schickt er mir täglich Neues zum Thema von Smithsons Lokalnachrichtenseite. Candy findet das zu komisch, denn sie kennt den jungen Praktikanten, der die Astrologieseite mithilfe seiner Großmutter und Google betreut.

Ihnen winkt ein verlockender Neuanfang, aber achten Sie darauf, sich selbst treu zu bleiben.

Ich verdrehe die Augen und lege das Handy weg.

Ich sehe Nan und Calvin zu, wie sie sich unterhalten, ihre sperrigen Umgangsformen so auffällig wie nur je. Ich fühle mich allein, aber nicht einsam. Sondern zielstrebig.

Im Fenster schiebt sich die Sonne an Wolken vorbei, und der hauchdünne Morgennebelschleier verzieht sich wie von Zauberhand. Allmählich füllt sich das Büro; einzelne Stimmen, miteinander verwoben, bilden eine beruhigende Geräuschkulisse im Hintergrund. Telefone klingeln. Papiere werden abgeheftet. Sachen erledigt. Ich bin wirklich froh, wieder da zu sein. Zwar mache ich mir immer noch Sorgen, was die Zukunft angeht, freue mich aber auch darauf.

Rebecca hat mich gestern angerufen, um Weihnachtspläne zu schmieden. Offenbar ist sie nun von Amts wegen in die Rolle der Matriarchin unserer Familie geschlüpft. »Nicht wahr, du kommst doch nach Hause, Gemma?«, fragte sie zaghaft. »Ned würde sich so freuen, weißt du. Und Ben erst.«

»Ja«, versicherte ich ihr, »vielleicht bloß ein paar Tage, aber ich komm nach Hause.« Als ich das sagte, merkte ich, dass sich meine Furcht bei der Vorstellung, Weihnachten in Smithson zu verbringen, vollkommen verflüchtigt hat. Rebecca quasselte weiter über Ben und Dad und den Verkauf ihres Hauses, und ich wurde unverhofft von Zuneigung zu ihr erfüllt. Sie ist nicht meine Mutter, nicht einmal meine Freundin, aber sie macht meinen Vater glücklich, und dafür kann ich ihr dankbar sein. Auf einem der Fernseher, die an der Rückwand hängen, erscheint ein Foto von Lizzie und Sterling hinter der Nachrichtensprecherin. Es folgt eine Montage von Szenen aus diversen Fernsehsendungen und Filmen, ehe alte Aufnahmen von Kit und Lizzie den Bildschirm füllen. Lizzies Prozess lässt nicht mehr allzu lange auf sich warten, danach folgt Kits. Ich werde aussagen müssen. Der Auftakt von Frank Jacobys Prozess ist für den Januar angesetzt.

Wir werden alle die vorgeschriebenen Tanzschritte ausführen. Unser Bestes geben. Und an der Hoffnung festhalten, dass die Gerechtigkeit siegen wird.

Als ich eine DNA-Analyse durchlese, die ich vor sechs Monaten angefordert habe, spüre ich eine Bewegung hinter meinem Rücken. Zwei Männer in dunklen Anzügen betreten Isaacs’ Büro. Beiden haftet die Trostlosigkeit derer an, die kürzlich einen Tod bezeugt haben. Isaacs Tür schließt sich.

Ich schaue zu Nan und Calvin hinüber. Nan erwidert meinen Blick, indem sie eine buschige Augenbraue hochzieht.

Keine fünf Minuten später schwingt die Tür auf, und Isaacs tritt heraus.

»Hier rein, bitte«, sagt er mit leiser, beherrschter Stimme zu uns.

Ich streiche mir das Haar aus der Stirn und falle in Gleichschritt mit Nan und Calvin, Kopf hoch, Schultern gerade, während das Blut durch meine Adern rauscht, zu allem bereit, was als Nächstes auf mich zukommt.