Dienstag, 21. August

20.34 Uhr

Ben erzählt mir vom Pokalturnier seines Fußballvereins zum Saisonende. Sein Gesichtchen füllt mein Handydisplay aus und strahlt vor Aufregung, als er fragt, ob ich komme.

»Ich weiß noch nicht, Schätzchen«, sage ich und lächle angestrengt weiter. »Wann soll das denn sein?«

»Am Sonntag, glaub ich. Dad weiß das.«

»Na, mal sehen. Ich hab gerade ziemlich viel zu tun in der Arbeit.«

»Ja, Dad hat gesagt, dass du das sagen würdest.«

Meine Hand krampft sich ums Handy, aber ich zwinge mich zu einem kurzen Lachen. »Dein Dad weiß Bescheid«, bringe ich heraus.

»Das macht bestimmt so einen Spaß«, fährt Ben fort und holt zu einer ausführlichen Beschreibung aus, was laut einem Schulfreund voriges Jahr bei dem Event passiert ist; beim Reden fuchtelt er mit der Rechten. Mit den neuen bleibenden Zähnen lispelt er etwas, und mir schnürt es die Kehle zu, wenn ich ihn so palavern sehe.

Wir fangen mit unserem Sternengucken an, ich mit etwas belegter Stimme; er ruft voll tiefster Überzeugung, dass er ein Kaninchen am Himmel erkannt hat.

Danach bin ich kribbelig. Ich gehe im Apartment auf und ab und überlege, was ich machen soll. Eigentlich wollte ich mein Beisammensein mit Josh nachholen, doch er hat mich versetzt, zu viel Arbeit, wie er sagt. Mir ist nicht ganz wohl dabei, und ich frage mich, ob unser abgebrochenes Date am Samstag der wahre Grund für seine Zurückhaltung ist. Ich an seiner Stelle würde mich auch nicht mehr mit mir abgeben.

Schließlich rufe ich Dad an. Er erzählt mir von einem Schuppen, den er für seinen Freund zimmert, und von der neuen Bücherei, die in Smithson gebaut wird.

»Es ist so ein schönes Haus, Gemma«, sagt er. »Sehr modern. Wie manche Gebäude, die ich gesehen hab, als wir in Melbourne waren. Würde dir bestimmt gefallen.«

»Hört sich toll an«, antworte ich. Offenbar versteht Dad immer noch nicht, dass mein Aufbruch aus Smithson nichts mit der attraktiven Architektur, sondern nur mit meiner Atemnot und meinem Herzrasen zu tun hatte.

»Kommst du am Sonntag zu Bens Turnierabend?«, wagt er sich vor.

Ich strenge mich sehr an, meiner Stimme den Ärger nicht anmerken zu lassen. »Du weißt, wie schwer die Arbeit es mir macht zurückzufahren, Dad.«

»Natürlich, natürlich«, beeilt er sich zu versichern. »Ich hab nur so gedacht. Rebecca und ich gehen hin, da kann ich also ein paar Fotos für dich machen.«

Ich ärgere mich, dass Rebecca statt meiner da sein und meinem Sohn zusehen wird. »Danke, Dad«, sage ich nach kurzem Zögern.

»Was meinst du, wann du zu Besuch kommen kannst?«, fragt er.

»Ich weiß noch nicht«, antworte ich steif. »Ich hab gedacht, vielleicht könntest du mit Ben in den Ferien wieder herkommen. Wahrscheinlich kriege ich erst sehr viel später im Jahr etwas länger frei.«

»Na gut«, sagt Dad alles andere als begeistert von dem Vorschlag. »Ja, ich lass es mir durch den Kopf gehen. Es wäre gut, einmal richtig Zeit mit dir verbringen zu können, Gemma.«

Wir reden noch etwas weiter, ehe wir auflegen.

Ich schnappe mir meine Zigaretten aus der Schlafzimmerschublade, ziehe die Schiebetür auf und trete auf meinen Minibalkon hinaus. Die eiskalte Luft überfällt meine bloße Haut an Händen und Gesicht, während ich mich auf die umgekehrte Plastikkiste unter dem Badfenster sinken lasse. Als ich mir die Zigarette anzünde, wird mir klar, dass Leugnen zwecklos ist: Ich rauche wieder, denn das ist bestimmt die fünfte Packung Zigaretten, die ich seit meinem Umzug hierher gekauft habe. Eine fünfzehn Jahre alte Angewohnheit, die ich mir zwar nicht leisten kann – weder finanziell noch gesundheitlich –, die mir aber Trost bietet. Mein Dad und Scott würden mich umbringen, wenn sie es wüssten, und wenn ich an Bens Schimpftiraden auf die vielen Raucher denke, als er hier war, wäre er wohl auch nicht allzu angetan. Ich höre in der Nähe ein Husten und beuge mich vor, um ein glühendes Zigarettenende und den schemenhaften Umriss eines Mannes ein paar Stockwerke weiter unten auszumachen. Ich denke an all die einsamen Menschen, die hier in der Gegend auf ihren Balkonen hocken – rauchen, sich den Arsch abfrieren und in die Nacht hinausstarren –, und verspüre kurz eine sonderbare Zuneigung zu meinen Nachbarn in mir hochkommen. Verflogen ist die Einsamkeitspanik, die mich wie im Schraubstock umklammert hielt, als ich in dem Häuschen in Smithson wohnte, verdrängt von einem wachsenden Zugehörigkeitsgefühl zu Hunderten von Fremden.

Ich inhaliere so stark, dass ich fast würgen muss, als der Rauch meine Kehle füllt. Eine Autohupe plärrt unten auf der Straße, und als ich danach schaue, durchzuckt mich jäh Schwindel. Die hauchzarten grauen Wolken, die ich ausgeatmet habe, ziehen mir in die Augen, dass mir die Tränen kommen. Mein Gott, denke ich, ich sollte wirklich nicht rauchen.

In letzter Zeit habe ich zu viel Geld ausgegeben – so als flutschte es wie ein glitschiger Fisch auf mein Konto und wieder runter. Auch wenn ich jetzt etwas mehr verdiene als zuvor, bin ich knapp bei Kasse. Die Miete hier ist teuer. Und Scott hat dieses Jahr wenig verdient – bei der allgemeinen Unsicherheit, ob die Konservenfabrik schließen wird, ist die wirtschaftliche Lage in Smithson mau.

Nach einem letzten Zug drücke ich die Zigarette in dem überfüllten Blumentopf aus. Als ich an Isaacs Strafpredigt heute denke, packt mich wieder der Zorn. Schon klar, weshalb er Fleet und mich für Risikokandidaten hält – verdammt, ich selbst halte uns für ein Risiko –, aber ich kann seine Stirnfalte nicht leiden, und dann war da dieser kurze Moment, als ich allen Ernstes Mitleid in seinem Blick sah. Mitleid bringt mich immer auf die Palme.

Gerade als ich mir noch eine Zigarette anzünde, klingelt das Diensthandy in meiner Jackentasche.

»Hi«, sage ich etwas außer Atem, nachdem ich es herausgefummelt habe.

»Guten Abend«, sagt Fleet. »Störe ich auch nicht?«

Ich bin bemüht, meinen rasenden Puls in den Griff zu bekommen.

»Natürlich nicht.«

»Was machst du gerade?«

»Auf meinem Balkon sitzen und rauchen.«

Fleet bricht in schallendes Gelächter aus, und ich stimme unwillkürlich ein. »Freut mich für dich«, sagt er, noch amüsiert. »Und genau die richtige Reaktion auf eine aufmunternde Rede unserer Oberspaßbremse.«

»Ich bin so wütend«, sage ich.

»Keine Sorge, Woodstock«, antwortet Fleet. »Es sagt mehr über ihn als über uns aus. Er ist im Stress und macht sich Sorgen um seinen Ruf. Hat keinen Zweck, sich in sein Drama reinziehen zu lassen.«

»Ich lass mich nicht reinziehen. Es macht mich nur sauer.« Ich nehme einen kräftigen Zug von der Zigarette.

»Gut«, sagt Fleet. »Ich glaube, wenn’s drauf ankommt, bist du die bessere Detective. Na ja, aber eigentlich ruf ich grade nicht an, um mich nach deinem Befinden zu erkundigen. Hab mir nur gedacht, dass du eine Sache bestimmt gleich wissen willst.«

»Um was geht’s?«

»Das Team, das an Ava James’ Anzeige arbeitet, hat eine andere Anzeige gegen ihn ausgegraben, die vor ein paar Jahren erstattet wurde. Und wieder zurückgezogen.«

»Interessant«, sage ich.

Bei Sexualdelikten, die in Australien zur Anzeige kommen, werden über die Hälfte der Fälle von Wiederholungstätern begangen, daher überrascht das eigentlich nicht.

Dass Anzeigen zurückgezogen werden, kommt auch öfter vor. Häufig erkennen Opfer, besonders Frauen, wie schlecht es um ihre Chancen vor Gericht steht, und halten es für das Klügste, die schlimmen Erinnerungen zu verdrängen und nach vorn zu schauen.

»War die Situation vergleichbar?«, frage ich. »Ging es auch um eine Schauspielerin?«

»Nein«, sagt Fleet, »aber wir kennen die Person. Es war Katya Marsh, die Filmproduzentin.«