Sonntag, 19. August

6.32 Uhr

Beim Aufwachen erscheint mir die vergangene Nacht wie ein Traum, doch der stechende Schmerz in meiner Stirn belehrt mich eines Besseren. Ich ziehe mich rasch an, schleiche mich aus Zacs Wohnung und gehe ans Ende der Smith Street. Das Morgenlicht stupst mich mit neugierigen Fingern an. Ich bleibe an eine Backsteinmauer gelehnt stehen und fürchte, mich übergeben zu müssen, doch das geht vorbei.

Ich halte ein Taxi an und schaffe es zurück in mein Apartment, wo ich mich ins Bett lege, den grauen Himmel hinter meinem Fenster im Blick, während ich mich frage, was Ben wohl gerade macht. Wahrscheinlich guckt er Zeichentrickfilme. Oder liegt mit Scott im Bett. Ich lasse meine Gedanken von Ben und Scott, im Bett zusammengerollt, weiterwandern zu Ben, wie er mit Scott und einer Frau kuschelt, einer Fremden. Mit einem lauten Schrei hieve ich mich hoch. Wenn ich mich solchen Fantasiewelten überlasse, spielen meine Gedanken verrückt, und ich sehe mich im Apartment nach einer Ablenkung um. Mein Spiegelbild verrät mir, wie furchtbar ich aussehe: rissige Lippen, teigige Haut, das Haar ein einziger zerzauster dunkler Wust.

Unter der Dusche hoffe und bete ich, dass sich der Alkohol rasch aus meinem System verflüchtigt, und säubere mich gründlich. So schlimm ich mich auch fühle, pocht doch ein Gedanke im Gleichklang mit den Schmerzen in meinem Kopf. Ich muss zur Wache und mir diese Obduktionsfotos noch mal ansehen.

*

Nachdem ich über eine halbe Stunde im Besprechungsraum auf und ab gegangen bin und meine Theorie hin und her gewälzt habe, bis ich Geräusche hörte, die gar nicht da sein konnten, rufe ich Fleet an.

Er klingt schlaftrunken. »Woodstock? Was ist los?«

Schlagartig geht mir auf, dass es kurz nach halb neun an einem Sonntagmorgen ist.

»Hallo«, stammle ich und komme mir auf einmal sehr töricht vor. Ich räuspere mich. »Ich glaube, ich hab was, womit wir zu Isaacs gehen können.«

Eine Pause kommt auf, in der Fleet das Handy mit einer Hand abdeckt, um mit jemandem zu reden, bestimmt einer jungen Frau, und mir wird das Ganze immer peinlicher.

»Ach, tut mir leid, mir war nicht klar, dass es so früh ist – lass uns später drüber reden, ja?«, schlage ich vor und möchte das Gespräch, dem ich den ganzen Morgen entgegengefiebert habe, nur noch beenden.

»Nein, nein«, sagt er, schon wacher. »Jetzt ist okay. Muss sowieso in die Gänge kommen. Wer will schon sonntags ausschlafen? Ich doch nicht.«

Er hört sich ironisch an wie immer, aber auch glatter als sonst. Ich kann seine Stimmung nicht einordnen, weiß nicht, ob er über meinen Anruf verärgert ist oder nicht.

»Okay, jetzt sitze ich«, sagt er. »Leg los.«

»Na gut.« Ich raffe mich zu einem etwas energischeren Klang auf. »Nach unserer Besprechung gestern war ich hier, hab nur bisschen was erledigt. Ich hab mit Ralph gesprochen, und da ist mir die Anschlagtafel zum Fall Miller aufgefallen. Etwas daran hat sich in meinen Gedanken festgesetzt. Und dann ist mir letzte Nacht klar geworden, dass die Obduktionsfotos mit denen im Fall Wade übereinstimmen. Ich meine, die Wunde sieht genau gleich aus.«

Fleet sagt erst mal gar nichts, und ich werde nicht nur von quälender Ungeduld erfasst, sondern auch von der Befürchtung, mich womöglich lächerlich zu machen.

»Was ist mit den Befunden?«, fragt er schließlich. »Geht aus denen hervor, dass wir es mit ein und demselben Mörder zu tun haben? Was sagt meine Lieblingsgerichtsmedizinerin?«

»Ich hab noch nicht mit Mary-Anne gesprochen«, gebe ich zu. »Ich wollte erst mit dir reden. Aber das ist es ja eben – sie hat Walter Millers Autopsie nicht gemacht. Da war sie weg, weißt du noch?«

Fleet gibt ein undefinierbares Geräusch von sich. Ich höre eine gedämpfte weibliche Stimme, dann erneutes Rauschen im Telefon, ehe Fleet wieder dran ist und ein Gähnen unterdrückt.

»Okay, Woodstock, treffen wir uns. Ich könnte einen Kaffee vertragen. Gib mir, tja, eine halbe Stunde, und dann schlage ich vor, wir machen es wie die jungen Leute und stürzen uns in Unkosten für Eier mit Speck und vielleicht den einen oder anderen Avocadotoast.«

*

Fleet sieht schlimmer aus als ich. Die Haare stehen ihm komplett zu Berge, und das Gesicht wird von dicken Stoppeln verhüllt wie von einem Nebelschleier. Die Augen verstecken sich hinter einer dunklen Brille, werden aber mindestens genauso rot geädert sein wie meine. Wir sitzen draußen, damit er rauchen kann. Ein paar Minuten lang sehe ich einfach nur seinem rhythmischen Wechsel zwischen Nikotininhalieren und Kaffeeschlürfen zu.

»Toller Abend?«, frage ich sarkastisch.

»Na klar«, sagt er, offensichtlich unbeeinträchtigt von seiner mitgenommenen Verfassung. »Und bei dir?«

»Toll ist gar kein Ausdruck.«

Er nickt anerkennend. »Tja, wir jungen Leute brauchen eben nach der Arbeit unser Vergnügen.«

Wir sind umgeben von flotten Gestalten in kuscheligen Wintersportklamotten, die gesunde Smoothies aus recycelten Bechern trinken. Statt Stühlen gibt es Holzkisten, und auf jedem Tisch steht ein Bonsai. Ich nippe versuchsweise an meinem Kaffee: Allein schon vom Geruch wird mir übel.

Ich erzähle ihm von den Unklarheiten im Zusammenhang mit Paul Wades Alibi am Mittwoch.

»Zusammen mit den Kneipenschlägereien in Karadine macht ihn das zu einem Verdächtigen«, sage ich.

Fleet befingert sich seufzend die Stirn. »Meinst du wirklich, Paul hätte es drauf, so eine Aktion zu planen? Der Typ kam mir vor wie jemand, der schon mit den einfachsten Aufgaben im Leben nicht besonders zurechtkommt.«

»Ich weiß, aber warum sonst sollte er uns über seinen Aufenthalt in der Stadt anlügen? Vielleicht war jemand anders der Drahtzieher und er nur ausführendes Organ.«

Fleet reckt beide Arme über den Kopf, kneift die Augen zusammen und nickt dann wieder. »Interessant. Na, wir werden ja sehen, ob der große Wade-Bruder eine einleuchtende Erklärung für seinen Citytrip hat. Und dafür, warum er uns angelogen hat.« Er hustet und räuspert sich. »Du lieber Himmel, geht’s mir beschissen«, murmelt er. »Na gut. Zeig mir diese Fotos, bevor ich mir was zu essen bestelle.«

Ich hole sie aus dem Umschlag, breite sie vor ihm aus und schirme sie mit der Speisekarte vor neugierigen Blicken ab.

»Die hier sind klar die von Wade«, ich zeige auf die von einem dunklen Einschnitt gezeichnete straffe, gebräunte Brust, »und die hier von Miller.« Fleet hält sie nebeneinander. »Die beiden waren fast gleich groß«, ergänze ich und beobachte gespannt sein Gesicht, während er die Fotos prüfend betrachtet. »Es ist also nicht nur so, dass die Wunden gleich aussehen – sondern wir haben auch die räumliche Nähe und den übereinstimmenden Modus Operandi. Der Tunnel, in dem Walter überfallen wurde, liegt keinen Kilometer vom oberen Ende der Spring Street entfernt. Und beides waren unerwartete, völlig grundlose Überfälle. Jedenfalls keine Taten im Affekt.«

Fleet nickt langsam, und ich kann nicht erkennen, ob er mir zustimmt oder mich für bekloppt hält und sich überlegt, wie er mir das am besten mitteilen könnte.

Daher rede ich rasch weiter. »Also da gibt es wirklich eine Menge Übereinstimmungen.«

Fleet hustet wieder, ein fieses gutturales, rauchiges Krächzen. »Tja, abgesehen davon, dass das eine Opfer ein Megapromi war und das andere ein völliger Niemand.«

»Zugegeben, das ist der Ausreißer. Es sei denn, etwas uns Unbekanntes verbindet die beiden.«

»Komm schon, Woodstock, so sehr wir uns auch wünschen würden, dass uns ein kinoreifer Thriller in den Schoß fällt, ist es doch eher unwahrscheinlich.«

Ich verdrehe die Augen. »Mir geht’s nicht ums Drama, ich sag doch nur, dass es eine Verbindung geben könnte.«

Eine zierliche Kellnerin mit frappierend grünen Augen und Schlangentattoos auf beiden Händen stellt sich neben ihn. Rasch sammle ich die Fotos ein und stecke sie in den Umschlag zurück, während er seine Bestellung aufgibt.

»Glaubst du, sie haben sich gekannt?«, fragt er.

»Ich weiß es nicht«, sage ich. »Wahrscheinlich ist es nicht. Aber vielleicht hat der Mörder beide gekannt.«

»Der Mord an dem Obdachlosen könnte eine völlig willkürliche Tat sein. Ich hab mich natürlich seit der ersten Nacht nicht mehr damit befasst, aber damals schien mir alles in diese Richtung zu deuten. Einfach irgendein verrückter Gelegenheitskiller, der sich ausgetobt hat, oder ein Fall für die Klapse. Oder vielleicht jemand, der ein Problem mit Obdachlosen hatte und dachte, er würde der Gesellschaft einen Dienst erweisen. Aber Wades Ermordung kann keine Zufallstat sein.«

»Ich weiß«, sage ich und versuche, die Möglichkeiten im Kopf durchzuspielen.

»Aber ich glaube, dass du mit den Wunden recht hast«, sagt Fleet und schielt wieder in Richtung Fotos. »Sie sehen eindeutig ähnlich aus, und die beiden Angriffe liegen – wie war das noch mal? – keine zwei Tage auseinander. Wie konnte uns das entgehen?«

»Zum einen zwei verschiedene Gerichtsmediziner. Und dann muss Sterlings Tod einfach alles andere überschattet haben. Ich meine, du hast schon recht, vom Täterprofil her gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang.«

»War wohl einfach Glück, dass du in Ralphs Besprechungsraum rumgeschnüffelt hast.« Fleet grinst.

»Ich hab nicht rumgeschnüffelt«, verteidige ich mich, aber das Geplänkel zwischen uns fühlt sich gut an. »Jedenfalls, stell dir mal vor, wenn es da wirklich einen Zusammenhang gibt!«

»Anderes Thema«, erklärt Fleet, als sein Frühstück kommt: ein dampfender Berg Eier mit Speck auf einem viereckigen Holzbrett. »Möchtest du was abhaben?«, fragt er, während er großzügig einen wahren Salzschneesturm drüberschüttet.

»Nein, danke.«

Es geht mir jetzt schlechter als beim Aufwachen, aber ich bin dankbar, dass Fleet mich ernst nimmt.

»Warum rufst du nicht Isaacs an, während ich esse?« Er spießt ein Stück Schinkenspeck mit der Gabel auf und wedelt damit in meine Richtung. »Los, gehen wir in die Vollen mit deiner Theorie.«